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Der Geisterjunge
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eBook323 Seiten4 Stunden

Der Geisterjunge

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Über dieses E-Book

An ihrem achtzehnten Geburtstag erfährt Sophie, dass sie adoptiert wurde. Doch auf Fragen der jungen Frau antwortet die Familie mit Schweigen und hüllt ihre Herkunft in ein tiefes Geheimnis.

Jahre später erhält sie einen anonymen Brief, dessen Inhalt ebenso geheimnisvoll ist wie ihre Kindheit. Seitdem wird sie von dem Geist eines Jungen verfolgt, der ihr näher steht, als sie zunächst annimmt. 
 
Achtung: Überarbeitete Neuauflage des Buchs "Traumbold"
SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum17. Feb. 2020
ISBN9783736847033
Der Geisterjunge

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    Buchvorschau

    Der Geisterjunge - Dana Müller

    Der Geisterjunge

    Mystery-Roman 

    von

    Dana Müller

    Diskussionen

    »Sophie, Sophie«, schmetterte mir Julians helles Stimmchen entgegen. »Bekomme ich wirklich ein Brüderchen?«, fragte er und hüpfte aufgeregt in der Küche umher.

    Am liebsten hätte ich geantwortet, dass er nie eines von mir bekommen würde, damit hätte das leidige Thema endlich ein Ende, aber für den fünfjährigen Jungen wäre damit wohl eine Welt zusammengebrochen. Also schluckte ich meinen Ärger über seinen Vater hinunter und legte ein Lächeln auf.

    »Hase, es ist nicht so leicht zu sagen, ob und wann du ein Geschwisterchen bekommst. Weißt du, manchmal muss man ganz lange warten, bis ein Wunsch in Erfüllung geht. Verstehst du?«, erklärte ich.

    Schlagartig wich die Freude aus seinem zarten Gesicht.

    »Ach Menno! Aber Papa hat gesagt, dass das nicht mehr lange dauert«, quengelte er und sah erwartungsvoll zu mir hoch.

    »Papa kann das gar nicht so genau wissen. Schließlich bekommen die Papas ja nicht die Babys«, antwortete ich.

    »Na toll! Ich werde nie einen Bruder haben«, schlussfolgerte er und schlurfte missmutig aus der Küche.

    Mit dem schlechten Gefühl, ihn traurig gemacht zu haben, widmete ich mich wieder dem Nudelgratin und verteilte den geriebenen Käse auf der Pasta. Mir war unbegreiflich, wie Marcel seinen kleinen Sohn in die Umsetzung seiner Wünsche einbinden konnte. Unsere letzte Diskussion um das Thema Kinderkriegen lag wenige Tage zurück und ich dachte, ihm meinen Standpunkt begreiflich gemacht zu haben. Scheinbar verfolgte er seine eigenen Pläne. Aber das war etwas, das ich ihm nicht durchgehen lassen würde. Sobald Julian in seinem Bettchen läge, wollte ich unbedingt mit seinem Vater reden. Solange musste ich mich eben zusammennehmen, so gut ich konnte. Ich wollte nicht, dass der Junge ein Streitgespräch zwischen uns mitbekommt. Leider würde es genau darauf hinauslaufen, so sauer, wie ich war.

    Vorsichtig schob ich die Auflaufform in den vorgeheizten Ofen und bereitete den Salat zu.

    Der Duft geschmolzenen Käses lockte die beiden in die Küche. Während Julian den Tisch mit Platzdeckchen versah, schlang Marcel seine Arme um meinen Körper. Mit einer gekonnten Drehung wandte ich mich aus seiner Umarmung und zog das Besteckfach auf. Ein weiterer Anlauf, mich in seine Arme zu schließen scheiterte. Er griff nach meinem Handgelenk.

    »Das Essen wird kalt«, bemerkte ich trocken und drehte meinen Arm aus seinem leichten Griff.

    Wortlos setzte er sich an den Tisch und wartete auf seinen Teller, während Julian bereits von dem Käse naschte. Scheinbar hatte der Junge meine Abfuhr längst vergessen, was mein Gewissen aber keinesfalls erleichterte. Ich konnte an nichts anderes denken, als die Art, mit der Marcel die Verantwortung seinem Kind gegenüber definierte.

