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Selbstentwicklung für Lehrkräfte: Das Praxishandbuch
Selbstentwicklung für Lehrkräfte: Das Praxishandbuch
Selbstentwicklung für Lehrkräfte: Das Praxishandbuch
eBook489 Seiten5 Stunden

Selbstentwicklung für Lehrkräfte: Das Praxishandbuch

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Über dieses E-Book

Ob bereits in der Schule tätig oder gerade in der Aus- und Weiterbildung: Gehören Sie auch zu denjenigen, die sich fragen: Wie werde ich zu einer erfolgreichen und zufriedenen Lehrkraft? Professionalisierung und Selbstcoaching sind der Schlüssel, um beruflich zu wachsen und selbstreflexiv den eigenen Entwicklungsprozess zu fördern.
Wie Lehrkräfte im Schulalltag die Wirksamkeit ihres professionellen Handelns eigenständig weiterentwickeln und sich darüber hinaus bei Bedarf selbst coachen, zeigt Jonas Schwarzlose anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse und vieler Praxisbeispiele. In Kombination mit zahlreichen Übungen aus der systemischen Beratung erhalten Lehrerinnen und Lehrer anschauliche Impulse für das eigene Selbstcoaching. Es gibt Antworten auf Fragen wie: Welche Stolpersteine und Fallstricke, aber auch Ressourcen und Potenziale stecken in meiner persönlichen (Lehrer-)Biografie? Wie kann ich meine Konfliktfähigkeit gegenüber Schülerschaft und Eltern, Kollegium und Schulleitung verbessern? Wie komme ich in eine optimale Steuerposition, die mich kompetent und gesund den Schulalltag nachhaltig meistern lässt? Unterhaltsam und wissenschaftlich fundiert regt die Lektüre zu einem lustvollen Selbstentwicklungsprozess im Lehrberuf an.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Okt. 2023
ISBN9783647993225
Selbstentwicklung für Lehrkräfte: Das Praxishandbuch
Autor

Jonas Schwarzlose

Jonas Schwarzlose ist Lehrer, Schulmanagement M.A., Systemischer Berater (DGSF), Systemischer Pädagoge (DGsP), Supervisor und war langjähriger Pädagogischer Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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    Buchvorschau

    Selbstentwicklung für Lehrkräfte - Jonas Schwarzlose

    KAPITEL 1

    Der systemisch-konstruktivistische Blick – die Potenziale der Wahrgebung für Schule und Unterricht

    Für ihr Experiment hatten sie zwei Gruppen von betagten Männern zwanzig Jahre in der Zeit zurückversetzt. Dazu war ein ehemaliges Kloster von Ellen Langer und ihrem Team mit Alltagsgegenständen aus den 1950er Jahren ausgestattet worden (Langer, 2010). Im Vorlauf hatten die Probanden der Experimentalgruppe gegenseitig Bilder von ihren zwanzig Jahre jüngeren Ichs zugeschickt bekommen und waren dazu ermutigt worden, während des Experiments im Präsens zu sprechen. Und so lebten sie gemeinsam wieder eine Woche im Jahr 1959. Im Radio lauschten sie Nat »King« Cole oder verfolgten gespannt Pferderennen, sie lasen Tageszeitungen oder das Life-Magazin von damals und schauten gemeinsam die neuesten Filme wie »Manche mögen’s heiß«. In Diskussionsrunden tauschten sie sich über vermeintlich aktuelle politische Ereignisse aus, wie das Vorrücken Fidel Castros auf Havanna, oder sie debattierten über jüngst erschienene Bücher, etwa Ian Flemings »Goldfinger«. Später berichtete die Versuchsleiterin, dass sie mit den Achtzigjährigen Flag-Football spielte und manche dafür ihre Gehhilfen zur Seite gelegt hatten.

    Als die Probanden nach einer Woche erneut medizinischen und psychologischen Tests unterzogen wurden, stellte sich heraus, dass sich, verglichen mit der Kontrollgruppe, nicht nur der geistige Zustand etwa in Form der Gedächtnisleistung deutlich stärker verbessert hatte. Die Probanden hatten an Gewicht zugelegt, waren gelenkiger, wiesen eine bessere Griffkraft auf, hörten besser und ihre Fingerlänge hatte zugenommen, weil die Arthritis zurückgegangen war. In einem Interview weist Langer darauf hin, dass der Kontext und die eingenommene Perspektive dabei eine maßgebliche Rolle spielten: »Men who changed their perspective changed their bodies« (Feinberg, 2010, S. 45). Das Experiment veranschaulicht eindrucksvoll, welche erheblichen Auswirkungen der Kontext und unsere Aufmerksamkeitsfokussierung auf uns haben können. Im Folgenden wird es darum gehen, diese Erkenntnisse theoretisch zu vertiefen und für die Schule nutzbar zu machen.

