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Stadt der Türme: Die Garde
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eBook388 Seiten5 Stunden

Stadt der Türme: Die Garde

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Über dieses E-Book

Ihr 19. Geburtstag verändert Kiras gesamtes Leben.

Nicht nur, dass sie genau an diesem Tag ihre einzige noch lebende Verwandte verliert, sondern auch, dass ihre einzige Überlebenschance darin besteht, der verhassten Garde beizutreten. Die Garde – die Menschen, die ihre Eltern auf dem Gewissen haben.

Kira sieht in ihrem Unglück die Möglichkeit, sich endlich für ihre Familie zu rächen.

Doch kann sie es als einfache Dienerin mit den besten Kämpfern der Stadt aufnehmen?

Kira verwickelt sich in ein Spiel aus Macht, Intrigen und Liebe.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum23. Jan. 2020
ISBN9783748727163
Stadt der Türme: Die Garde

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    Buchvorschau

    Stadt der Türme - Sandra Berger

    Kapitel 1

    Kiras Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust. Zitternd drückte sie sich in ihrem schlichten grauen Kleid gegen die Wand und versuchte, die beruhigende Frische des Morgens tief in ihre Lungen zu ziehen. Das Geräusch zweier Giganten, die sich bekämpften, löste in ihr eine altbekannte Angst aus. Es lag schon etliche Jahre zurück, doch sie sah vor ihrem inneren Auge jedes Mal, wie die mächtige Pranke in das Dach ihres Hauses schlug.

    Die Nebelschwaden lösten sich allmählich auf und nahmen den leichten Schleier des Morgens mit. Bald wird hier alles unter einer weißen Schneedecke liegen, dachte Kira, als ihr Puls wieder unter Kontrolle war und der Blick über den kleinen Kräutergarten schweifte. Während die Adligen die letzten Sonnentage vor dem Wintereinbruch genossen, musste sie mit den anderen Dienern die Vorbereitungen für das große Festmahl erledigen. Kira hasste dieses halbjährliche Fest, an dem die gutsituierten Adligen im Überfluss aßen und tranken. Niemand von denen verlor auch nur einen Gedanken an die Armen in der Stadt, die von der Hand in den Mund lebten. Für sie waren Bettler nur Abschaum, und Abschaum wurde nicht beachtet.

     Kira nahm einen tiefen Atemzug und bückte sich zu den Kräutern zu ihren Füßen. Der liebliche Geruch von Basilikum drang in ihre Nase. Vorsichtig zupfte sie ein Blatt ab und verrieb es in ihren Fingern. Sie liebte das Aroma seines ätherischen Öles. Im Geheimen hatte sie einmal von diesem wundervollen Kraut probiert. Der unverwechselbare Geschmack hatte sie seit dem Tag nicht mehr losgelassen.

    »Bist du immer noch nicht fertig?« Marianne – der Hausdrache, wie sie unter dem jüngeren Personal genannt wurde – stand in der Tür und warf ihr einen griesgrämigen Blick zu. »Nicht einmal die einfachste Aufgabe kannst du gewissenhaft ausführen!« Ihre Haare waren wie bei allen Dienern zu einem Dutt hochgesteckt. Doch im Gegensatz zu Kira trug sie an ihrem schlichten grauen Kleid schwarze Applikationen, welche sie als höhergestellte Haushälterin kennzeichnete.

    Marianne schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ich habe es deiner Tante mehrmals gesagt; sie ist viel zu nett zu dir! Was du brauchst, ist eine härtere Hand! Wärst du meine Nichte, wäre ich nicht so gütig zu dir! Bei mir würdest du das lernen, was solche Mädchen wie du brauchen – Disziplin!« Kira blieb stumm, wie immer, wenn Marianne ihr vor Augen führen wollte, wie schlecht sie sich benahm. Dabei war es offensichtlich, dass der Hausdrache sie hasste. Was der Grund dafür war, wusste Kira allerdings nicht. Womöglich lag es daran, dass ihre Tante als gleichhohe Hausangestellte die Erlaubnis der Baronin erhielt, die verwaiste Nichte zu sich zu holen. Obschon das neun Jahre zurücklag, war ihr Marianne die ganze Zeit nur mit Argwohn gegenübergetreten.