    Während ich in den Nudeln herumstocherte und den Käse in lange Fäden zog, um diese um die Gabel zu wickeln und am Tellerrand abzustreifen, verschlang Marcel sein Essen. Ich war mir nicht sicher, ob er das tat, weil sein Hunger so groß war oder weil er ahnte, dass ihm eine Diskussion bevorstand. Ich tippte auf Letzteres. Mein Appetit hatte sich mit Julians Frage nach dem Brüderchen verabschiedet, dieser eine Satz lag mir wie ein großer Stein im Magen.

    »Warum isst du nichts?«, fragte Julian.

    »Ich habe während des Kochens zu viel genascht«, log ich und stand auf, um die Teller abzuräumen.

    Marcel blickte kurz zu mir auf. »Iss doch wenigstens den Salat«, sagte er.

    Als ich nicht antwortete, sah er rasch auf seine Armbanduhr.

    »Wie die Zeit vergeht. Los, Sportsfreund! Umziehen und Zähne putzen. Wir waren heute ziemlich spät mit dem Essen dran«, sagte er und stand auf.

    »Ich will aber noch nicht schlafen. Kann ich nicht noch ein bisschen länger wach bleiben?«, fragte Julian mit großen Augen und schob die Unterlippe vor.

    Wenn er einen so anblickte, war es ziemlich schwer, seinem Flehen zu widerstehen. Dennoch blieb sein Vater hart und streckte ihm die Hand entgegen.

    »Komm«, sagte er. »Ich helfe dir. Dann geht`s schneller.«

    Hatte ich tatsächlich die Zeit aus den Augen verloren? Ich sah ebenfalls auf die Uhr und stellte fest, dass Marcel den Jungen um eine ganze Stunde zu betrügen versuchte. Also war es tatsächlich nicht der große Hunger, der sein Essverhalten gesteuert hatte, sondern sein Gewissen. Dieses hatte sich bestimmt nicht wegen Julian gemeldet, sondern wegen mir. Kopfschüttelnd räumte ich das Geschirr in die Spülmaschine und legte die Platzdeckchen zurück in die Schublade. Solange Marcel seinen Sohn zu Bett brachte, nutze ich die Gelegenheit, heimlich eine Zigarette zu rauchen. Er hasste es, wenn ich das tat. Natürlich war mir bewusst, dass er es riechen würde, aber das kümmerte mich nicht. An der offenen Terrassentür nahm ich einen tiefen Zug und überlegte, wie ich meinem Verlobten deutlich machen könnte, warum seine Bemühungen um Nachwuchs auf unfruchtbaren Boden fielen.

    »Die Dinger sind nicht gut für dich«, ertönte seine Stimme und ließ mich zusammenfahren.

    Hastig streifte ich die Glut am Terrassenboden ab und schloss die Tür.

    »Du wirst erwartet«, sagte Marcel und deutete mit dem Kopf in die Richtung des Kinderzimmers. »Meine Geschichten sind ihm nicht gut genug. Er will unbedingt von dir vorgelesen bekommen, sonst schläft er nicht, meint er zumindest.«

    Ich warf den Zigarettenstummel in den Mülleimer. Ohne ein weiteres Wort lief ich die Treppe hinauf zu Julians Zimmer. Das kleine Nachtlicht brannte und warf tanzende Schatten an die Wände des kleinen Raumes. Julian lag eingekuschelt in seiner Decke und wartete offensichtlich schon auf mich.

    »Welche Geschichte möchtest du denn heute hören?«, fragte ich und schlug das Buch auf, aus dem ich ihm jeden Abend vorlas. Doch, statt mir zu antworten, stellte er eine Gegenfrage.

    »Bist du sauer?«

    »Warum sollte ich sauer sein?«

    Julian setzte sich auf und streifte seine Decke glatt. Das tat er immer, wenn er sich nicht wohlfühlte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sein Unwohlsein mit Marcel zu tun hatte.

    »Hat Papa das behauptet?«, fragte ich gerade heraus.