    Grundlage dafür ist der systemisch-konstruktivistische Blick, der sich aus zwei eng miteinander verbundenen Theoriegebäuden zusammensetzt, der Systemtheorie und dem Konstruktivismus (Baecker, 2005; Pörksen, 2011; Lindemann, 2019). Beide Gebäude sind aus Bausteinen unterschiedlicher Disziplinen der Natur- und Geisteswissenschaften errichtet worden. Das ermöglicht einerseits eine starke Erklärungskraft, führt aber andererseits zu einem kaum greifbaren Schatz an Modellen, Experimenten und Begriffen. Im vorliegenden Kapitel soll sich deshalb auf eine Auswahl grundsätzlicher Überlegungen und Merkmale des systemischen Denkens fokussiert werden.

    SCHLÜSSELFRAGEN FÜR DIESES KAPITEL

    –Mit welchen Prinzipien lassen sich soziale Systeme wie eine Lerngruppe oder Schule gewinnbringend analysieren?

    –Wie kann ich meine Wahrnehmung sowie meine Denk- und Handlungsmöglichkeiten dahingehend erweitern, dass ich in Schule und Unterricht noch professioneller agieren kann?

    –In welcher Form halten mich Lehrerüberzeugungen womöglich davon ab?

    –Und wie kann ich sogar für hartnäckige Störungen Deutungsmöglichkeiten entwickeln, die mich wirksam werden lassen?

    Warum Schüler keine Toaster sind

    Bereits die einzelne Schülerin ist offenkundig ein hochkomplexes System und unterscheidet sich in ihrer Beschaffenheit von technischen Systemen wie einem Toaster. Der Physiker und Philosoph Heinz von Foerster unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen trivialen und nicht trivialen Maschinen (von Foerster, 1988). Triviale Maschinen sind Automaten, Computer oder andere technische Maschinen, bei denen ein Input durch eine Operation zu einem Output führt. Wenn ich eine Brotscheibe in den Toaster lege und den Hebel betätige (Input), erhitzt der Toaster die Brotscheibe für die eingestellte Zeit (Operation) und wirft am Ende die getoastete Scheibe aus (Output). Bei nicht trivialen Maschinen, wie dem Menschen, ist das Wirkungsgefüge deutlich vertrackter. Denn der Mensch zeichnet sich durch einen unfassbar komplexen Eigenzustand aus. Dieser ist etwa durch Erfahrungen, Emotionen, Erkenntnisse oder äußere Geschehnisse permanent in Bewegung. Und daraus resultiert, dass der Mensch im Gegensatz zu trivialen Maschinen vergangenheitsabhängig, analytisch unbestimmbar und nicht voraussagbar ist (von Foerster, 1988).

    Wenn ich etwa einer fremden Person im Park einen Ball zuwerfe (Input), lässt sich nicht voraussagen, was diese Person tut. Vielleicht freut sie sich und fängt an mitzuspielen, vielleicht läuft sie achtlos weiter, möglicherweise zückt sie aber auch wütend ein Messer und zersticht den Ball. Die inneren Operationen sind kaum nachvollziehbar, die potenziellen Möglichkeiten des Verhaltensoutputs unendlich und unvorhersagbar. Aus diesem Grund ist es nach Auffassung der systemischen Pädagogen auch nicht möglich, Schülerinnen in ihrem Lernprozess zu einem klaren Ziel zu steuern. Geschweige denn eine gesamte Lerngruppe. Und dennoch neigen Schulsystem und viele Lehrkräfte dazu, Schüler zu trivialisieren, und versuchen, durch einen Input den gewünschten Lernoutput zu erlangen, was nach Heinz von Foerster zweifelhafte Folgen mit sich bringt:

    »Der Schüler kommt zur Schule als eine unvorhersagbare ›nicht-triviale Maschine‹. Wir wissen nicht, welche Antwort er auf eine Frage geben wird. Will er jedoch in diesem System Erfolg haben, dann müssen die Antworten, die er auf diese Fragen gibt, bekannt sein. Diese Antworten sind dann die ›richtigen‹ Antworten. […] Tests sind Instrumente, um ein Maß der Trivialisierung festzulegen. Ein hervorragendes Testergebnis verweist auf vollkommene Trivialisierung: der Schüler ist vollkommen vorhersagbar und darf daher in die Gesellschaft entlassen werden. Er wird weder irgendwelche Überraschungen noch irgendwelche Schwierigkeiten bereiten« (von Foerster, 1993, S. 208).

    Um aber der Komplexität von Schüler*innen gerecht zu werden und diese zu echten Lern- und Entwicklungsprozessen zu führen, wäre es seiner Meinung nach erstrebenswert, wenn Lehrer zu Forschern würden (von Foerster u. Pörksen, 2019). Damit meint er, dass sich Lehrkräfte über das Ausmaß ihres Nichtwissens bewusst werden und mit der Einsicht – ich weiß, dass ich nichts weiß – auf einen Prozess des kooperierenden Suchens und Forschens mit ihren Schülern einlassen.