    »Du hast genau noch eine Minute, um deine Arbeit zu erledigen. Danach wirst du mit Mimi auf den Markt gehen, um die bereitstehenden Äpfel zu holen.« Ohne ein weiteres Wort drehte sich Marianne auf dem Absatz um und rauschte wieder ins Innere. Kira verzog grimmig das Gesicht, machte sich aber eilends daran, die Kräuter für die Köchin zu sammeln. Nicht, dass der Hausdrache auf die Idee kam, ihr wieder mal das Abendessen zu streichen. Mimi und sie waren Kandidaten dafür. Sie konnten sich noch so anstrengen - wenn Marianne einen schlechten Tag hatte, erfand sie einen x-beliebigen Grund und strich ihnen kurzerhand die Mahlzeit.

    Die junge Madlen, welche von allen nur Mimi genannt wurde, war erst seit zwei Wochen im Haus der Baronin tätig. Mit ihren 12 Jahren erinnerte sie Kira an ihre Anfänge. Sie war etwas jünger gewesen, als sie das erste Mal dieses pompöse Haus betrat und keine Ahnung davon hatte, was es hieß, eine Dienerin zu sein. In den darauffolgenden Wochen musste sie lernen, wie man Adlige bediente, einen Hofknicks ausführte und sich möglichst unsichtbar machte. Obwohl sie, im Gegensatz zu Mimi, über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte, fand Marianne immer etwas zu kritisieren. Im Unterschied zu heute hatten ihr früher die Nörgeleien sehr zugesetzt und sie oft zum Weinen gebracht. Diesen Erniedrigungen wollte sie Mimi um keinen Preis aussetzen.

    ***

    Der oberste Stadtvorsteher saß in einem schwarzen Anzug mit lilafarbigen Applikationen an einer langen mahagonifarbenen Tafel. Neben ihm saß eine wunderschöne langhaarige Frau, die ebenfalls mit einer edlen violetten Robe gekleidet war. Reste des eingenommenen Frühstücks standen noch auf dem Tisch, die gerade von zwei Dienerinnen leise und rasch abgeräumt wurden. Jeffrey, ein großgewachsener junger Mann im Alter von 23 Jahren, stand mit bebendem Oberkörper neben dem Tisch und taxierte seinen Vater wutentbrannt. Er besaß hohe Wangenknochen und kurze braune Haare, welche die Verwandtschaft zu seinem Gegenüber unmöglich ausschlossen. Jeffreys Kleidung war ebenfalls schwarz mit violetten, eingenähten Einsätzen, aber nicht so prunkvoll wie die seines Vaters. Wütend drückte er seine zu Fäusten geballten Hände so stark zusammen, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sein Gesicht war vor Wut rot gefleckt.

    Der oberste Stadtvorsteher grinste hämisch und musterte seinen Sohn mit einem abschätzigen Blick. »Du bist wirklich enttäuschend, Sohn!« Das letzte Wort betonte er besonders abwertend. Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Denkst du etwa, es würde deine Energie erhöhen, wenn du die Gefangenen aussaugst?« Die Frau neben ihm kicherte amüsiert. Jeffrey sah sie vernichtend an, was sie aber mit einem kalten, geringschätzigen Blick quittierte. »Du vergisst dabei etwas Schwerwiegendes!« Der Vater stand auf und ging langsam auf ihn zu. Er wirkte majestätisch und man konnte seinen hohen Status allein schon an seinen Gang erkennen.

    »Die Gefangenen gehören mir und du vergreifst dich an meiner Ware!« Mit einer kurzen, schnellen Bewegung seiner Finger beförderte er Jeffrey an die dahinterliegende Mauer, wo er mit einem lauten Knall gegen die Wand prallte. Stöhnend rappelte er sich gleich darauf wieder hoch und warf seinem Erzeuger einen vernichtenden Blick zu. »Über Jahre hast du dich an ihnen bereichert«, sprach der Stadtvorsteher mit fester Stimme weiter und ging dabei durch den Raum. »Denkst du wirklich, ich wäre so dumm und hätte es nicht bemerkt?« Er sah zu seiner Frau hinüber. »Ich wollte dich dafür züchtigen, doch meine treue Gemahlin war da anderer Meinung.« Er lächelte boshaft. »Die Idee, aus dem Ganzen ein Spiel zu machen und zu schauen, was du mit meiner Ware anstellst, kam von deiner Mutter.«

    »Stiefmutter!«, zischte Jeffrey schäumend vor Wut. Der Stadtvorsteher ging mit schnellen Schritten auf seinen Sohn zu und legte ihm seine starke Pranke ans Kinn. »Wage es nie wieder, mich zu unterbrechen! Wenn ich spreche, dann hast du gefälligst deinen Mund zu halten!« Er schrie laut und ließ seinen rasenden Zorn durch den Raum donnern, dass das Inventar erzitterte.