    Er nickte. »Wegen des Babys, das du nicht willst. Warum willst du kein Kind? Ich bin doch auch ein Kind und du hast mich doch lieb.«

    Bis hierher hatte ich gedacht, nein ich hatte gehofft, dass Marcel nicht darüber nachgedacht hatte, als er dem Jungen den Floh vom Geschwisterchen ins Ohr setzte. Aber jetzt war ich mir sicher, dass er es in vollem Bewusstsein getan hatte. Ich schluckte meine Wut hinunter, wie einen großen Bissen ekligen Essens.

    »Natürlich habe ich dich sehr lieb, Hase«, antwortete ich und platzierte einen liebevollen Kuss auf seiner zarten Stirn. »Dein Papa hat da etwas falsch verstanden. Es gibt überhaupt kein Baby. Der Papa und ich hatten uns vor einiger Zeit darüber unterhalten, ob wir noch ein zweites Kind haben möchten. Aber im Moment ist es einfach nicht die richtige Zeit. Vielleicht ändert sich das bald, vielleicht auch nicht. Aber diese Überlegungen haben doch nichts mit dir zu tun, mein Liebling.«

    »Womit hat es denn zu tun?«, fragte Julian.

    Womit hatte es zu tun? Ich suchte in meinem Innersten nach der richtigen Antwort, aber was ich noch genau wusste, bevor ich in sein Zimmer getreten war, schien sich nun in Luft aufgelöst zu haben.

    »Das sind Erwachsenensachen, damit solltest du dich nicht belasten. Und jetzt sagst du mir bitte, welche Geschichte ich lesen soll.«

    Er sah mich mit seinen großen grünen Augen an, in denen eine tiefe Angst zu liegen schien. Ich hoffte, dass ich mir diese nur einbildete, schließlich hatten wir gerade ein Thema besprochen, das auch in mir Unbehagen auslöste.

    »Heute keine Geschichte. Aber dafür was anderes. Kannst du dich zu mir legen, bis ich eingeschlafen bin?«, sagte er und schlug seine Decke auf.

    Ich kletterte in sein Bett und legte meinen Arm um den kleinen Körper, nachdem er mir den Rücken zugedreht und sich an mich gekuschelt hatte. Es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war und ich mich vorsichtig aus seinem Reich schleichen konnte.

    Leise schloss ich die Tür hinter mir und lief hinunter ins Wohnzimmer, während ich versuchte, mir die Worte zurechtzulegen, mit denen ich Marcel den Kopf waschen wollte. Ich war kaum durch die Tür getreten, da schmetterte er mir schon ein »tut mir leid« entgegen.

    »Das geht so nicht, Marcel«, entgegnete ich und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. »Du kannst den Jungen nicht so für deine Zwecke missbrauchen. Damit verwirrst du ihn komplett!«

    Marcel hob die Augenbrauen.

    »Er hat selber gefragt. Im Kindergarten gibt es einen Jungen, der ein Brüderchen bekommt. Die Erzieherin hat die Kinder gefragt, wer denn ein Geschwisterchen hat. Julian war der Einzige, dessen Arm unten geblieben ist. Was hätte ich ihm denn sagen sollen?«

    »Vielleicht die Wahrheit?«, antwortete ich und setzte mich neben ihn auf die Couch.

    Er wollte seinen Arm um meine Schultern legen, aber ich lehnte mich nach vorne.

    »Dann soll ich ihm sagen, dass du einfach keine Kinder willst?«, fragte er und lehnte sich ebenfalls vor.

    »Jetzt tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, warum das so ist«, erwiderte ich schärfer, als gewollt und stand auf, um mir ein Glas Cola aus der Küche zu holen. Marcel folgte mir und nahm mir so die Gelegenheit, mich zu sammeln. Mich ärgerte sein Unverständnis. Vor allem ärgerte mich, dass er nun offensichtlich versuchte, sich aus der Affäre zu ziehen.

    »Ich verstehe dich nicht! Was spricht denn gegen Familienzuwachs? Ich meine, deine Eltern lieben dich und haben dir eine gute Zukunft ermöglicht. Du kümmerst dich um Julian, als wäre er dein leibliches Kind. Ich liebe dich! Warum kannst du nicht einfach nach vorne schauen?«

    Der Druck der Colaflasche gab mit einem Zischen nach. Ich goss mir ein halbes Glas der rotbraunen Flüssigkeit ein und nahm einen Schluck davon.