    Bekanntlich hat auch die empirische Unterrichtsforschung Erkenntnisse getroffen, die sich mit diesen Gedanken in Einklang bringen lassen, und sogenannte Angebots-Nutzungs-Modelle entwickelt (Helmke, 2012). Diese verdeutlichen, wie vielschichtig die Einflussgrößen auf den möglichen Lernprozess einer Schülerin sind. Dazu gehören neben dem Unterrichtsangebot der Lehrkraft Faktoren wie etwa die Familie (Schicht, Erziehungsstile, Sprache etc.) oder Kontextfaktoren (z. B. kulturelle Rahmenbedingungen, Klassenzusammensetzung, Schulklima). Für den Lernertrag einer Schülerin sind aber insbesondere viele innere Faktoren verantwortlich, die in solchen Modellen unter dem Begriff »Lernpotenzial« verortet werden. Dabei handelt es sich unter anderem um Aspekte wie Lernmotivation, Ausdauer, Anstrengungsbereitschaft oder Selbstvertrauen. Diese beschreiben letztlich den Eigenzustand von Schüler*innen in Lernkontexten. Wenn man sich bewusst macht, dass Schüler nicht triviale Maschinen sind, kann das den eigenen Erwartungsdruck dämpfen und verdeutlichen, wie illusorisch eine gezielte Steuerung von außen zu sein scheint. Allerdings resultiert daraus kein Freifahrtschein für schlechten Unterricht. Ganz im Gegenteil könnte man argumentieren, dass mit dem erweiterten Blick auf die Einflussgrößen von Unterricht die Gestaltungsmöglichkeiten für ein qualitativ hochwertiges Unterrichtsangebot steigen. Wie dieses Angebot angenommen wird, können Lehrpersonen aber eben nicht selbst kontrollieren.

    Neben dem Gedanken der nicht trivialen Maschinen weicht die systemische Überlegung auch dahingehend vom dominanten Weltbild ab, dass Wirkungszusammenhänge zirkulär und nicht linear sind. Eine lineare Kausalität besteht dann, wenn A zu B führt. Dabei hängen lineare Erklärungsmodelle eng mit der Aufklärung und der revolutionierenden Wirkung der Naturwissenschaften zusammen. Danach bestimmt nicht Gott die Geschicke der Welt, sondern naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten, die nachgewiesen und reproduziert werden können. Doch nicht nur abstrakte Naturgesetze, sondern auch die meisten technisch-ökonomischen Produktionsprozesse basieren auf scheinbar linearen Abläufen. In einer Smartphonefabrik werden Zehntausende einzelne Bauteile in einem genauestens abgestimmten linearen Prozess zu einem Minicomputer montiert. A führt zu B führt zu C führt zu D usw. Wir profitieren also in unserem Alltag in ungeheurem Maße von linearen Kausalitäten, was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, dass wir dieses Denken so stark verinnerlicht haben und kaum hinterfragen. Lineare Wirkungsgefüge haben also eine große Erklärungskraft, vor allem für technisch-naturwissenschaftliche Phänomene.

    Insbesondere in sozialen Kontexten ist es aber oft zieldienlicher, eine zirkuläre, kreisförmige Sicht auf Dynamiken zu haben, was an einem einfachen Beispiel verdeutlicht werden kann. Angenommen, der Neuntklässler Tim gerät im Unterricht immer wieder mit seinem Englischlehrer, Herrn Hart, aneinander. Eine lineare Sichtweise auf diese Beziehungsdynamik könnte wie folgt aussehen (Abbildung 2):

    Abbildung 2: Beispiel für eine lineare Sicht auf Verhaltensdynamiken

    Bei einer solch linearen Sichtweise wird ein klarer kausaler Zusammenhang zwischen Tims frechen Bemerkungen (Ursache) und Herrn Harts sanktionierenden Reaktionen (Wirkung) konstruiert. Eine solche Sichtweise hat vermeintlich viele Vorteile. Die Analyse ist sehr klar und ohne Widersprüche, sie kann schnell getroffen werden und es lässt sich eindeutig ein Schuldiger ausmachen, dessen Verhalten verändert werden muss. Fraglich ist allerdings, ob diese Diagnose zu einer nachhaltigen Lösung führt und ein wirksamer Impuls für Tim gesetzt wird, sodass dieser in Zukunft gern und konstruktiv im Unterricht mitarbeitet und seine Lernmöglichkeiten voll ausschöpft. Aber auch für Herrn Hart dürfte diese Dynamik auf Dauer sein Wohlbefinden in dieser Klasse negativ beeinträchtigen. Sollte er sogar in mehrere Interaktionen dieser Art verstrickt sein, könnte das auf lange Sicht zu einem chronischen Stresserleben und entsprechenden gesundheitlichen Folgen führen. Ein systemisch-zirkulärer Blick auf das Beziehungsgefüge wird der sozialen Komplexität daher schon eher gerecht. Und durch ein sogenanntes Teufelskreismodell (Thomann u. Schulz von Thun, 2017) lässt sich die Beziehungsdynamik zwischen Tim und Herrn Hart differenzierter analysieren. Dabei wird das Potenzial zirkulärer Sichtweisen deutlich (siehe Abbildung 3).