    Jeffrey presste die Lippen zusammen und funkelte wutentbrannt seinen Vater an. Er stand kurz vor dem Explodieren.

    »Ich weiß, du denkst, wenn du ihre Fähigkeiten raubst, würde es dich irgendwann stärker machen. Doch das wird nie geschehen!« Der Stadtvorsteher musterte ihn herablassend. »Ich muss zugeben, es bereitete mir all die Jahre eine perfide Freude, dieses Spiel zu beobachten. Zu sehen, wie du süchtig nach ihrer Energie wurdest und ungezügelt deiner Gier nachgabst. Du bist wie ein Junkie, der die nächste Dröhnung braucht.« Jeffreys Stiefmutter kicherte abfällig. »Aber nun ernsthaft, Jeffrey.« Sein Vater lächelte belustigt. »Bist du wirklich der Meinung, du könntest mit deren Kraft irgendwann stärker werden als dein alter Herr? Ist es das, was du damit bezweckst, indem du sie bis zum letzten Tropfen aussaugst?«

    »Wer weiß?«, fauchte Jeffrey wütend zwischen zusammengepressten Zähnen.

    Sein Vater schnalzte abwertend mit der Zunge. »Du willst ausgerechnet mir das Wasser reichen?« Er lachte kurz auf, machte dann aber eine erneute Bewegung mit den Fingern, worauf sich sein Sohn keuchend an die Kehle griff und nach Luft rang. »Du bist eine Null, Jeffrey! Du warst immer ein Nichtsnutz und wirst es immer bleiben! Du bist kein fähiger Hexer, sondern ein verwöhnter, größenwahnsinniger Junge, der nicht einmal seinem Vater gewachsen ist!« Er machte nochmals eine Bewegung, wodurch Jeffreys Gesicht rot anlief und er laut japste. »Diese Stadt braucht keinen jähzornigen Junkie wie dich!« Er trat näher zu seinem Sohn, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Also benimm dich, oder ich werde derjenige sein, der dich aussaugt!« Er machte eine erneute Bewegung mit den Fingern, wodurch sich sein Zauber auflöste.

    Keuchend beugte sich Jeffrey vor, um neuen Sauerstoff in seine Lungen zu saugen.

    »Mylady?« Der Stadtvorsteher streckte charmant die Hand nach seiner Gattin aus, die ihm entgegenkam und ihm ihre zarten Finger reichte. Er gab ihr einen galanten Handkuss und führte sie mit einem letzten, verächtlichen Blick auf seinen nach Luft japsenden Sohn aus dem Speisezimmer.

    ***

    Mit einer großen Menge Kräutern trat Kira gehetzt in die moderne Küche. Im Ofen brutzelten bereits verschiedene Braten, die außerordentlich gut rochen, für das große Fest der Adligen. Gleichzeitig schälten am Tisch daneben die Küchenhilfen fleißig eine Kartoffel nach der anderen.

    Kira missgönnte den Küchenmägden ihre Arbeit nicht. Gemüse für 200 Gäste zu rüsten war kein Zuckerschlecken. Zum Glück hatte sich ihre Tante vor neun Jahren dafür eingesetzt, dass sie beim Hauspersonal unterkam. Auch wenn putzen, Betten machen und servieren nicht wirklich zu ihren Lieblingstätigkeiten zählte, war es allemal besser, als wunde Finger vom Schälen zu kriegen.

    Olga, eine untersetzte ältere Köchin, stand am Herd und überwachte die Küchenarbeiten. Auch wenn sie einen strengen Blick draufhatte, war sie die Freundlichkeit in Person. Im Gegensatz zum Hausdrachen schätzte Olga Kiras schnelle Auffassungsgabe und ihre genaue Arbeit.

    »Man hat mir ausgerichtet, du seist diejenige, welche die Äpfel holt.«

    Kira nickte. »Ja, genau.«

    »Wenn du Mimi suchst, findest du sie bei deiner Tante im Ballsaal.« Die Köchin nahm die Kräuter entgegen, die ihr Kira überreichte. »Schau lieber zu, dass du dich beeilst. Sie hat heute schlechte Laune. Sonst streicht sie dir noch das Mittagessen.« Kira nickte zustimmend. »Sie hat es mir schon angedroht!« Olga rollte kopfschüttelnd mit den Augen. »An euch jungen Dingern ist ja jetzt schon kaum was dran!« Sie kniff ihr sanft in den Oberarmmuskel. »Wenn sie euch noch weitere Mahlzeiten streicht, fallt ihr noch ganz vom Fleisch!« Die Köchin schnaubte verächtlich.