    »Nur, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind! Warum versuchst du nicht, wenigstens zu verstehen, dass ich wissen muss, warum meine Eltern mich weggegeben haben? Vielleicht waren sie krank, vielleicht haben sie mich einfach nicht gewollt, vielleicht ... Ich kann so kein Kind in die Welt setzen!«, erklärte ich und kämpfte mit den Tränen, die sich unbarmherzig anbahnten.

    Seit ich an meinem achtzehnten Geburtstag erfahren hatte, dass ich adoptiert worden war, fühlte ich mich deplatziert in dieser Familie. Meine Eltern waren von einem Augenblick auf den anderen zu Fremden geworden. Während anderen die Ähnlichkeit zu ihren Eltern im Gesicht stand, suchte ich diese in meinen Zügen vergeblich. Seitdem ließ mich die Frage nicht mehr los, warum meine leiblichen Eltern mich denn nicht mehr gewollt hatten. Mit den Tränen, die in dieser Zeit geflossen waren, würde man einen ganzen Eimer füllen können. Mittlerweile hatte ich die Trauer größtenteils überwunden und war nur noch tief enttäuscht. Jedes meiner vermeintlichen Familienmitglieder machte einen großen Bogen um das Thema. Und jedes Mal, wenn ich es dann trotzdem auf den Tisch brachte, verstummten sie und hatten plötzlich etwas Wichtiges zu tun. Sie hüllten meine Herkunft in ein dunkles Geheimnis. Aber ehe dieses nicht gelüftet wäre, wollte ich keine Kinder in die Welt setzen.

    »Wie kann man nur so egoistisch sein? Du gibst mir das Gefühl, dich würde gar nicht interessieren, was ich will. Hauptsache, deine Wünsche kommen nicht zu knapp«, polterte es über meine Lippen.

    Marcel holte tief Luft und entließ diese durch einen schmalen Spalt zwischen seinen Lippen.

    »Jetzt wirst du unfair!«, sagte er leise.

    In seinen Augen konnte ich die Verletzung deutlich erkennen, die meine Worte hinterlassen hatten, aber ich wollte mich nicht entschuldigen, ich konnte es nicht. Zu oft hatten wir in der Vergangenheit diese Diskussion geführt. Jedes Mal hatte es mir leidgetan, ihn traurig zu sehen, so war ich immer wieder auf ihn zugegangen, um mich mit ihm zu vertragen. Aber diesmal nicht, diesmal sollte er den Ernst meiner Worte genau spüren. Ich sparte mir jede weitere Diskussion und lief in die Küche, um die Mülltüte aus dem Treteimer zu ziehen, während er im Wohnzimmer sitzen blieb. Wie es schien, war er dermaßen verletzt, dass ihm die Worte fehlten. Ich verknotete die Tüte und griff im Vorbeigehen den Schlüssel aus der großen hölzernen Schale im Flur.

    Die frische Abendluft schlug mir mit einer schwachen Brise ins Gesicht. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und spiegelte ein bisschen meine Stimmung wider. Der Nachbarhund lief am Zaun auf und ab, während er meine Bewegungen genau beobachtete. Erst, als ich die Tüte in die Mülltonne beförderte, verlor er das Interesse an mir. Ich zog den Reißverschluss meines Sweaters hinauf und schlang die Arme um meinen Körper. Obwohl ich fröstelte, wollte ich nicht wieder ins Haus gehen, noch nicht. Die feuchte Luft war genau das Richtige, um einen klaren Kopf zu bekommen. So blieb ich noch einige Minuten im Nieselregen stehen. Doch, als ich an den Briefkasten kam, kochte die Wut in mir wieder auf.

    »Du kannst nicht einmal den Briefkasten leeren, wie willst du dich dann um ein zweites Kind kümmern?«, brummte ich vor mich hin.