    Durch das Vergrößern der Komplexität, indem die möglichen inneren Prozesse von beiden Akteuren hinzugezogen werden, gewinnt die Analyse der Beziehungsdynamik an Tiefe. Es ist nun kaum noch möglich, einen »Schuldigen« in dieser Interaktion auszumachen. Eher neigt man dazu, sich von einer Scheinklarheit zu verabschieden, denn man vermag Tims Gesichtsverlust noch besser nachzuvollziehen, wenn er angeherrscht und des Raumes verwiesen wird. Genauso nachvollziehbar werden aber die Befürchtungen von Herrn Hart. Ein weiterer Nutzen einer solchen Blickweise ist die Verlangsamung, die stattfindet, weil es kaum noch möglich ist, zu einer Art Diagnose zu springen. Der wesentliche Vorteil besteht schließlich auch darin, dass sich durch die Hinzunahme der möglichen inneren Prozesse Ansatzpunkte für Interventionen entwickeln lassen.

    Abbildung 3: Zirkulärer Teufelskreis zwischen Schüler Tim und seinem Lehrer Herrn Hart

    Heinz von Foerster spricht sich aus den genannten Gründen auch für die Expansion von Komplexität aus und stellt einen ethischen Imperativ auf: »Handle stets so, daß du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!« (von Foerster, 1988, S. 33). Wie wir im Weiteren sehen werden, handelt es sich um einen erprobenswerten Grundsatz für den Schulkontext.

    Komplexitätssteigerung: das soziale System Schulklasse

    Die bisherigen Überlegungen machen deutlich, dass schon ein einzelner Schüler und die Interaktion mit ihm hochkomplex und nur bedingt steuerbar sind. Umso vielschichtiger ist folglich ein soziales System, das oft aus über zwanzig Schülerinnen besteht. Deshalb werden wir uns auf unserem geistigen Spaziergang durch das systemische Denken nun etwas ausführlicher mit dem System Schulklasse befassen.

    Für eine weitere Annäherung ist es zunächst hilfreich, sich mit einer zentralen systemischen Unterscheidungskategorie auseinanderzusetzen, der System-Umwelt-Differenz. Systeme entstehen danach in Abgrenzung zu ihrer Umwelt. Nach dem berühmten Soziologen Niklas Luhmann gibt es drei Arten sozialer Systeme, die sich in ihrer Komplexität und ihrem Grad an Ausdifferenzierung voneinander unterscheiden: Interaktionssysteme, Organisationen und die Gesellschaft (Luhmann, 1984). In der modernen Gesellschaft haben sich soziale Teilsysteme herausgebildet, die wesentliche gesamtgesellschaftliche Funktionen übernehmen. So sorgt das Wirtschaftssystem etwa dafür, die Versorgung mit Gütern zu sichern, oder das Rechtssystem bewerkstelligt die rechtskonforme Bearbeitbarkeit von Konflikten.

    Nach einer weithin anerkannten Theorie hat die Schule, als Teil des Bildungssystems, vier gesellschaftliche Grundfunktionen zu erfüllen (Fend, 2006). Durch die Weitergabe von Symbolsystemen wie etwa Sprache oder Kunst sollen Schüler*innen eine kulturelle Identität entwickeln, die sie in einer Kultur beheimatet und daran teilhaben lässt. Zweitens qualifiziert die Schule Jugendliche durch die Vermittlung von Fertigkeiten und Kenntnissen, welche sie in die Lage versetzen sollen, eine Arbeit ausführen zu können. Gleichzeitig soll sie aber durch Prüfungen dafür sorgen, dass Schüler*innen beruflichen Laufbahnen zugeteilt werden, die ihren Fähigkeiten am besten entsprechen. Und schließlich ist es eine Funktion der Schule, den Kindern und Jugendlichen Normen und Werte zu vermitteln, welche die demokratische Herrschaftsordnung etwa durch gesellschaftlichen Zusammenhalt und politische Teilhabe stärken.

    Die Auseinandersetzung mit der wichtigen Frage, inwiefern diese Funktionen in der Praxis für alle Schülergruppen in gleichem Maße erfüllt werden oder etwa soziale Ungleichheit reproduziert wird, kann hier nicht angemessen behandelt werden, weshalb ich sie leider ausklammern muss. Allerdings werde ich mich im zweiten Kapitel vertiefend damit befassen, wie man mit unauflösbaren Spannungsfeldern umgehen kann, die auch aus den gesellschaftlichen Grundfunktionen der Schule erwachsen.

