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Mellerts Fälle 3: Der weiße Wal
Mellerts Fälle 3: Der weiße Wal
Mellerts Fälle 3: Der weiße Wal
eBook377 Seiten4 Stunden

Mellerts Fälle 3: Der weiße Wal

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Über dieses E-Book

Die altgediente DC2 tanzte in der Thermik wie eine wildgewordene Wespe, als sie die Nordseeküste anflogen. Es war eben Ebbe. Unter ihnen breitete sich das Wattenmeer aus, durchzogen von unzähligen mäandernden Kanälchen, die das abfließende Wasser fleißig zu jeder Tide neu anlegte. Die Passagiere, wenn sie denn aus dem Fenster sahen und nicht mit dem Füllen gewisser Tüten beschäftigt waren, erkannten den großen Kanal der Maas bei Hoek van Holland vor Rotterdam in dem sich die Sonne spiegelte. Mellert sah auf. Ihm schmerzten Hintern und Rücken von den harten Bänken auf denen sie sitzen mussten, und der Kopf von dem sonoren Gebrumm der Flugzeugmotoren. Aber schließlich saßen sie in einer Militärmaschine, bei der es eher darauf ankam, dass sie in der Luft blieb, wenn es nötig war und die Passagiere nur kurz in ihr verweilten. Es war das dritte Mal seit 1933, dass er nach Deutschland reiste.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum3. Feb. 2022
ISBN9783748720621
Mellerts Fälle 3: Der weiße Wal

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    Buchvorschau

    Mellerts Fälle 3 - Reiner A. Hampusch

    TITEL

    Reiner A. Hampusch

    Mellerts Fälle

     Der Weiße Wal

    Kriminalroman

    Zu diesem Buch

    Zu diesem Buch

    Reiner A. Hampusch setzt mit diesem dritten Buch die Reihe der Mellert-Fälle fort. Wir befinden uns diesmal in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Mellert kehrt aus dem Exil, in dem er für die Amerikaner arbeitete, nach Berlin zurück. Unentschlossen, ob er bleiben soll oder nicht. Doch dann wird er überredet, wieder auf seiner alten Position als Mordermittler in Berlin zu arbeiten. Und obwohl er in den wohlverdienten Ruhestand gehen könnte, sagt er zu und begegnet seinem alten Feind – nicht direkt, doch dessen blutige Spur zieht sich durch ganz Europa. Mellert fühlt sich wie Käpt‘n Ahab, der seinen Weißen Wal suchte und an dem er zerbrach. Doch Mellert ist anders und er hat gute Freunde.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    © 2021 Text und Umschlag Reiner A. Hampusch

    Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

    ISBN: 978-3-XXXX-XXXX-X

    Für meine liebe Frau Gisela

    und für Katrin, die mir die Idee geliefert hatte

    INHALT

    Ende Oktober 1946 - Mellert 10

    September 1945 - Im alten Revier‘ 17

    Der ‚Gärtner‘ 21

    Sommer 1936 - eine ganz private Angelegenheit 24

    Ende September 1946 - wieder auf der Flucht 28

    Ein toller Plan. 35

    Mitte November 1946 - Piet Langhans 41

    3. November 1946 - Eine Laube in Stralsund 44

    3. November 1946 - Mellert 48

    Sommer 1937 - Berlin-Wilmersdorf 53

    Dezember 1946 - Ein neuer Beginn 56

    Juli 1942 - Russland 66

    Mitte Dezember 1946 - Friesenstrasse, Polizeipräsidium 68

    Dezember 1946 – Stralsund, nachts gegen drei Uhr 75

    22. Dezember 1946 – Polizeipräsidium FriesenstraSSe 78

    23. Dezember 1946 - Ein Lager in Spindlersfeld 83

    23. Dezember 1946 - Polizeipräsidium Friesenstrasse 87

    25. Dezember 1946 - Hiddensee 97

    26. Dezember - Friesenstrasse 104

    Am gleichen Tag in Neuendorf, ein Haus hinter den Dünen 109

    28. Dezember - Spuren? 114

    2. Januar – Hiddensee 118

    Zwei Tage später - Kloster 127

    4. Januar 1947 Berlin, FriesenstraSSe 133

    Januar 1947 - mitgegangen, mitgefangen 137

    Januar 1947 - Marie Mellert 143

    Mitte Januar 1947 - Ick sach nüscht, Herr Kriminal! 148

    Drei Tage später - Kopflos 155

    England, Mitte Januar 1947 - Anna 158

    Ende Januar 1947, frühmorgens - Mellert 161

    Ende Januar 1947, am späten Abend - Marie 175

    Anfang Februar 1947 - Reise in den Norden 177

    Februar 1947 - Mellert 186

    Am gleichen Tag - Kalle 191

    Februar 1947 - England, Epsteiner 197

    23. Februar 1947 – In Sachen Schuster-Bande 201

    24. Februar 1947 – Auferstanden - ein unerwarteter Besuch 206

    Ende März 1947 – Berlin, ein Zeuge 213

    März 1947 – Anna, Hiddensee, Kloster 216

    Ende März 1947 - Marie 221

    31. März 1947 -Friesenstrasse 225

    3. April 1947 - Friesenstrasse 228

    3. April 1947 – Stahlnetz 233

    8. April 1947 - Friesenstrasse 242

    April 1947 - Anna 245

    15. April 1947 Friesenstrasse 249

    April - Anna, Hiddensee 253

    21. April 1947 – Friesenstrasse 257

    22. April 1947 - Friesenstrasse 264

    22. April 1947 – Epsteiner 273

    23. April – Friesenstrasse 282

    23. April Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit 285

    Ende April 1947 - Anna – Hiddensee 291

    April 1947 – Friesenstrasse 298

    April 1947 - Marie 306

    3. Mai 1947 - Friesenstrasse 314

    2. Mai 1947 – Haus der Mellerts 318

    3. Mai 1947 – Friesenstrasse 323

    Am gleichen Tag spät nachmittags 331

    3 Mai 1947 Spätabends, Münchmann 338

    5. Mai – Haus der Mellerts 342

    8. Mai 1947 – Friesenstrasse 346

    Epilog 351

    Nachtrag zum Epilog 359

    Aus dem Protokoll der Vernehmung des Helmut Jagoda 366

    Erklärung des Autors 370

    dramatis personae 372

    Verdammter Wal! Hast du immer noch Kraft?

    Herman Melville – Moby Dick

    Ende Oktober 1946 – Mellerts Heimkehr

    Die altgediente DC2 tanzte in der Thermik wie eine wild gewordene Wespe. Sie hatten die Nordseeküste vor Rotterdam erreicht. Es war eben Ebbe. Unter ihnen breitete sich das Wattenmeer aus, durchzogen von unzähligen mäandernden Kanälchen, die das abfließende Wasser fleißig zu jeder Tide neu anlegte. Die Passagiere, wenn sie denn aus dem Fenster sahen und nicht mit dem Füllen gewisser Tüten beschäftigt waren, erkannten den großen Kanal der Maas bei Hoek van Holland vor Rotterdam, in dem sich die schon kalte Oktobersonne spiegelte. Mellert sah auf. Ihm schmerzten Hintern und Rücken von den harten Bänken, auf denen sie sitzen mussten, und der Kopf von dem sonoren Gebrumm der Flugzeugmotoren. Aber schließlich saßen sie in einer Militärmaschine, bei der es eher darauf ankam, dass sie in der Luft blieb, wenn es nötig war, und die Passagiere nur kurz in ihr verweilten. Es war das dritte Mal seit dem Ende dieses Krieges, dass er nach Deutschland reiste. Das erste Mal, im Mai 45 war er mit Epsteiner auf Anschauungsreise in Berlin gewesen. Das taten damals die alliierten Offiziere gerne, wenn sie es sich leisten konnten. Jeder war neugierig, wie der Hort des Bösen aussah, nachdem der ganze Nazispuk untergegangen war. Im Anschluss fuhren sie sogar zu ihrem ehemaligen Chef, Kriminalrat Gebbert, in der Hoffnung, wieder einmal ein bekanntes Gesicht zu sehen. Kommen Sie zurück?, fragte sie Gebbert. Sie hatten nichts versprochen, sich nur angesehen und mit den Schultern gezuckt. Wer weiß, was aus diesem Trümmerhaufen wird, hatten sie unausgesprochen nur mit den Augen gesagt und waren seltsam berührt zurückgeflogen. Der eine wieder nach England, der andere, Mellert, an die belgische Grenze, zu seinem Stützpunkt. Im September 45 wurde die Abteilung ganz nach Berlin verlegt. In dieser Woche schleppte er Akten und Möbel in ein unversehrtes Haus in Zehlendorf, das die Army in Beschlag genommen hatte. Bei der Gelegenheit besuchte er ihr Haus in der Nähe und nahm es ebenfalls in Beschlag. Es stand sowieso leer, weil der zwischenzeitliche Bewohner im April 45 Selbstmord begangen hatte.