    Durch das schmale Sichtfenster konnte ich deutlich einen braunen Briefumschlag erkennen. Da der Postbote bestimmt nicht abends Briefe austrägt, musste Marcel diesen schlichtweg übersehen haben, als er nach Hause gekommen war. Schon beim Herausholen des Umschlags fiel mir auf, dass dieser weder eine Briefmarke noch einen Absender trug, was meine Neugier weckte. Allerdings war er an mich adressiert, was mich wiederum verunsicherte. Was würde ich wohl finden, wenn ich ihn öffnete? Darüber wollte ich nicht nachdenken, denn in Filmen finden die Leute in solchen Situationen Bilder ihrer untreuen Partner oder Schlimmeres. Ich lief zur Straße und blickte mich um, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Im Inneren konnte ich etwas Hartes ertasten, Bilder konnten es also nicht sein, es sei denn, jemand hatte diese auf einer CD verewigt. Mich beschlich eine seltsame Ahnung. Mit dem Öffnen dieses Briefes könnte sich mein Leben verändern. Aber wollte ich überhaupt, dass sich etwas änderte?

    Mir wurde immer kälter, der Nieselregen hatte sich in schnelle Tropfen verwandelt, die in einem monotonen Rauschen herabfielen und bereits kleine Pfützen gebildet hatten. Den Brief schob ich unter meinen Sweater und öffnete die Tür, Marcel sollte ihn nicht sehen, solange ich seinen Inhalt nicht kannte. Wärme umhüllte mich in dem Moment meines Eintretens. Aber es war nicht die warme Luft, die mich an die Geborgenheit meiner kleinen Patchworkfamilie erinnerte, es war die Stille, die durch das Haus drang. Jetzt rührte sich mein Gewissen. Wie lange ich draußen in der Kälte gestanden hatte, erkannte ich nur an meinen kalten Händen, in denen sich langsam ein Kribbeln breitmachte. Marcel vermutete ich im Schlafzimmer. Er war bestimmt sehr traurig und ein bisschen sauer schlafen gegangen, weil ich mich aus dem Gespräch gestohlen hatte.

    Leise schlich ich ins Bad und schlüpfte aus meiner nassen Kleidung. Den Brief legte ich auf den Rand des Waschbeckens und stellte mich unter die Dusche. Das warme Wasser entspannte mich etwas, aber meine Gedanken ließen einfach nicht von dem Umschlag ab. Schließlich griff ich nach dem Handtuch und stieg aus der Duschtasse. Der Brief lag genau da, wo ich ihn abgelegt hatte. Wo sollte er auch sonst liegen? Vorsichtig schob ich eine Nagelfeile in die Lücke der Kuvertlasche und zog diese durch das feuchte Papier. Dann schmulte ich hinein. Meine Vermutung erwies sich als richtig, denn in seinem Inneren befand sich tatsächlich eine CD-Hülle. Ein Zittern breitete sich in meiner Magengrube aus. Was, wenn Marcel mich betrogen hatte? Was, wenn seine Geliebte keine Lust mehr auf das Versteckspiel hatte und mit Beweisfotos unserer Trennung nachhelfen wollte, um ihn für sich alleine zu haben? Ein Teil von mir wollte gar nicht wissen, was sich auf der CD befand, aber ein anderer, größerer Teil hielt es nicht mehr aus und drängte mich, es herauszufinden. Also streifte ich meinen Bademantel über und schlich mit meinem Fund ins Wohnzimmer, zum Laptop. Während dieser langsam hochfuhr, holte ich mir eine Zigarette und den Aschenbecher, den ich unter der Spüle vor Marcel versteckt hatte. Das Cover der Hülle war komplett schwarz, es hatte nicht einmal eine Aufschrift, was die ganze Sache nur noch unheimlicher machte. Dagegen hatte die CD eine rote Tönung. Ich öffnete das Fach und legte die Disc ein. Mein Herz begann wie wild zu schlagen, meine Knie verwandelten sich in Wackelpudding und mein Verstand drohte auszusetzen. Ich fragte mich ein letztes Mal, ob ich das Geheimnis dieser Disc überhaupt ergründen wollte, ehe ich den Mauszeiger auf das Laufwerk bewegte. Zu meinem Erstaunen beherbergte der Träger eine einzelne Audiodatei. Diese hatte nicht einmal einen richtigen Namen, nur Zahlen. Was sollte ich nur tun? Wenn doch nur Mara jetzt hier wäre. Mit ihr hatte ich die schwersten Zeiten meines Lebens überstanden, sie hatte mich gehalten, als sich ein tiefer Abgrund unter mir aufgetan hatte. Sie war immer für mich da gewesen. Ich beschloss, ihr wenigstens die Datei zu schicken. Sollte sich mir etwas Furchtbares durch das Öffnen offenbaren, dann müsste ich wenigstens nicht in Erklärungsversuchen ertrinken. Dann wüsste Mara sofort Bescheid und würde mich retten, ohne Fragen stellen zu müssen. Mit wenigen Klicks hatte ich die Datei als E-Mail-Anhang hochgeladen, schrieb ihr eine kurze Erklärung und bewegte den Mauszeiger auf den Senden-Button. Ich zögerte einen Augenblick, hob den Zeigefinger und ließ diesen kraftvoll auf die linke Maustaste fallen.