    Mit einem Blick auf eine Kleinstadt kann man sich die Funktion der gesellschaftlichen Teilsysteme noch besser verdeutlichen. Die Bäckerei und der Drogeriemarkt sind dem Wirtschaftssystem zuzurechnen, die Kirche und die Moschee dem Religionssystem, das Stadtparlament und das Rathaus dem politischen System und die Schule dem Bildungssystem. Als Organisation besteht die Schule nun aber wieder aus ganz unterschiedlichen Subsystemen wie etwa dem Lehrerkollegium, dem Schulmensa-Team, der Gruppe von Psychologen und Pädagoginnen, Hausmeistern und vor allem aus den Lerngruppen. Gemeinsam haben die Einzelsysteme, dass sie alle Mitglieder der Organisationsform Schule sind. Gleichzeitig unterscheiden sich die Einzelsysteme stark voneinander, was offensichtlich beim Vergleich von Hausmeistern und Schülerinnen ist. Selbst Parallelklassen haben bei allen Gemeinsamkeiten deutliche Unterschiede. Denn bei genauerem Hinsehen weisen sie einzigartige Muster und Strukturen auf, die sie selbst erschaffen haben.

    Das führt zum nächsten zentralen Begriff des systemischen Denkens, der sogenannten Autopoiesis. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie Selbsterschaffung oder Selbsterhaltung. Lebende autopoietische Systeme zeichnen sich nach den beiden chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela (1987) dadurch aus, dass sie ihre Elemente nicht nur in einer bestimmten Struktur ordnen, sondern auch selbst die Elemente reproduzieren, die sie für den Fortbestand des lebenden Systems benötigen. Das kann an einer Zelle deutlich gemacht werden. Denn eine Zelle ist ein Netzwerk chemischer Reaktionen, die Moleküle erzeugen, welche durch ihre Interaktionen wiederum genau das Netzwerk an Reaktionen erzeugen, welches sie selbst erzeugt hat und das die Zelle als materielle Einheit verwirklicht (Maturana, 1982). Das klingt etwas kompliziert, ist bei genauerem Hinsehen aber einfach nachzuvollziehen. Denn die Zellmembran bildet die äußere Hülle zu ihrer Umwelt und innerhalb der Zelle laufen die Prozesse der Zellbestandteile nach einer einzigartigen Logik ab. Diese ermöglicht einerseits die Funktion der Zelle, sorgt aber gleichzeitig auch für ihre Reproduktion.

    Weil lebende Systeme nach einem bestimmten Muster oder einer Struktur funktionieren, sprechen Systemikerinnen auch von der Strukturdeterminiertheit lebender Systeme. Bei der Betrachtung verschiedener Systeme in unserer Welt gelangt man oft zu bemerkenswerten Parallelen hinsichtlich des strukturellen Aufbaus, mit dem offensichtlich ein besonders hoher Nutzen verbunden ist. Etwa wenn man die bildlichen Darstellungen einer Lunge mit jener eines Brokkolis oder dem Berliner Straßennetz vergleicht.

    Andererseits benötigt die Zelle Energie und andere Stoffe aus ihrer Umwelt, ohne die sie nicht funktionieren und überleben kann. Aus diesem Grund hat sich die auf den ersten Blick herausfordernde Erkenntnis entwickelt, dass Systeme zwar operativ geschlossen, aber offen gegenüber ihrer Umwelt sind. Und da sie in gewisser Weise mit der Umwelt verbunden sind, spricht man auch von einer strukturellen Kopplung lebender Systeme. Der Begriff der Autopoiesis wurde aus der Biologie auch auf soziale Systeme übertragen und ist gemeinsam mit jenen der Muster- und Strukturbildung ein hilfreiches Analysewerkzeug, um die Interaktion von sozialen Systemen wie einer Schulklasse besser zu beschreiben.

    Denn auch eine Lerngruppe erschafft sich in ihren Eigenarten in vielerlei Hinsicht selbst. Das kann man miterleben, wenn zu Beginn des Schuljahres aus einzelnen Kindern oder Jugendlichen eine neue Lerngruppe entsteht. Dabei treffen die Schülerinnen als vollkommen unterschiedliche Elemente aufeinander und zu Beginn herrscht ein ungeheures Durcheinander. Aber mit der Zeit beruhigt sich der Zustand, es bilden sich Abläufe und Verhaltensmuster, Routinen, aber auch Hierarchien heraus, die ein einmaliges Klassengefüge entstehen lassen, das sich bei genauem Hinsehen von allen anderen Klassen unterscheidet. Manchmal entwickeln sich dabei auch problematische Verhaltensmuster, wie etwa Mobbingstrukturen. Abgeleitet aus der Biologie wird in der systemischen Theorie dieser dynamische, weil vorübergehende Gleichgewichtszustand auch als Homöostase bezeichnet.