    Bevor der Flieger startete, zog ihn der Pilot zur Seite und erklärte, dass sie bis Arnheim fliegen würden und von dort, nach zwei Stunden Aufenthalt, er blickte dabei stolz auf seine nagelneue Beute-Armbanduhr, weiter nach Hannover. Er müsse dann zusehen, wie er nach Berlin weiterkäme. Mellerts Drei-Sterne-General hatte breit gegrinst, ihm auf die Schulter geschlagen und gemeint, dass er es, wie er Mellert kenne, schon schaffen würde.

    Colonel Mellert sah wieder aus dem Fenster. Der Flieger machte eben einen Satz, schien in der Luft zu verharren und fiel dann etliche Meter in die Tiefe, wo er sich wieder abfing. Ein paar dünne Wölkchen flogen am Fenster vorbei. Sein Gegenüber, ein Major, erbrach sich zum fünfundzwanzigsten Male in die Tüte. Mellert befürchtete, dass beim nächsten ‚Ausbruch‘ mehr als nur Magensäure in der Tüte landen würde. Der Major war schon grün im Gesicht. Zum Glück war es in der Militärmaschine so laut, dass er die unangenehmen Geräusche des Reihers nicht hören musste. Er lenkte sich ab, in dem er sich auf das konzentrierte, was von oben zu erkennen war. Und das erfreute Mellert ganz und gar nicht.

    In der niedrigen Oktobersonne sah alles leicht vergoldet aus. Der Hafen von Rotterdam zog jetzt unter ihnen vorbei. Er sah Hafenanlagen, Frachter, die entladen wurden oder gerade ein- oder ausliefen. Schlepper dampften emsig auf dem Kanal und Barkassen brachten Docker und Kranführer an ihre Arbeitsplätze. Es war wieder Frieden, und es gab viel zu tun. Die Ruinen des Hafens waren beiseite geräumt, aber die Spuren der Bombardements waren immer noch zu sehen. Langsam näherten sie sich Rotterdam oder dem, was davon übrig geblieben war. Die gesamte Innenstadt war ein einziger grauer Trümmerhaufen, aus dem der mächtige Turm der Laurenskerk und das Het Schielandshuis trotzig herausragten. Mellerts Herz krampfte sich zusammen. Was er in den Wochenschauen und auf seinen Fahrten hinter der Front in Frankreich und Luxemburg gesehen hatte, sah er nun von oben in seiner ganzen Ausdehnung und Brutalität. Wie mag es erst in Deutschland und Berlin aussehen, fragte er sich und gleichzeitig, was will ich eigentlich dort? Er nahm einen Schluck Whiskey aus einem Flachmann, den er immer mit sich trug, wie sein Notizbuch und eine Leica. Er bot ihn auch seinem Gegenüber an, doch der winkte hektisch mit beiden Händen ab und kotzte ein paar Gramm Magenflüssigkeit in die Tüte. Mellert atmete auf. Dann eben nicht! Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ die letzten Jahre wie einen Film vor sich ablaufen.