    Um Marcel nicht ins Wohnzimmer zu locken, setzte ich meine Kopfhörer auf und öffnete die Datei ohne Namen.

    Zunächst ertönte ein kurzer, tiefer Ton, der sich in regelmäßigen Abständen wiederholte, bis er wie ein Herzschlag in Zeitlupe klang. Ich lehnte mich in meinem Chefsessel zurück und ließ mich auf den entspannenden Klang ein. Dann setzte eine helle Melodie ein, vergleichbar mit einem leisen Glockenspiel, die tief in meinen Kopf drang. Aber es war nicht unangenehm, im Gegenteil, ich fühlte mich plötzlich leicht und zufrieden. Ich schloss meine Lider und ließ mich von den Tönen tragen. Nach einer Weile bemerkte ich ein durchgehendes Brummen, das lauter wurde und sich bis zum Ende der Audiodatei zog. Ich hatte etwas Vergleichbares im Internet gehört, als ich auf der Suche nach Entspannungsmusik gewesen war. Nun fragte ich mich umso mehr, wer mir diese meditative Musik gönnte.

    Plötzlich überkam mich eine tiefe Müdigkeit, die sich in einem langen Gähnen äußerte. Mein Blick schweifte zur Wanduhr, deren Zeigerstand mich verwirrte. Sie musste stehen geblieben sein, denn nach dem Stand der Zeiger hatte ich angeblich fünf Stunden vor dem Laptop verbracht. Kopfschüttelnd kniff ich die Augen etwas zusammen, um die kleine Zeitanzeige am unteren Rand des Monitors zu erkennen, doch diese zeigte genau dieselbe Uhrzeit an. Es war kurz vor Mitternacht. Hastig fuhr ich das Gerät wieder runter und schlich ins Schlafzimmer.

    Marcels Schnarchen war bis nach unten zu hören gewesen. So leise ich konnte, öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer und schlüpfte hinein. Die Luft in dem Raum schien gänzlich verbraucht. Ich kippte das Fenster hinter dem schweren Vorhang, den ich ein Stück beiseiteschob, um den Luftaustausch zu beschleunigen. Seichtes Mondlicht fiel auf das Bett und warf die Schatten, der sich wiegenden Äste in unserem Garten, in unheimlicher Weise an die Wand hinter dem Bett. Die Decke hob ich sehr vorsichtig hoch, um Marcel nicht zu wecken. Wie hätte ich ihm denn erklären sollen, was ich die ganze Zeit über gemacht hatte, ich wusste es selber nicht so recht. Der Lattenrost ächzte unter meiner Belastung. Marcel drehte sich von mir weg. Die Decke bis über die Schulter gezogen, lag er nun in Embryonalstellung neben mir. Ich atmete leise aus und legte mich steif neben ihn. Meine Decke zog ich ebenfalls bis zu den Zähnen, während mein Blick den Bewegungen der Schatten folgte. Eine stärkere Brise verfing sich in den Baumkronen und entlockte ihnen ein Rascheln und Flüstern. Während ich dem Klang der Natur lauschte, wurden meine Lider bleiern und gaben schließlich der Schwerkraft nach.