    Selbstverständlich wirken verschiedene Faktoren maßgeblich auf die Bildung der lerngruppenspezifischen Muster ein. So gibt es etwa eine Schulordnung, einen Stundenplan, Klassenregeln und nicht zuletzt unterscheidet sich jede Lehrkraft deutlich in ihrer Beziehungsgestaltung zur jeweiligen Lerngruppe. Weil Letztere so wichtig ist, können Sie sich später in einem ganzen Kapitel damit befassen. Nun könnte man geneigt sein zu argumentieren, dass die Schulpflicht als stärkster Faktor auf die Schüler*innen einwirkt, weil damit die oben aufgeführten gesellschaftlichen Grundfunktionen erfüllt werden sollen. Aber die selbstorganisierende Kraft einer Schulklasse zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie selbst darüber entscheidet, weshalb die einzelnen Schüler in die Schule kommen. Und das mag häufig weniger an den formalen Bildungsangeboten liegen als vielmehr daran, in der Pause das Tischtennisturnier vom Vortag fortzuführen oder die nächste Party zu planen.

    Es nimmt daher kaum Wunder, dass sich in Lerngruppen Strukturen und Interaktionsmuster herausbilden können, die eine eindrucksvolle Beständigkeit und zugleich eine enorme Anpassungsfähigkeit an ihre Umwelt an den Tag legen. Wenn die Lerngruppe den Klassenraum wechselt, stellen sich nach kurzer Zeit oftmals wie von Geisterhand die gleichen Interaktionsmuster ein. Ähnlich verhält es sich bei Exkursionen oder Klassenfahrten. Und selbst wenn eine einflussreiche Schülerin die Klasse verlässt, tritt oftmals ein anderes Systemmitglied an ihre Stelle, sodass ein bestimmtes Grundmuster wiederhergestellt wird. Bereits am Beispiel der nicht trivialen Maschinen konnten wir sehen, dass lebende Systeme von außen kaum steuerbar, geschweige denn zu kontrollieren sind. Dieses Merkmal ist selbstverständlich in einer Ansammlung nicht trivialer Maschinen noch deutlich stärker ausgeprägt. Aus diesem Grund kann man Systeme in ihren Mustern und Strukturen von außen nur irritieren oder perturbieren, wie die Systemiker auch sagen.

    Die Beobachtung des Beobachters

    Die ursprünglichen Überlegungen bei der Entwicklung des systemischen Ansatzes waren eng mit dem etwas mysteriös anmutenden Modell der Kybernetik verbunden. Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort für Steuermann ab und wurde zunächst vor allem von Naturwissenschaftlern genutzt, um technische Rückkopplungssysteme zu beschreiben (von Glasersfeld, 1997). Das klassische Beispiel ist das Thermostat, das misst, ob die gewünschte Temperatur (Sollwert) im Raum vorhanden ist (Istwert), und dann entsprechend die Heizung hoch oder herunter reguliert. Bei menschlichen Interaktionen werden diese Rückkopplungsprozesse durch Kommunikation durchgeführt, wie wir am Beispiel von Tim und Herrn Hart gelernt haben. Heinz von Foerster führte in der Debatte aber die wegweisende Überlegung ein, dass zu einem ganzheitlichen Erkenntnisprozess sozialer Systeme auch dazu gehört, den Beobachter eines Systems beim Beobachten zu beobachten. Man kann also einerseits das System analysieren. Man sollte aber auch analysieren, wie das System analysiert wird. Denn wie wir im Folgenden sehen werden, wird ein soziales System erst durch die Beobachtung erschaffen.

    Die Bedeutung des Beobachtens wird einem bewusster, wenn man sich mit der Konstruktion von Schülerbildern auseinandersetzt. Dabei ist einzuräumen, dass es sich bei dem Terminus um keinen wissenschaftlichen Begriff handelt. Aber wie man auch umgangssprachlich davon spricht, sich von etwas »ein Bild zu machen«, lassen sich in der Wissenschaft einige Überlegungen finden, die eine Verwendung des Begriffs auch für das Handeln in der Schule plausibel und zweckdienlich erscheinen lassen.

    So misst etwa der Neurowissenschaftler Gerald Hüther den inneren Bildern beim Menschen sogar eine generationsübergreifende Macht in unserer alltäglichen Lebensführung bei (Hüther, 2015). Wie andere Wissenschaftler vermutet er, dass bei der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt aus den eintreffenden Sinnesdaten ein Wahrnehmungsbild konstruiert wird, das gleichzeitig mit einem Erwartungsbild aus höheren Hirnarealen abgeglichen wird. Ein neues Erwartungsbild entsteht dann, wenn das Wahrnehmungsbild nur teilweise mit den gespeicherten Erwartungsbildern übereinstimmt und diese sozusagen irritiert werden. In diesem Zustand werden die neuen Aktivierungsmuster des Wahrnehmungsbildes so lange mit dem Erwartungsbild abgeglichen, bis sich dieses verändert hat. Damit entsteht ein neues inneres Bild, was in letzter Konsequenz Auswirkungen auf unser Verhalten hat. Nach Hüther führt die große Lernbereitschaft zu Beginn eines Lebens dazu, dass neue Wahrnehmungen aus den verschiedenen Sinneskanälen eine Vielzahl an inneren Erwartungsbildern herbeiführen. Im weiteren Lebensverlauf könne beim Menschen die Wahrnehmung neuer Sinneseindrücke durch komplexe Verschaltungsmuster allerdings stark gehemmt werden, wenn sich etwa die Überzeugung etabliert, dass man alles Neue schon kenne oder sich die Auseinandersetzung damit als nutzlos oder gar gefährlich erwiesen hat. Eine Erzeugung neuer innerer Bilder wird dann schwieriger. Dass diese Mechanismen auch in der Schule ihre Wirkung zeigen, ist mittlerweile wissenschaftliches Allgemeingut: »Entscheidend ist, dass auch im pädagogischen Setting Menschen dazu tendieren, Wahrnehmen und Verhalten aktiv dergestalt auszurichten, dass mit höherer Wahrscheinlichkeit einmal gebildete Eindrücke bestätigt werden und sich somit ein vorhandenes Bild verfestigen kann« (Schweer, 2019, S. 62). Um die Funktion des Beobachters bei der Konstruktion von Schülerbildern zu verdeutlichen, ist eine einfache Übung zieldienlich.