    Oh ja, sie hatten Glück gehabt! Einen riesigen Haufen Glück! Er und Marie und seine beiden Kinder! 1933 waren sie auf Kuba gelandet, als Erste Klasse Passagiere. Ein Kaufmann aus Köln mit seiner Familie auf Geschäftsreise. Woher die Papiere stammten, wollte Mellert gar nicht wissen, sie waren echt, nur die Personen dahinter nicht. Dann wurden sie Erste Klasse Flüchtlinge aus Hitlers Deutschland. Die internationalen Beziehungen Hollaenders, Maries Galeristen, halfen, sie abzuklopfen, auf die Frage, ob sie ihnen nutzen könnten. Und das taten sie dann auch. Mellert wollte irgendetwas tun und so kam er über einen Bekannten Hollaenders zur Fremdenpolizei. Er half bei der Registrierung der Flüchtlinge aus Deutschland, derer es von Tag zu Tag mehr wurden. Alles war dabei; politische und rassisch Verfolgte; Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle, Juden. Vor allem Juden, die weiterwollten in die gesegneten USA oder nach Palästina. Mellert registrierte, hörte die Geschichten, die seiner ähnlich waren, er hörte von Verfolgung und Pogromen. Und obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie der Unterdrückungsapparat lief, schätzte er sich glücklich, rechtzeitig dieses Deutschland verlassen zu haben. Es war nicht mehr sein Land, seine Heimat. Aber hin und wieder fragte er sich, was seine damaligen Kollegen jetzt wohl taten, insbesondere Gebbert. Drei Jahre arbeitete er für die Polizei Kubas, sprach endlich fließend spanisch und lernte nebenbei englisch. Marie malte, Anna-Maria und Paul verzauberten die Nachbarn, mit ihrer offenen Art, den blonden Haaren und ihrem merkwürdig witzigem Spanisch. Eines Abends, kurz vor Feierabend, klopfte es und ein Mann trat in sein Büro. Mellert hatte eben seine Utensilien im Schreibtisch verstaut und den Stapel Flüchtlingsakten bereitgelegt, um ihn an die nächste Stelle weiterzugeben. Er mochte keine Unordnung auf seinem Schreibtisch. Die kubanischen Kollegen zogen ihn gerne damit auf. Ein Deutscher eben! Und lachten freundlich und anerkennend.

    Buenas noches.

    Mellert sah unkonzentriert auf. Er war nur müde und wollte nach Hause. Ein kurzer Blick genügte: Das ist kein Flüchtling! Der Mann sah viel zu satt und zufrieden aus, und er verströmte etwas von – genau! Den Typ des Geheimdienstlers, den Mellert schon in Deutschland kennengelernt hatte. Achtung signalisierte sich der Inspektor, Gefahr! Sie wünschen?, fragte er reserviert, Wir haben schon Büroschluss.

    Weswegen ich auch bin hier. Der Mann sprach gut Deutsch, aber mit einem starken amerikanischen Akzent. Er setzte sich auf den Stuhl vor Mellerts Schreibtisch, schlug die Beine übereinander, schob seinen Hut, dessen schlichtes grau zu dem ebenfalls in schlichtem grau gehaltenem Anzug passte, in den Nacken. Er trug eine gestreifte Krawatte, den obersten Knopf des Hemdkragens hatte er geöffnet, und einige Schweißtropfen liefen ihm über den Hals. Die Schuhe waren extrateure in einem dezenten braun. Den Typ und den Akzent hatte Mellert in den verschiedenen Restaurants und Bars, die Mellert und Marie gelegentlich besuchten, wenn sie denn Zeit und einen Babysitter hatten, kennengelernt. Es lebten viele Amerikaner in Kuba; Geschäftsleute, Outsider, windige Typen und Gangster. Und natürlich Geheimdienstleute. So viele, wie Gangster! Mellert lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Das hatte er immer so gemacht und es war gut so gewesen. Er schwieg, sah sein Gegenüber gelassen an und - wartete. Der Ventilator blies warme Luft von einer Ecke in die andere. Der Mann holte ein goldenes Zigarettenetui aus der Jacketttasche und steckte sich eine Zigarre in den Mund. Isch darf doch?, und brannte sie umständlich an. Und dann bekam Mellert ein Angebot, von dem er gedacht hätte, dass es das nicht gibt und er nicht wusste, ob er es annehmen konnte.

    Ich muss drüber nachdenken.

    No Problem. Rufen Sie an, wenn Sie es sich haben übergelegt. Eine Visitenkarte wuchs über den Tisch.

    Du hast doch noch nicht zugesagt?, fuhr Marie ihn an.