    Lebendige Träume

    Tiefe Dunkelheit umgab mich, wie ein schwerer Mantel. Ich stand an einem Fenster, dessen Scheibe zerschlagen auf dem morschen Holz um meine Füße verteilt war. Fahles Mondlicht lag über dem Hof und ließ das Rot der gegenüberliegenden Scheune leuchten. Eine kleine Tür im Dachbereich sprang auf und ein Kind stand in schwindelerregender Höhe in dieser Tür. Sein Kopf war zur Seite geneigt. Aus der Entfernung, es lagen bestimmt zweihundert Meter zwischen mir und der Scheune, konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Aber, was ich ganz deutlich ausmachen konnte, war der weiße Pyjama mit roten Punkten. Was um alles in der Welt machte ein Kind im Schlafanzug in dem Scheunentürchen? Meine Nackenhärchen stellten sich auf, ein Huschen hinter mir ließ mich herumfahren, doch ich konnte niemanden erkennen. Dann blickte ich wieder zu der Scheune, aber das Kind war verschwunden. Ein furchtbarer Gedanke drängte sich mir auf. Ich versuchte, auf dem Boden vor der Scheune etwas zu erkennen.

    »Sophie«, rief eine Kinderstimme meinen Namen.

    Wieder fuhr ich herum, doch ehe ich den Raum auch nur erfassen konnte, verschwamm alles und ich fühlte mich beobachtet.

    Meine Lider sprangen auf und ich blickte in die seichte Dunkelheit meines Schlafzimmers. Neben meinem Bett stand Julian und traute sich offenbar nicht, mich zu wecken. Er sah mich nur an.

    »Geh wieder ins Bett, Hase«, murmelte ich, aber der Junge gab keinen Laut von sich.

    »Was ist denn? Hast du schlecht geträumt?«

    Wieder blieb er stumm und stand einfach nur da. Ich blinzelte den Schlaf aus meinen Augen und versuchte zu erkennen, ob er überhaupt wach war. Am Ende würde er wieder schlafwandeln, genauso, wie er es letzten Monat getan hatte. Etwas passte nicht in das Bild, denn ich war mir sicher, dass Julian seinen dunkelblauen Pyjama angehabt hatte, den mit dem kleinen Dino auf der Brust. Dieses Kind trug einen weißen Schlafanzug mit roten Punkten, wie das Kind in meinem Traum. Die Erkenntnis erstickte mich fast, mein Herz begann, wie wild zu rasen, während ein Schauer meinen ganzen Körper erfasste. Hastig tastete ich nach der kleinen Taschenlampe auf meinem Nachttischchen und schaltete diese ein. Im hellen Lichtkegel standen weder Julian noch das Kind aus meinem Traum neben dem Bett. Es stand dort niemand. Ich war verwirrt und legte die Taschenlampe wieder zurück. Mein Herz beruhigte sich langsam wieder und schlug im gewohnten Rhythmus, aber der kalte Schauer hatte sich unter meiner Haut festgesetzt und blieb. Ich zog die Decke weiter hinauf, sodass bis zur Nase alles bedeckt war, und schlug sie unter den Füßen ein. Dann drehte ich mich zu Marcel und kuschelte mich dicht an seinen Rücken. Es dauerte eine gefühlte Stunde, ehe mich der Schlaf erneut in seinen Mantel hüllte.

    Zu meinem Glück war meine gestörte Nachtruhe auf einen Samstag gefallen und Marcel hatte mich ausschlafen lassen. Gegen elf Uhr schälte ich mich gerädert aus dem Bett und stieg unter die Dusche. Unter dem Wasser, das wie warmer Regen auf meine Haut traf, überrollten mich die Bilder der vergangenen Nacht. Hatte ich so intensiv geträumt, dass mir mein Gehirn einen Streich gespielt hatte? War es überhaupt möglich, eine Figur aus den Träumen in die Aufwachphase mitzunehmen? Ich wusste es nicht, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ständig überkam mich das Bild des kleinen Kindes in der Scheunentür.

    Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, auf dem Marcel in krakeliger Schrift notiert hatte, dass er mit Julian zum Drachensteigen in den Park gefahren sei. Also war ich alleine. Alleine mit meinen Gedanken und alleine mit dem Gefühl, nicht alleine zu sein. Hinter jeder Nische vermutete ich etwas oder jemanden, der jeden Moment aus seinem Versteck hervorspringen würde, um mich zu verletzen. Was war nur los mit mir? Der Kaffee in der Thermoskanne war noch warm genug, um

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