    Marianne stand in der Gunst von Olga ebenfalls ganz weit unten. Nur konnte sie ihr das nicht zeigen, ohne ihre Anstellung zu verlieren. »Los, ab nach oben! Sonst macht sie ihre Drohung wirklich noch wahr.« Sie steckte Kira augenzwinkernd heimlich eine Möhre zu.

    »Danke.« Die junge Dienerin lächelte und huschte schleunigst aus der Küche, wobei sie sich hungrig das Stück Gemüse in den Mund stopfte.

    Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang Kira die Treppe hinauf ins Erdgeschoss. Oben angekommen strich sie sich ihr graues Dienstkleid glatt, kontrollierte ihren Dutt, neigte den Kopf leicht zum Boden und ging mit leisen, gezielten Schritten den Flur entlang zum Ballsaal. Die erste Regel, die sie als Dienerin lernte, war, in den Räumlichkeiten der Herrschaften unsichtbar zu sein. Nicht, dass das tatsächlich nötig war. Die Adligen beachteten ohnehin nur ihresgleichen. Personen, die der untersten Kette angehörten – damit waren alle Diener und Küchenhelfer gemeint – wurden keines Blickes gewürdigt.

    Leider aber war es beim Baron anders. Er hatte trotz allem von ihr Notiz genommen und warf ihr seit geraumer Zeit im Verborgenen immer wieder lüsterne Blicke zu. Zum Glück blieb das bei Kiras Tante nicht unbemerkt. Um ihre Nichte davor zu schützen, eine Bettgespielin zu werden, hatte sie Kira Aufgaben zugeteilt, die sie nicht mit ihm alleine ließ. Wenn beide Herrschaften anwesend waren, würdigte der Baron sie keines Blickes. Die Angst, vor seiner Frau auf frischer Tat ertappt zu werden, war offenbar zu groß.

    Momentan hatte sie zum Glück nichts zu befürchten. Wenn das halbjährliche Fest anstand, hielten sich die Herrschaften den ganzen Tag über in ihren Gemächern auf, um sich für den Abend herauszuputzen. Wozu man dafür allerdings einen geschlagenen Tag brauchte, verstand Kira nicht ganz. Eine der anderen Mägde hatte ihr erzählt, dass sich die Baronin an Festtagen eine Wellnessbehandlung nach der anderen gönnte, um möglichst frisch und jung auszusehen. Nach Kiras Meinung war das jedoch vergeudete Zeit. Den überheblichen Gesichtsausdruck und die stets zusammengepressten Lippen verliehen ihrer Herrin nicht gerade ein jugendliches Aussehen.

    Kira beherrschte sich allerdings, ihre Meinung laut auszusprechen. So etwas zu sagen, führte zur augenblicklichen Kündigung; doch niemand wollte auf der Straße landen und eine Obdachlose werden.

    Der Ballsaal, der bei Festlichkeiten zum Speisesaal umgewandelt wurde, befand sich auf der Südseite des Hauses und besaß mehrere große, gebogene Kastenstockfenster, damit möglichst viel Sonnenlicht eindrang. Kostbare Wandbehänge bedeckten die Wände, während sich goldverzierte Tische, einer nach dem anderen, der Länge nach aufreihten. Mimi und zwei weitere Dienerinnen rieben mit einem weichen Tuch jedes einzelne Glas nach. Da jeder Gast mindestens drei davon bekommen würde, mussten sie 600 Gläser auf Hochglanz polieren.

    Kira verzog kurz den Mund, als sie über die gedeckten Tische schaute. Nein, ihre Kolleginnen waren wirklich nicht zu beneiden.

    Als sie über den hochpolierten Parkettboden schritt, sah ihre Tante auf und schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. Bevor sie sich ihrer Nichte zuwandte, rückte diese allerdings noch mit kritischem Blick einen Stuhl in die korrekte Position.

