Begegnungen: Geschichten aus der Psychiatrie
Von Rainer Güllich
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Über dieses E-Book
Man schreibt das Jahr 1988. "Der Neue" tritt seine Arbeit als Ergotherapeut in der gerontopsychiatrischen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses an. Kein leichter Job, denn es fehlen in diesem neuen Betätigungsfeld Erfahrungswerte in der Arbeit mit psychisch erkrankten alten Menschen - und die betagten Patienten erweisen sich ihm gegenüber als grundsätzlich skeptisch eingestellt.
Unter Einsatz großer Geduld - und nicht zuletzt durch ein gehöriges Maß an Einfallsreichtum - erarbeitet er sich behutsam deren Vertrauen und Respekt, wobei Beziehungen mit besonderen Momenten entstehen.
Von einigen dieser anrührenden, skurrilen oder makabren, aber immer höchst bemerkenswerten "Begegnungen" handelt dieses Buch.
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Buchvorschau
Begegnungen - Rainer Güllich
Inhaltsverzeichnis
1. Die Visite
2. Koprolalie
3. Österliches Intermezzo
4. Der Kleine
5. Religiös
6. Der Toilettenstuhl
7. Anziehtraining nach Lehrbuch
8. Paranoia
9. Der Frisörtermin
10. Die unendliche Geschichte
11. Die Vier von Station 3
12. Der Direktor
13. Seidenmalen
14. Die Zigarette
15. Die Beisetzung
16. Schimmelreiter
17. Die Seidentuchproduktion
18. Bestrahlt
19. Manie
20. Korsakow
21. Demenz
22. Wahnhaft
Nachwort
Über den Autor
1. Die Visite
Punkt neun Uhr begann die Chefarztvisite. Oberarzt, zwei Stationsärzte, Psychologin, Sozialarbeiter, Stationsschwester und ich – der Ergotherapeut. Eine gute Besetzung.
Wie mir schon oft von Patienten berichtet wurde, ließen sie sich durch die Visitensituation einschüchtern: Man sitzt auf dem Bett, sieben bis neun Leute stehen im Halbkreis vor dir herum und begutachteten dich. Keine angenehme Angelegenheit, schon gar nicht, wenn man auch noch an einer psychischen Erkrankung leidet.
Die Stimmung unter dem Personal erwies sich als gut, denn Chefarzt Doktor Brenner, ein kompetenter, erfahrener Psychiater, zeigte sich meist locker – man schloss sich dem Pulk also an. Es herrschte auch in dieser Hinsicht eine klare Hierarchie: Zeigte der Chef gute Laune, bewiesen alle gute Laune. Das war einfach so. Damit fuhr man auch am Besten.
So auch heute. Der Großteil der Visiten lag schon hinter uns. Alles wie immer: Einige Patienten klagten, andere glaubten sich auf dem Weg der Besserung, einige freuten sich sogar, nämlich auf die bevorstehende Entlassung.
Im letzten Zimmer lagen Frau Metzger und Frau Schneyder – beide wegen Depressionen aufgenommen. Frau Metzger befand sich schon etwas länger in der Klinik und ihr ging es inzwischen besser.
Bei Frau Schneyder handelte es sich um eine Russlanddeutsche, die vor ungefähr einem Jahr mit ihrem Sohn und dessen Familie nach Deutschland übersiedelte. Sie sprach zwar kaum Deutsch, aber so weit mir bekannt war, konnte sie es leidlich verstehen. Bislang bot sich mir noch nicht die Gelegenheit richtigen Kontakt zu ihr herzustellen. Sie war erst seit einer Woche da und das Angebot der Werktherapie hatte sie abgelehnt. Ich hatte das zunächst einmal akzeptiert, denn am Wahrnehmungs- und Gedächtnistraining nahm sie teil, konnte sich jedoch aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse nicht gut beteiligen.
Das war nichts Außergewöhnliches. Es kamen schon oft Patienten in die Therapie, mit denen die Kommunikation sich infolge von Sprachproblemen schwierig gestaltete. In diesen Fällen bewährte sich die Werktherapie, weil die Teilnehmer dort nonverbal kommunizieren konnten. Schlecht sah es allerdings dann aus, wenn sie genau dieses Angebot ablehnten.
Das Einzige, was ich von Frau Schneyder mit Sicherheit wusste: Die Schreibweise ihres Namens. Schneider mit Ypsilon betonte sie immer wieder. Vielleicht gab ihr das die Identifikation, die sie in einem für sie wohl sehr fremden Land benötigte. Denn ich nahm an, dass sie unter der Entwurzelung litt, die sie durch den Umzug mit ihrer Familie in ein fremdes Land erlebt hatte.