    Nein. Noch nicht.

    Noch nicht? Und DAS willst Du nicht ernsthaft tun?

    Ich weiß nicht, hilf mir beim Nachdenken.

    So war es immer. Er wusste, dass Marie es hasste, wenn er allein eine Entscheidung traf. Nicht einmal, wenn es darum ging, Essen zu gehen oder in ein Tanzlokal oder ins Kino. Er hatte gelernt, dass es besser war, sich vorher mit Marie abzustimmen, oder noch besser, sie vorsichtig, äußerst vorsichtig auf das Ziel hinzuführen.

    Lass uns darüber schlafen. Das sagte Marie und sah ihn schräg an. Und, nein, nicht so, wie Du denkst.

    Es wurde dann doch so, wie er dachte. Sie schliefen miteinander – und danach sprachen sie über den Vorschlag. Mellert hatte den Kopf auf die Hand gestützt. Amerika!, sagte er versonnen. Da wollten wir doch schon immer hin. Und als Marie schnaufte, ergänzte er mit einem Lockmittel: Dann siehst Du Anna auch wieder.

    Pah! Die sind doch schon wieder sprungbereit, um nach England zu gehen.

    Aber, sieh mal, wir, Du, ich, Annama und Paul … Er hatte keine Argumente mehr. Ich tue was für Deutschland, fiel ihm dann noch ein.

    Was?

    Ich meine, für das richtige Deutschland, nicht das Hitlers.

    Marie schüttelte ungläubig den Kopf. Seit wann war Mellert so politisch?

    Drei Monate später waren sie in Washington. Und während Marie versuchte, es für sich und ihrer kleinen Familie bequem zu machen (mit sehr wenigen Dingen, die sie mitnehmen konnten), flog er für vier Monate in die Wüste.

    Aufwachen, Sir! Jemand rüttelte Mellert an der Schulter. War er doch eingeschlafen!

    Sind wir da?

    Sie müssen sich noch anschnallen, Sir. Wir landen bald.

    Mellert atmete auf. Jetzt war er in Deutschland! Das, was er bei seinen kurzen Besuchen, im Mai 45 und im September gefühlt hatte, war anders gewesen. Damals fühlte er sich nicht als Deutscher, eher als Eroberer oder Sieger. Seltsam! Heute war es anders. Er kehrte zurück als Deutscher.

    September 1945 - Im alten Revier

    Hauptmeister Marotzke blieb gleich in der Tür stehen, legte die Hände auf den Rücken und sah zufrieden nach rechts und links. Er begann den ersten Rundgang in seinem alten Revier nach zehn Jahren. 1935 hatten ihn seine Vorgesetzten wegen seiner SPD-Nähe in den Süden Berlins abgeschoben. Sozusagen aus dem Schussfeld genommen. Ja, er hatte es bedauert, aber andererseits auch begrüßt. Und ja, er lebte dort unten, dicht bei Spandau wesentlich ruhiger und weniger beobachtet.

    Doch jetzt war er wieder hier in seinem alten Revier! Und er war jetzt Hauptmeister. Das hatten die nun davon! Die Sonne schien, es war warm und der Himmel wolkenlos. Was wollte man mehr? Er trat vor die Tür. Viele der neuen Polizisten, die von den Alliierten eingesetzt waren, trugen noch Zivilkleidung. Marotzke hatte noch eine Jacke in seinem Kleiderschrank gefunden; ohne Hoheitsabzeichen der Nazis. Darauf war er zu Recht stolz und entsprechend wölbte er die Brust. Er steckte die rechte Hand in die Jacke. Genau zwischen dem dritten und vierten Uniformknopf. Darüber steckte sein Notizbuch, das noch aus der Zeit vor der Machtübernahme stammte. Gut gelaunt begann er seinen ersten Dienst in der gewohnten Runde; Aus der Reviertür drei Stufen abwärts bis auf das Trottoire, dann direkt auf die andere Straßenseite. Hier begann das Villenviertel der Reichen, der Filmstars, der Diplomaten und der Mächtigen Berlins. Jedenfalls war das damals so gewesen. Jetzt, im Spätsommer 1945 begegneten ihm amerikanische Besatzungsoffziere oder Soldaten, die die leerstehenden oder leergeräumten Villen für sich oder ihre Dienststellen bezogen hatten oder noch dabei waren, sie in Besitz zu nehmen. Sie grüßten freundlich und Marotzke sah keinen Grund, nicht ebenfalls freundlich und militärisch zurückzugrüßen. Er erinnerte sich an all die Leute, die früher hier gelebt hatten. Hauptsächlich dem Namen nach, doch manche hatte er auch persönlich gekannt. Meist nette Leute, distinguiert, vornehm, freundlich. Er hatte die Namensschilder gelesen und sich die Namen gemerkt. Aber nach 1933 standen andere Namen drauf. Solche, wie Weissenstein, Weiß, Goldberg, Rosenstrauch waren verschwunden und durch deutsch klingende ersetzt. Und auch die Bewohner hatten sich verändert. Er sah mehr und mehr Uniformen in braun und schwarz. Dann wurde er versetzt.