    »Wir haben uns heute ja noch gar nicht gesehen.« Sie nahm Kira in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Alles Gute zu deinem 19. Geburtstag, Kira.«

    »Danke. Fühlt sich aber genau gleich an wie mit 18.«

    Ihre Tante lächelte. »Du Glückliche! In meinem Alter wäre ich froh, wenn mir nicht mit jedem Jahr mehr auf dem Buckel die Knochen schmerzten.«

    »Das liegt nicht am Alter, sondern daran, dass du zu viel arbeitest!«

    Ihre Tante betrachtete sie müde. »Ja, da hast du leider recht.« Sie senkte die Stimme. »Aber wie du weißt, muss ich diese Stelle behalten. Ich muss dich beschützen; egal, wie hart es hier ist.«

    Kira fühlte sich wie immer schuldig, wenn sie das sagte. Ihre Tante sah es als Pflicht an, alles Mögliche zu tun, um sie zu beschützen. Sie hatte ihrer verstorbenen Schwester versprochen, dass niemand je erfuhr, dass ihre Nichte ein Mensch mit besonderen Fähigkeiten war. Insgeheim wünschte sich Kira aber nichts sehnlicher, als einfach normal zu sein. Dann hätte ihre Tante die Stelle bei den Baronen schon längst aufgeben können und sich eine leichtere Arbeit gesucht. Doch das Risiko und die Angst, dass an einer anderen Stelle jemand ihre besonderen Fähigkeiten entdeckte und sie den Gardisten auslieferte, war einfach zu groß.

    »Unser Leben wäre viel leichter, wenn ich normal wäre«, flüsterte Kira bekümmert und trat näher, damit die Dienerinnen ihre Unterhaltung nicht mitkriegten. Die Tante strich ihr zärtlich über die Wange. »Du bist, was du bist, Kira. Alles hat einen Grund. Wir können ihn noch nicht sehen, doch irgendwann wirst du ihn erkennen.« Sie lächelte. »Deine Eltern wären sehr stolz, wenn sie sehen könnten, was für eine wundervolle junge Frau aus dir geworden ist.«

    Kira fühlte tiefe Wehmut und den altbekannten Zorn in sich, wenn sie an ihre verstorbenen Eltern dachte – sie hatte sie viel zu früh verloren!

    »Kann ich dir denn eigentlich irgendwie helfen? Ich nehme nicht an, dass du gekommen bist, um die Gläser zu polieren.«

    Kira schüttelte hastig den Kopf. »Glaube mir, ich beneide keine Einzige von denen!« Sie schaute kurz zu den anderen hinüber. »Ich muss mit Mimi Äpfel auf dem Markt holen.«

    Ein Anflug von Angst huschte über das Gesicht ihrer Tante. Sie mochte es nicht, wenn ihre Nichte das Haus verließ, um Besorgungen zu erledigen. Sie fürchtete jedes Mal, auf der Straße könnte jemand erkennen, wie besonders Kira war. Sie hatte schon Schwester und Schwager verloren - sie wollte nicht auch noch ihre letzte Angehörige verlieren.

    »Ich kann nicht fassen, dass dich Marianne schon wieder auf einen Botengang schickt! Ich werde mit ihr sprechen müssen!«

    »Du weißt doch, dass das nichts nützt«, widersprach Kira. »Was Besorgungen angeht, kann der Hausdrache über uns alle verfügen, wie sie will! Wenn du dich da einmischst, dann streicht sie mir aus Wut nur wieder die Mahlzeiten.«

    »Das ist auch so eine Sache, die einfach nicht geht!«, entgegnete ihre Tante erzürnt.

    »Egal, was du tust – du kannst es nicht ändern. Die Küche ist nun mal nicht dein, sondern ihr Aufgabengebiet.« Kira legte ihre Hand auf die ihrer Tante. »Und zudem würdest du mir meine einzige Freude nehmen, die ich habe. Du weißt, dass ich Zeit außerhalb dieses Hauses brauche. Ohne sie würde ich innerlich sterben!«

    Ihr Gegenüber nahm einen tiefen Atemzug und nickte ernst. »Ich weiß.«

    »Keine Angst, ich werde mich unauffällig bewegen, so wie du es mir beigebracht hast. Niemand wird mich auch nur eines Blickes würdigen.«

    Die Tante gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn. »Ich möchte nur, dass du auf dich achtgibst.« Kira nickte. »Das werde ich.«

    Ihre Tante schenkte ihr ein zärtliches Lächeln, bevor sie sich zu den Dienerinnen wandte. »Mimi!« Ein junges blondes Mädchen mit Engelsgesicht beendete beim Klang ihres Namens sofort ihre Arbeit und eilte herbei. »Du gehst mit Kira auf den Markt, um Äpfel zu holen.« Mimis Augen leuchteten. »Natürlich.« Sie warf Kira einen vielsagenden Blick zu und verzog den Mund zu einem Lächeln. Kira grinste ebenfalls, denn sie wusste genau, was ihre junge Freundin dachte: Endlich konnten sie wieder mal ihr Spiel spielen!