Als wir nun während unseres Rundgangs das Zimmer betraten, erblickte ich auch als erstes Frau Schneyder, die – groß und kräftig – auf ihrem Bett saß, sich hin und her wiegte und in einer Art Singsang wiederholte: „Es muss heraus, es muss heraus ..."
Doktor Brenner trat auf sie zu. „Lassen Sie’s nur raus", ermunterte er lächelnd.
Frau Schneider stellte ihre wiegenden Bewegungen ein, würgte ... und ein Schwall Erbrochenes klatschte auf die Füße des Chefarztes. Ganz der Situation Herr trat er einen kleinen Schritt zurück und kommentierte : „Aha, nicht die Psyche, endlich mal was Materielles."
Dieses Erlebnis schien das Eis für Frau Schneyder gebrochen zu haben. Sie kam am gleichen Nachmittag in die Werkgruppe und begann mit einer Arbeit an einem Stäbchenweber, einem einfachen Gerät zum Weben. Ich erließ ihr die Teilnahme am Wahrnehmungs- und Gedächtnistraining, denn sie half in dieser Zeit lieber dem Pflegepersonal auf der Station, legte die Wäsche zusammen oder räumte die Spülmaschine ein. Nach drei Wochen Aufenthalt in der Klinik hatte sich ihr Gesundheitszustand so weit gebessert, dass sie nach Hause entlassen werden konnte. Zu einer weiteren Behandlung ist sie nie mehr gekommen. Um so besser – es war wohl nicht nötig.
2. Koprolalie
Station 1 beherbergte überwiegend depressiv Erkrankte und wurde allgemein „Depressivenstation" genannt.
Es befindet sich dort aber ein Sammelsurium verschiedener Krankheitsbilder: denn außer Depressionen sind auch Schizophrenie, Angststörungen, Anpassungsstörungen und Manie vertreten, um nur einige zu nennen.
Das ergotherapeutische Angebot der gerontopsychiatrischen Abteilung beinhaltet Kreative Werktherapie, Bewegungsgruppe, Musikgruppe und Wahrnehmungs- und Gedächtnistraining. Mir persönlich liegt das Wahrnehmungs- und Gedächtnistraining, kurz WuG, am meisten. Das Wahrnehmungs- und Gedächtnistraining beinhaltet relativ leichte Aufgaben, wie Sprichwörter ergänzen, Gegenteile benennen oder Volksliedermelodien erkennen, sodass auch eher „schwache" Patienten am Angebot teilnehmen können. Man kann damit fast alle Patienten der Station therapeutisch erreichen.
Was mir aber bislang noch nicht begegnete, war eine „Koprolalie, die krankhafte Neigung zum Aussprechen unanständiger, obszöner Wörter. Bekannt ist, dass sich das Ausrufen unflätiger Begriffe und das Fluchen als Begleitsymptom neurologischer Erkrankungen beobachten lässt. Beispiele sind das „Tourette-Syndrom
, bestimmte Formen der Demenz, Gehirnentzündung, Hirntumoren, Aphasie oder schwere Schädel-Hirn-Traumata.
Eines Tages wurde uns jemand mit besagtem Symptom als Teilnehmer an der Ergotherapie angekündigt. Die Verdachtsdiagnose: eine beginnende Demenz.
Der alte Herr mit besagtem Symptom tauchte eines Morgens im Stationsbetrieb auf, zeigte sich sehr getrieben, lief im Flur hin und her und verhielt sich insgesamt sehr unruhig. Zwischendurch hörte man ihn laut und äußerst schrill ausrufen: „Dreckschwein!" Weitere Symptome zeigten sich nicht.
Die anderen Anwesenden, meist Damen, waren entsetzt über die Unruhe und das Schreien des Neuen. Schon bald versammelten sie sich alle vor dem Zimmer des Stationsarztes, mit der Bitte, ihn sprechen zu wollen. Wie mir später zu Ohren kam, baten alle um ihre baldige Entlassung. Offensichtlich fürchtete man sich vor dem Gebaren des Schreiers.
Eine außerordentliche Stationsversammlung wurde anberaumt, in der man die Patienten über das Krankheitsbild des Neulings aufklärte. Der Koprolalie-Patient erhielt Gelegenheit sich vorzustellen, und bald kehrte wieder Ruhe ein.
Der unfreiwillige Unruhehestifter – nennen wir ihn Herrn Abel – lebte sich schnell auf der Station ein. Die Mitpatienten erlebten ihn als netten, freundlichen und den Schwächeren gegenüber sehr hilfsbereiten Mann. Dies führte dazu, dass alle für Herrn Abel sehr viel Mitgefühl empfanden, da der Gepeinigte unter seinem lauten Rufen sehr litt. Es lag ihm sehr am Herzen,