    Er wandte sich nach rechts und ging die Reihe der Grundstücke mit den immer noch gepflegten Villen ab. Interessiert las er die Namen und Schilder an den Toren. Jetzt waren es militärische in Englisch. Irgendwelche Dienste und Institutionen, von denen er keine Ahnung hatte. Vor einigen standen streng blickende junge GI, die jeden seiner Schritte beobachteten und ihn schweigend passieren ließen. Einige der Villen lagen still und leer (Noch, dachte Marotzke), andere wurden eben bezogen. Die Villa der Lüdenscheidts, zwei Seitenstraßen weiter, er erinnerte sich an den Einbruchsversuch damals und den netten Inspektor aus der Provinz, stand leer. Er seufzte und bog um die Ecke. Drei Grundstücke weiter, vor der Nummer 43, blieb er stehen. Auf dem Rasen vor dem Haus werkelte ein Gärtner. Er harkte eben den Rasen, den er wohl geschnitten hatte. Der letzte Schnitt erinnerte sich Marotzke an eine alte Gärtnerregel. Da der Mann nicht aussah, wie ein Amerikaner, sprach er ihn an. Tach, der Herr. Na? Fleißig am Järtnern? Irgendwie kam er ihm bekannt vor.

    Was soll man machen. Was getan werden muss, muss halt getan werden, antwortete der Mann mit einem leicht österreichischen Akzent. Er stützte sich auf den Holzrechen und wischte sich mit der fleckigen grünen Gärtnerschürze den Schweiß von der Stirn.

    Dann sind Sie sozusagen der Gärtner?

    Kann man so sagen, Herr…

    Hauptmeister Marotzke. Ich bin vom hiesigen Revier. Gerade eben auf Streife, erklärte Marotzke und machte mit dem Arm eine umfassende Geste. Sollte doch jeder wissen: Er war wieder hier! Marotzke ließ gewohnheitsgemäß den Blick schweifen. Am hinteren Ende des Grundstückes sah er das Gartenhaus. Er erinnerte sich, dass es mal grün gestrichen war. Schicke weiße Gartenmöbel standen im Sommer davor. Kinder hatten hier gespielt. Soviel er sich erinnerte, gehörte die Villa einem jüdischen Bankier oder Kaufmann. Vor seiner Versetzung stand es lange leer. Das Grundstück wurde durch, Marotzke meinte, es wäre eine Buchenhecke, vom anderen Grundstück getrennt. Marotzke hatte von Gärtnern und schon gar nicht von Botanik eine Ahnung. Er lebte von klein auf in einer Hinterhauswohnung in zwei Zimmer mit Außenklo eine halbe Treppe tiefer in Spandau. Er hatte nie sein Elternhaus verlassen und als die Eltern verstorben waren, zog seinen Frau aus dem kleinen Zimmer ins Schlafzimmer ein. Die war dann 1934 an einer Lungenentzündung gestorben. Sie hatte sich immer einen Garten gewünscht. Tja. Schicksal.

    Neben dem Gartenhaus war der Boden umgegraben. Frische Erde war aufgeworfen. Der Wachtmeister wies mit dem Kopf auf das Gartenhaus. Sie legen wohl einen Gemüsegarten an? Besser isses, sollen schwere Zeiten kommen. Marotzke nickte sich selbst bestätigend zu.