    Kapitel 2

    Der oberste Stadtvorsteher saß hinter seinem mächtigen, mit Mahagoniholz verzierten, dunklen Schreibtisch und tippte mit seinem Kugelschreiber auf ein leeres Blatt Papier. Er starrte dabei gedankenversunken auf die Tischplatte. Davor stand stumm ein in Dunkelblau gekleideter, junger Mann. Seine großen dunklen Augen ruhten ununterbrochen auf dem Stadtvorsteher. Sein Gesicht wirkte ruhig und zeigte keinerlei Gefühlsregung. Lediglich an seinen malmenden Kieferknochen konnte man seine innere Anspannung erkennen.

    »Ich weiß nicht, was ich mit euch tun soll«, erklärte der Stadtvorsteher mit seiner tiefen Stimme, als er zum Anführer der Gardisten hinübersah. »Keine einzige Person in den letzten drei Wochen! Das ist enttäuschend! Sehr enttäuschend!«

    »Da habt ihr bestimmt recht, oberster Stadtvorsteher«, versuchte der junge Mann zu erklären. »Aber bedenkt bitte, wir haben erst kürzlich unseren Freund verloren.«

    »Willst du damit sagen, dass das eure Arbeit beeinträchtigt?«

    Der Gardist presste kurz verärgert die Lippen zusammen, bevor er mit ruhiger Stimme antwortete. »So etwas ist vollkommen normal.«

    »Ach ja?« Sein Vorgesetzter musterte ihn mit einem abschätzigen Blick und stand langsam auf. Mit majestätischen Schritten ging er auf den Gardisten zu und blieb vor ihm stehen. »Eure Aufgabe besteht darin, meine Stadt von Menschen mit besonderen Fähigkeiten zu säubern. Mich interessiert es nicht, ob einer von euch erst kürzlich gestorben ist. Der frühe Tod ist das Risiko eures Berufes – und das wisst ihr ganz genau! Oder irre ich mich, Daniel?« Der Gardist schüttelte wortlos den Kopf, wobei er die Kiefer noch stärker zusammenpresste. Der Stadtvorsteher taxierte ihn mit seinen kalten Augen. »Ich führe und schütze diese Stadt – meine Stadt! Und ich akzeptiere nicht, dass ihr eure Arbeit wegen einem lächerlichen Todesfall vernachlässigt!«

    Daniels Brustkorb hob und senkte sich immer schneller. Seine Mundwinkel zuckten vor Wut, was er aber zu unterdrücken versuchte. Zornig hielt er seinen Blick starr auf den leeren Sitz gerichtet.

    »Bring mir endlich das, was ich will! Denke daran, du und deine Familie«, er sprach die beiden letzten Worte mit einer tiefen Abschätzigkeit aus, »werden dadurch davor verschont, in der Gosse zu landen und zu verhungern.« Er tigerte wie ein hungriger Löwe um Daniel herum. »Bringst du mir aber nicht endlich das, was ich schon lange begehre ...«, er packte den Anführer grob am Kinn und drehte ihm den Kopf, damit der Gardist gezwungen war, ihn anzusehen, »... werde ich euch eures Amtes entheben und euch der Gosse überlassen! Jeden Einzelnen von euch!«

    ***

    Madlen strahlte über beide Ohren, als sie mit Kira den Dienstboteneingang ansteuerte. Sie liebte es genauso wie ihre Freundin, durch die Straßen zu ziehen, um Stände, Waren und Menschen zu betrachten. Jedes noch so kleine Detail war für die beiden jungen Frauen wie ein bescheidenes Geschenk.

    »Los, beeil dich!« Kira trieb Mimi zur Eile an, als sie durch die Gänge eilten. Sie wollte möglichst schnell das Haus verlassen, bevor sie Marianne über den Weg liefen. Wegen des Gesprächs mit ihrer Tante hatten sie schon viel zu viel Zeit verloren.

    Als Kira dabei war, die Klinke des Dienstboteneinganges hinunterzudrücken, spürte sie eine knochige Hand auf ihrer Schulter. Sie kannte diesen eisigen Griff und ahnte Böses. Zermürbt biss die junge Dienerin die Kiefer zusammen und drehte sich langsam zu Marianne um. Jedes Mal, wenn sie die Hand des Hausdrachens spürte, hatte sie das Gefühl, ihre herablassende Art würde nach ihrem Herz trachten, um es mit ihrer Kälte zu erdrücken.