    Nehmen Sie sich ausreichend Zeit. Lesen Sie in Abbildung 4 die folgenden Informationen über die vierzehnjährige Schülerin Lisa und beschreiben Sie diese mit drei Eigenschaftswörtern:

    Abbildung 4: Informationen über die vierzehnjährige Schülerin Lisa aus dem Schulkontext

    Interessant ist zu betrachten, welche beschreibenden Wörter Sie für Lisa gewählt haben, die jenseits der Facette Schulleistung liegen. Lisa hat eine sehr gute Note in der Klassenarbeit geschrieben und sie scheint im Unterricht zumindest aktiv mitzuarbeiten. Die meisten Lehrkräfte würden wahrscheinlich der Einschätzung zustimmen, dass man sich hinsichtlich der schulischen Leistung bei Lisa zumindest gegenwärtig keine Sorgen machen muss.

    Aber was für Adjektive haben Sie dafür gefunden, wie Lisa sich Ihnen als Persönlichkeit zeigt? Nehmen Sie Lisa etwa als nachlässig wahr, weil sie häufig zu spät kommt, die Hausaufgaben vergisst und das Tablett nicht weggeräumt hat? Oder wirkt Lisa auf Sie selbstbezogen und leicht überheblich, weil sie Gruppenarbeiten genauso bestimmt wie Unterrichtsgespräche? In Auseinandersetzung mit Ihren inneren Erwartungsbildern könnten Sie auf Lisa aber auch nachsichtig blicken und diese als etwas zerstreut, aber hochengagiert beschreiben. Vielleicht finden Sie Lisa auch sympathisch, weil sie Verhaltensweisen an den Tag legt, die Sie von sich selbst oder anderen Ihnen sympathischen Schüler*innen kennen? Wäre Lisa eine Schülerin, auf deren Wortbeiträge Sie sich freuen würden? Oder nehmen Sie bei sich die Befürchtung wahr, dass Lisa ganz schön herausfordernd sein könnte und Sie mit ihr womöglich in einen Konflikt geraten?

    Man kann jetzt behaupten, dass solche Zuschreibungen äußerst unprofessionell seien, weil man sich als Lehrkraft doch nur auf das Unterrichten zu konzentrieren habe. Aber zum einen werden wir sehen, dass nach einem Professionalisierungsansatz gerade die »diffuse Sozialdimension« ein typisches Merkmal des Lehrerberufs ist (Kapitel 2). Und zudem sind Unterscheiden und Einordnen evolutionsbiologisch gesehen überlebenswichtige Kompetenzen des Menschen und daher vollkommen natürlich. Der wichtige Unterschied besteht darin, sich über die eigenen Zuschreibungen und Beurteilungen bewusster zu werden und sein Handeln dadurch zu professionalisieren.

    Wichtig ist auch die Überlegung, wie sich Ihre drei Adjektive auf Ihr Verhalten gegenüber Lisa potenziell auswirken würden. Wären Sie tendenziell eher streng zu ihr und würden Sie das Zuspätkommen oder die Dominanz bei Gruppenarbeiten sanktionieren? Oder würden Sie ein paar problematische Verhaltensweisen eher gelassen ignorieren und durchgehen lassen, weil Lisa ja davon abgesehen eine prima Schülerin ist?

    Und da wir gelernt haben, dass eine zirkuläre Betrachtungsweise bei sozialen Systemen häufig zu gehaltvolleren Erkenntnissen führt, wäre die Frage spannend, welche Interaktionsmuster sich zwischen Ihnen und Lisa entwickeln würden. Entstünde ein Teufelskreis oder ein Engelskreis? Und welche Auswirkungen hätte das womöglich auf die Lerngruppe?

