Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung Geflüchteter: Ein Praxisleitfaden
Von Markus Stingl, Bernd Hanewald, Maria Bethke und
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Rezensionen für Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung Geflüchteter
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Buchvorschau
Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung Geflüchteter - Markus Stingl
1 Herausforderungen in der Behandlung Geflüchteter
Die Behandlung geflüchteter Menschen erfordert den Blick über den Tellerrand: Soziale, politische, gesetzliche und ökonomische Faktoren beeinflussen wechselseitig die psychische Gesundheit geflüchteter Menschen und bestimmen das psychotherapeutische Arbeiten wesentlich mit. Die Begegnungen der Betroffenen mit ihren Behandlern werfen zudem (inter-)kulturelle Fragen auf – um zu verstehen und verstanden zu werden, gilt es, einige Hindernisse zu überwinden.
Die adäquate Behandlung von Geflüchteten stellt für psychiatrische Akutkliniken eine große Herausforderung dar. Häufig wird aufgrund struktureller Restriktionen (z. B. auf das Nötigste begrenzter Behandlungsdauern, Sprachbarrieren, transkultureller Schwierigkeiten) bei mangelnder Stabilisierung ausschließlich psychopharmakologisch interveniert. Daraus können sich häufige Wiederaufnahmen in die entsprechenden Kliniken ergeben, fortlaufende Chronifizierung psychischer Erkrankungen oder gar Ablehnungen der Behandlung von Geflüchteten mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer Betreuung in einem »spezialisierten Zentrum«. Tatsächlich beinhaltet die Behandlung von Geflüchteten eine Reihe von Besonderheiten, die eine Anpassung des Settings erfordern.
Traumafolgestörungen, unter denen geflüchtete Menschen häufig leiden, können von unmittelbaren Kriegserlebnissen, extremer Gewalt wie Folter, geschlechtsspezifischer Gewalt sowie Fluchterfahrungen herrühren, denen die Betroffenen als Zivilisten ausgesetzt waren oder an denen sie selbst als Militärangehörige beteiligt waren. Letzteres erfordert in der Therapie die Auseinandersetzung sowohl mit der Opfer- als auch der Täterrolle. Unabgeschlossene Asylverfahren und die daraus resultierende Destabilisierung der Betroffenen, schwierige Wohnverhältnisse, Einsamkeit, Hilflosigkeit, das Fehlen einer erfüllenden und sinnvollen täglichen Aktivität, Trauer, der Verlust sozialer Strukturen und der Familie sowie Schuldgefühle können weitere Problembereiche geflüchteter Patientinnen und Patienten darstellen. Zusätzlich erschweren fehlende/mangelhafte asylrechtliche Basiskenntnisse oder die Negierung des Einflusses juristischer Rahmenbedingungen auf die psychische Gesundheit der geflüchteten Menschen die stationäre Behandlung weiter. Sprachschwierigkeiten sowie Probleme und Unsicherheiten im Umgang mit Dolmetschern stellen große Anforderungen an das Behandlungsteam, ebenso wie Fragen zur Kostenübernahme für die stationäre Behandlung. Während kulturelle Aspekte in der Behandlung Geflüchteter nicht übersehen werden sollten, kann eine zu starke Gewichtung der vermuteten »Kultur« einseitige Stereotype produzieren und einen empathischen, individuellen Behandlungsansatz gefährden.
An der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg (UKGM) konnte am Standort Gießen in den vergangenen Jahren sukzessive ein stationäres Behandlungskonzept für Geflüchtete mit Traumafolgestörungen weiterentwickelt und in den klinischen Alltag integriert werden. In der kritischen Auseinandersetzung mit den besonderen Anforderungen gelang es, Lösungsansätze zu erarbeiten, welche die Unsicherheiten und Widerstände in der Behandlung Geflüchteter deutlich reduzierten. Die Erfolge des »gewachsenen« Konzeptes zeigen sich in einer größeren Behandlungszufriedenheit seitens der Betroffenen wie auch der Behandler und in einer deutlich besseren Behandlungseffizienz.