    Mimis Blick glitt ängstlich zwischen den beiden Frauen hin und her. Als ihr Marianne allerdings einen vernichtenden Blick zuwarf, senkte sie demütig die Lider und starrte betrübt auf den Boden.

    »Ich hoffe für dich, dass es nicht nach dem aussieht, was ich denke«, sagte die Haushälterin überheblich. Nach was sieht es denn aus?, hätte Kira am liebsten zynisch geantwortet, unterließ es aber. Sie wollte nicht schon wieder auf eine Mahlzeit verzichten. »Wir sind auf dem Weg zum Markt.«

    Marianne reckte das Kinn in die Höhe und musterte Kira abschätzig. Man konnte es ihr ansehen; sie genoss es förmlich, sie zu schelten. »Ich hatte dir eine einfache Aufgabe erteilt. Dem Anschein nach ist sie allerdings viel zu schwierig für dich. Aber was habe ich auch von einer verwaisten Göre wie dir erwartet!« Kira biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat. »Du bist Abschaum und gehörst in meinen Augen nicht in dieses edle Haus! Du und deine Tante sind lästiges Gesindel!«

    Mimi presste unwohl ihre Hände aneinander. Ihre Freundin hingegen straffte ihre Schultern und warf Marianne einen wütenden Blick zu.

    »Dein Schneckentempo kostet dich das Abendessen.« Kiras Augen loderten vor Zorn. »Und dich ebenso, Mimi.« Erschrocken sah Madlen mit offenstehendem Mund auf. Selbstgefällig quittierte der Hausdrachen ihren geschockten Ausdruck mit einem fiesen Lächeln. »Mimi kann nichts dafür!«, fauchte Kira außer sich. Marianne hob erzürnt eine Augenbraue. »Hüte deine spitze Zunge Kira. Oder willst du meine Anordnung etwa in Frage stellen?«

    »Ihr wurde doch bereits wegen dem Missgeschick gestern das heutige Mittagessen gestrichen. Sie kann doch nicht fast den ganzen Tag hungern!«

    »Ach, nicht?« Der Hausdrache lächelte spöttisch. »Dann wirst du bestimmt nichts dagegen haben, ihre Strafe zu übernehmen!« Mimi sah entsetzt zu Kira, die immer wütender ihre Vorgesetzte anfunkelte. »Für dich gibt es erst wieder morgen etwas zu essen! Und wenn du nicht noch weitere Mahlzeiten auslassen willst, dann geht ihr jetzt schnellstens zum Markt!«

    Kira kochte vor Wut. Zornig presste sie ihre bebenden Lippen aufeinander. Sie hätte alles dafür gegeben in diesem Moment auszuholen und Marianne die Faust in den Magen zu rammen. Doch sie wusste, dass diese Handlung zur augenblicklichen Kündigung führen würde; und das konnte sie sich nicht erlauben.

     »Lass uns gehen, Mimi«, zischte sie zerknirscht. Mit zu Fäusten geballten Händen drehte sich Kira um und riss zornig die Tür auf. Sie musste hier raus, oder sie würde augenblicklich platzen!

    ***

    Henriette, eine dünne, 33-jährige Frau mit einem zierlichen Gesicht und kinnlangen, braunen Haaren, saß auf Jeffreys Bett und blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift. Das Zimmer besaß große, helle, lichtdurchflutete Fenster und in ein helles Blau getauchte Wände. Die pompöse Einrichtung ließ darauf schließen, dass jemand Wohlhabendes in diesem Raum hauste. Neben dem Bett waren auch Schrank und Schreibtisch aus edlem Holz, welches mit Blattgold verziert war.

    Henriette schaute verblüfft auf, als Jeffrey frustriert ins Zimmer kam und die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss warf.

    »Alles in Ordnung?«

    »Sehe ich so aus?«, fauchte er mit heiserer Stimme und strich sich über den schmerzenden Hals.

    »Hat er dich wieder malträtiert?« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Dein Vater ist ein egozentrischer, kalter Mann! Ich hasse ihn!«

    Jeffrey ließ sich zornig in einen Sessel neben dem Bett plumpsen. »Was willst du überhaupt hier? Du weißt, ich mag es nicht, wenn du ungefragt in meinem Zimmer herumsitzt.«

    Die Seherin ließ den kleinen Rüffel unbeachtet und erhob sich mit einem süffisanten Lächeln. »Ich bringe gute Nachrichten!« Sie ging zu ihm hinüber.