    Werfen wir nun einen Blick auf andere Informationen über Lisa. Lesen Sie diese in Abbildung 5 und beschreiben Sie Lisa erneut mit drei Eigenschaftswörtern:

    Abbildung 5: Informationen über die vierzehnjährige Schülerin Lisa aus anderen Kontexten

    Überlegen Sie nun wieder, was Ihre Adjektive über Ihr Bild von Lisa aussagen und wie diese als Person auf Sie wirkt. Finden Sie Lisa sozial und hilfsbereit, weil sie im Haushalt und bei der Betreuung ihrer Geschwister so bereitwillig unterstützt? Oder haben Sie aus den gleichen Gründen Mitleid mit Lisa? Ist Lisa energiegeladen und aufgeschlossen, weil sie Sport treibt? Oder eher unsympathisch, weil sie Hockey spielt? Empfinden Sie Lisa als politisch engagiert, weil Sie sich für Umweltschutz einsetzt? Oder halten Sie Lisa genau deshalb für tendenziell belehrend und etwas selbstgerecht?

    An diesem Beispiel wird deutlich, welche Macht in den Augen des Betrachters liegt. Denn je nachdem, wohin er seine Aufmerksamkeit steuert und welche Wörter er wählt, um das Beobachtete zu beschreiben, konstruiert er eine eigene Wirklichkeit. Aus diesem Grund war die Erkenntnis über die Rolle des Beobachters in der Entwicklung des systemischen Denkens so bedeutsam und wird auch als Kybernetik zweiter Ordnung bezeichnet (Simon, 2017). Und in der Funktion des Beobachters zeigt sich auch die starke Verbindung zwischen Systemtheorie und Konstruktivismus oder, systemisch gesprochen, deren strukturelle Kopplung. Weil mit unserer Wahrnehmung zwangsläufig ein aktiver Konstruktionsprozess einhergeht, regt Gunther Schmidt sogar dazu an, in diesem Zusammenhang besser von Wahrgebung zu sprechen (Schmidt, 2015, S. 181). Auf die wichtige Konstruktionsfunktion des Beobachters wies auch Humberto Maturana mit seinem eingängigen Satz hin: »Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt« (Maturana, 1982, S. 34). Durch die Beschreibungen von Lisa dürfte deutlich werden, dass Sprache eine zentrale Funktion bei der Konstruktion unserer Wirklichkeit in Schule und Unterricht spielt. Der radikale Konstruktivist Ernst von Glasersfeld schildert die Auseinandersetzung mit der Vielzahl an Sprachen in seiner Jugend als eine Art Erweckungserlebnis und Ausgangspunkt seiner Forschungskarriere. Und er formuliert Sätze, die uns die Grenzen des Erkennens als Lehrkräfte vor Augen führen:

    »Erstens dürfen wir nie unsere Grundannahme vergessen, daß Begriffe und begriffliche Strukturen notwendigerweise hypothetische Elemente sind. Sie sind doppelt hypothetisch, wenn sie anderen Menschen zugeschrieben werden. Wir können andere im besten Falle nur soweit verstehen, als der Eigentümer oder Benutzer uns über seine Denkmodelle berichtet oder sich auf eine Weise verhält, die uns instand setzt, sie zu erschließen« (von Glasersfeld, 1997, S. 256).

    Eine Beobachtung kann also niemals neutral sein, auch wenn man etwa strenge (Noten-)Kriterien anlegt. Denn schließlich sind die Kriterien auch Konstruktionen, mit denen bestimmte Vorstellungen, Werte und Aufmerksamkeitsfokussierungen auf ein soziales Phänomen einhergehen.

    An dieser Stelle kann man bereits etwas gehaltvoller auf die Rolle der Lehrkraft schauen. Nach systemisch-konstruktivistischen Überlegungen ist der Lehrer aufgrund seiner auszuführenden Aufgaben ein außenstehender Beobachter, der die Klasse bei ihren Interaktionen und Lernprozessen betrachtet, dementsprechend handelt und seine vermeintliche Wirkung wahrnimmt. Dabei erschafft er von der Klasse Wirklichkeitskonstruktionen, die er auch ins Lehrerzimmer trägt, wo sie unter anderem auf bestätigende und widersprechende Konstruktionen der Kolleginnen treffen.

    Andererseits ist die Lehrkraft aber auch Teil des sozialen Systems Schulklasse. Denn auch zwischen ihr und den Schülern haben sich spezielle Interaktionsmuster und Strukturen herausgebildet, die einer gewissen Funktionslogik folgen und in ihrer jeweiligen Form einzigartig sind. Das erklärt auch, weshalb die scheinbar gleiche Klasse bei der Mathekollegin störungsfrei mitarbeitet, während der Englischkollege vor lauter Disziplinieren kaum effektive Lernzeit herzustellen vermag. Aus diesem Grund sind auch kollegiale Hospitationen und Supervisionen so wertvolle Impulse zur Professionalisierung, denn durch sie können blinde Flecken des Beobachters aufgezeigt und bearbeitet werden.

    Wie wir sehen konnten, war die Beschreibung von Lisa sehr unterschiedlich, je nachdem, welches Teilsystem man von ihr beobachtet. Im Gegensatz zum ersten Blick auf Lisa stammen die anderen Informationen aus zwei anderen Kontexten, in denen sich Lisa bewegt, ihrem

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