Nach unserer Erfahrung können bei vorhandener basaler traumatherapeutischer Kompetenz die genannten Besonderheiten im stationären Setting effektiv adressiert werden. Dieses Buch ist als eine praxisorientierte Antwort auf die Herausforderungen in der Behandlung Geflüchteter zu verstehen und als ein Ratgeber zur strukturierten Therapie von Geflüchteten im stationären Setting psychiatrischer Akutkliniken. Wir möchten dazu ermutigen, dass die stationäre psychiatrische Behandlung Geflüchteter als integrative und vernetzte Behandlungsform in einem psychiatrischen Krankenhaus mit einem allgemeinen Versorgungsauftrag gut gelingen kann – sie sollte kein Alleinstellungsmerkmal weniger, besonders spezialisierter Zentren bleiben.
2 Kontext
Die Erkenntnis, dass physische, psychische und soziale Faktoren in Wechselwirkungen die Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten begründen, entstammt der frühen Stressforschung (»Adaptationssyndrom« nach Selye, 1936) und wurde Jahrzehnte später im »biopsychosozialen Krankheitsmodell« erstmalig integriert (Engel, 1976). Seither haben neben individuellen Risikofaktoren auch externe Bedingungen immer mehr an Bedeutung bei der Erforschung der Ätiopathogenese und den Verläufen von Krankheiten gewonnen. Auch bei den Traumafolgestörungen, welche als einzige Gruppe psychischer Störungen die äußere Einwirkung eines Ereignisses voraussetzen, spielen solche kontextuellen Wechselwirkungen eine wesentliche Rolle. Da diese auch auf die stationäre Behandlung Geflüchteter wirken, müssen die spezifischen Kontextfaktoren im Behandlungskonzept entsprechend berücksichtigt werden.
Die Rahmenbedingungen werden zunächst von politischen Prozessen bestimmt – kein anderes Thema nimmt wie die Flüchtlingspolitik in der aktuellen öffentlichen Diskussion so viel Raum ein und polarisiert die Gesellschaft zunehmend zwischen »Willkommens- und Abschiebekultur«. Unmittelbar werden hier grundlegende ethische Aspekte berührt: In Deutschland ist der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit ein Grundrecht, welches für alle Menschen gilt und eng mit der Menschenwürde verknüpft ist (Art. 2, Abs. 2 Grundgesetz). Während das Engagement in der Flüchtlingshilfe und der medizinischen Versorgung Geflüchteter so als Konsequenz verantwortungsvollen Handelns gemäß den Menschenrechten zu verstehen ist, sieht man sich andererseits in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Begriffen wie »Gutmenschentum« konfrontiert oder als Angehörige der »Bleibeindustrie« tituliert. Auch die stationäre Krankenhausbehandlung geflüchteter Menschen bewegt sich in diesem Spannungsfeld und ist daher immer als Teil des politischen Raumes zu verstehen, in dem sich die angedeuteten Polaritäten auf unterschiedliche Weise zeigen.
Ein zentrales Problem in der Behandlung Geflüchteter resultiert aus dem oftmals noch ungeklärten und damit unsicheren Aufenthaltsstatus. So können geflüchtete Patienten mit laufenden Asylverfahren nicht sicher sein, ob und wie sich ihre Lebensumstände in der Zukunft entwickeln werden, beispielsweise in Zusammenhang mit einer Abschiebung in einen sicheren Drittstaat nach der Dublin-IIIVerordnung oder gar in das Herkunftsland. Existenzielle Ängste vor Abschiebung erschweren die psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung erheblich und können zu Resignation und Hoffnungslosigkeit bis hin zu akuter Suizidalität führen. Therapeutische Ansätze, die die rechtliche Situation in der Behandlung von Geflüchteten ignorieren, übersehen möglicherweise das grundlegende Bedürfnis nach Sicherheit der Geflüchteten, sodass hier eine entsprechende Erweiterung notwendig ist. Ein nicht gesicherter Aufenthaltsstatus und die damit verbundene Rechtspraxis wirken unmittelbar auf den Gesundheitszustand der Patientinnen und können bestehende Traumafolgestörungen zusätzlich verschlechtern. Eine solche Unklarheit oder das Fehlen einer Bleibeperspektive schränken die therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten massiv ein – Ängste vor einer drohenden Abschiebung und konsekutiver sequenzieller Traumatisierung lassen es an der notwendigen äußeren Sicherheit fehlen, um