    »Ach ja?«, konterte er sarkastisch. »Bringst du meinen verfluchten Vater um? Das ist nämlich das Einzige, was mir momentan durch den Kopf schießt.«

    »Nicht ICH werde ihn töten, mein Lieber, sondern bald du!« Sie grinste geheimnistuerisch und kniete neben den Sessel, damit sie mit ihm auf Augenhöhe war. »Es ist so weit!«, flüsterte sie verschwörerisch. »Heute ist ihr 19. Geburtstag und ihre Macht erwacht endlich!«

    Jeffrey richtete sich ruckartig kerzengerade auf. »Es ist so weit?«

    »Ja.« Sie lächelte. »Bald beginnt dein neues Leben!«

    Freudig begann er zu lachen und nahm sie in den Arm. »Und du bist dir ganz sicher?« Sie nickte. »Ja, hundertprozentig!«

    Er lachte erneut und lehnte sich zurück in den Sessel, wobei er gedankenversunken an die gegenüberliegende Wand starrte. »Ich werde ihn vernichten. Ihn und meine verfluchte Stiefmutter!« Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Ich sehe es schon vor mir, wie sie mir zu Füßen kriechen und betteln, dass ich sie am Leben lasse. Doch das tue ich nicht! Ich werde ihnen zusehen, wie sie erbärmlich um ihr Leben kämpfen und langsam an ihrem eigenen verfluchten Blut ersticken!« Er lachte boshaft, wandte sich aber mit einem angespannten Ausdruck abrupt zu der Seherin. »Hast du dich um die Tante gekümmert?«

    »Ja. Eine Vertraute hat ihr unbemerkt das Gift in ein Getränk geträufelt.«

    »Und du bist dir sicher, dass Kira es mit ihren Fähigkeiten nicht bemerkt?«

    »Keine Angst. Dieses Gift ist etwas ganz Außergewöhnliches. Nicht einmal sie ist in der Lage, es zu erkennen!« Die Seherin lächelte hämisch. »Glaube mir, Kira hat keine Ahnung, was auf sie zukommt.«

    Jeffrey rieb sich die Hände. »Sehr gut! Wenn die Tante erst mal beseitigt ist, fällt sie, wie in deinen Visionen, in ein tiefes Loch!« Er grinste. »Ihre Trauer wird sie direkt in unsere Arme führen – und in ihr Verderben!«

    Er packte die Seherin und drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen. »Dann lass uns den Köder auf den Weg schicken!«

    Kapitel 3

    Eine Weile lang gingen die beiden Freundinnen wortlos nebeneinander her. Die Wut, die Kira jedes Mal verspürte, wenn sie von Marianne erniedrigt wurde, ließ sich langsam nicht mehr unterdrücken. Schließlich war heute ihr Geburtstag, aber das interessierte natürlich niemanden! Wie auch! Diener durften keine Geburtstage feiern; sie hatten jeden Tag hart zu schuften. Während die adligen Kuchen aßen und Dutzende Geschenke erhielten, wurde den einfachen Angestellten dieser Luxus missgönnt.

    In solchen Momenten wünschte sich Kira die Vergangenheit zurück, als sie mit ihren Eltern noch glücklich vereint war. Damals war die Welt noch in Ordnung. Sie war stets beschützt durch Mutter und Vater gewesen, es wurde Geburtstag gefeiert und Menschen mit besonderen Fähigkeiten wurden noch nicht gejagt. Letzteres änderte sich kurz Zeit später, als die Garde nicht mehr zum Schutz der Stadt, sondern für die Jagd auf ihresgleichen abkommandiert wurde. Niemand von ihnen war mehr sicher und alle fürchteten, verraten und ausgeliefert zu werden.

    Eine Mutter als Heilerin und einen Seher als Vater zu haben, war äußerst schlecht; es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand sie verriet. Doch das größte Geheimnis barg Kira selbst und sie durfte auf keinen Fall Aufsehen erregen.

    Sie war nicht nur ein Mensch mit besonderen Fähigkeiten, sondern eine Unique. Eine Person, welche die Talente beider Eltern mit in die Wiege gelegt bekommen hatte - was sie noch kostbarer machte als alle anderen.

    Sie war nicht die einzige Unique in der Stadt gewesen, doch mittlerweile waren die meisten ihrer Art tot. Verraten durch ihresgleichen, um sich an ihnen zu bereichern und eine große Auslieferungsbelohnung zu kassieren.

    Kira wusste, dass sie stärkere Kräfte besaß als normale Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Da sie allerdings nie die Gelegenheit bekam zu erlernen, wie man sie einsetzt, konnte sie auch nicht ihr gesamtes Potential entfalten. Es schlummerte immer noch wie

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