die innere Sicherheit wiederherstellen zu können. Letztere ist eines der vornehmlichsten Ziele der Traumatherapie. Der rechtliche Kontext bedeutet in der Behandlung Geflüchteter somit mehr als nur die Vorgabe der äußeren Rahmenbedingungen, er beeinflusst direkt die medizinischen Kategorien »Krankheit und Gesundheit«. Besserungen des Gesundheitszustandes von Geflüchteten im Rahmen stationärer Behandlungen sind daher oft temporär und fragil, weil hinzutretende negative Verläufe im Asylverfahren die erarbeiteten Verbesserungen beinträchtigen oder zunichtemachen können. In diesem Sinne können selbst Briefe von Behörden oder angekündigte Besuche des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen krisenhafte Zuspitzungen der Symptomatik bewirken. Auch das Erscheinen der Polizei in der Klinik, das unabhängig von dem Betroffenen erfolgt, kann zu erheblicher Verunsicherung und (ungerechtfertigter) Angst vor einer Festnahme oder Abschiebung führen und sollte bereits im Vorfeld mit den Betroffenen zur Prävention bzw. Deeskalation (wann immer möglich) kommuniziert und kontextualisiert werden. Die Bedeutung von äußerer Sicherheit, sozialer und medizinischer Unterstützung und Anerkennung der durchlebten Traumata muss für die Prognose traumatisierter Flüchtlinge nachdrücklich betont werden. Schlimmstenfalls droht eine fatale Dynamik zwischen individuellem Leid, verkomplizierender Rechtslage und -praxis, therapeutischer Hilf- und Ratlosigkeit und weiterer Dekompensation. An dieser Stelle ist allerdings auch festzuhalten, dass die Auswirkungen rechtlicher Gegebenheiten auf die Gesundheit und Formen sogenannter struktureller Gewalt sich nicht über anonyme, sich in kafkaeskem Sinne autonom entfaltende Mächte zeigen. Unserer Erfahrung nach bestehen innerhalb rechtlicher Vorgaben, Gesetze und Strukturen vielmehr oftmals Ermessens- und Handlungsspielräume, die von den jeweiligen Akteuren wie auch den Behandlerinnen im Sinne der Gesundheit der Betroffenen genutzt werden können.
Entgegen den Wirksamkeitsnachweisen einiger, insbesondere traumakonfrontativer psychotherapeutischer Methoden bei Geflüchteten sehen wir aus unserer praktischen Erfahrung die mittel- bis langfristigen Erfolgsaussichten solcher Verfahren eher kritisch, solange eine basale äußere Sicherheit als Grundvoraussetzung (noch) nicht gegeben ist. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nicht als die zutreffende Diagnose, da keine wirkliche »post«-traumatische Situation gegeben ist, solange Realängste vor Rückführung an die Orte der traumatischen Erfahrung(en) bestehen – vielfach ist eine stationäre psychiatrische Behandlung nur eine Unterbrechung der fortbestehenden äußeren, krankheitsverstärkenden Belastungsfaktoren. Weitere Faktoren wie belastende, prekäre Lebensverhältnisse, der Verlust der bisherigen sozialen Identität und/oder der Familie können kumulativ die Behandlung von Geflüchteten und Asylsuchenden erschweren. Häufig wurde die Flucht trotz schlechter wirtschaftlicher Ausgangssituation von Familienangehörigen finanziert, verbunden mit der Erwartung, dass der Geflüchtete die Zurückgebliebenen finanziell unterstützt oder eine Familienzusammenführung in der Zukunft anstrebt. Sofern diese Erwartungen nicht erfüllt werden können, z. B. gegenüber Kindern unter Ehepartnern, die in prekären Lebenssituationen verblieben sind, können große Schuldgefühle entstehen. Die genannten Faktoren sind als akut wirksame Stressoren zu verstehen und erschweren die psychotherapeutische Behandlung zusätzlich, verschlechtern bestehende psychische Probleme oder begünstigen die Entwicklung von weiteren und müssen – auch mithilfe des Sozialdienstes der Klinik und der Versorgungsnetzwerke vor Ort – im Rahmen einer multimodalen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung aufgegriffen werden.
3 Psychische Gesundheit Geflüchteter
3.1 Traumafolgestörungen
Geflüchtete und Asylsuchende stellen besonders vulnerable Gruppen mit erhöhtem Risiko für die Entwicklung psychischer Krankheiten dar. Internationalen Studien zufolge leiden 30 bis 70 % der Geflüchteten unter Traumafolgestörungen (Stingl et al., 2017; Hollifield et al., 2013;