    Schwerer ois jetzt wird’s wohl a net mehr wer'n, Herr Wachtmoaster. Der Mann hatte ihm nicht direkt geantwortet und auch nicht angesehen. Sein Blick irrte stetig vom Gartenhaus zu Marotzkes Tschako und zurück. Hm, wer weiß, was das für einer ist und was ihn beschäftigt. Aber ich werde ihn im Auge behalten. Wohnen Sie hier?, fragte er dann doch noch.

    Manchmal, wenn der Herr … Direktor nicht im Hause ist.

    Ah ja. Na dann, guten Tag noch, Herr…

    Doch der Mann drehte ihm den Rücken zu. Er schulterte seinen Rechen und ging stracks zum Gartenhaus.

    Marotzke zuckte mit den Schultern und ging weiter Streife. Er las im Vorbeigehen noch das Namensschild: Deutsche Bau- und Wohn-GmbH. Darunter: Dr. Heinz Mayer. Mehr nicht. Und Marotzke wunderte sich, dass noch keiner der Besatzer hier eingezogen war. Wer war Dr. Mayer? Wie wichtig war er für die neuen Machthaber? Als er von seiner Runde zurück im Revier war und vor einer Tasse Muckefuck saß, hatte Marotzke den Gärtner des Dr. Mayer und die dunklen Flecken auf dessen Schürze wieder vergessen.

    Der ‚Gärtner‘

    Jagoda stapfte schwerfällig über den Rasen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, ein Schnüffler! Sah gefährlich aus, für ihn und seine Beschützer. Der Kerl sieht zu viel und fragt zu viel. Gut, dass er dessen Tschako rechtzeitig gesehen hatte. So konnte er unschuldig tun. Man sollte ihn liquidieren. Er würde es seinem Chef vorschlagen. Vorerst aber musste er sich um das Loch neben dem Gartenhaus kümmern. Gemüsegarten! Jagoda schmunzelte. Keine schlechte Idee. Wer würde schon unter einem Möhrenbeet etwas Anderes als Regenwürmer vermuten? Er stellte den Rechen an den Schuppen und griff sich eine Schaufel. Der Gärtner spuckte in die Hände und begann das Loch zu schließen. Dumpf fiel der Sand auf die alte Decke, die den Leichnam zu zwei Dritteln bedeckte und den Kopf freiließ. Der Gärtner schaufelte, wischte sich zwischendurch den Schweiß mit einem sauberen Taschentuch von der Stirn, und setzte sein Werk fort, bis die Grube gefüllt war. Es hatte nicht lange gedauert, da sie nicht besonders tief angelegt war. Er klopfte den Boden fest und legte die vorher sauber beiseitegelegten Grassoden wieder auf. Mit den Füßen stampfte er das Gras fest. Dann verteilte er den übrigen Sand zwischen die Hecken. Noch ein bisschen festtreten und fertig! Zufrieden betrachtete er sein Werk. Er sah zum Himmel. Es zogen Wolken auf. Ein paar Tage Regen und es wird nichts mehr zu sehen sein. Der ‚Gärtner‘ stellte die Schaufel an den Pavillon. Dann ging er hinüber zur Villa seines Chefs, direkt zur Doppelgarage.

    Er schloss die Tür zur rechten Garage auf. Nur er hatte den Schlüssel. Seit der Chef ihn hierher geholt hatte, war sie sein Revier. Nie hatte ein Auto hier drin gestanden. Nie war ein anderer hier gewesen als er. Der ‚Gärtner‘ hatte aus der Garage eine Werkstatt gemacht, angeblich, um für Reparaturen am Haus immer bereit zu sein. Umsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Er betätigte den Lichtschalter. Gleich an der linken Wand war auch ein Waschbecken, in dem er sich die Hände wusch. Er betrachtete nachdenklich das graue Handtuch an einem Nagel an der Wand. Ich sollte es bei Gelegenheit austauschen. Es war schon recht schmutzig, vor allem zeigten sich Flecken von Erde und Blut darauf. Trotzdem trocknete er sich die Hände damit ab. Er schloss die Garagentür von Innen und schob noch einen Riegel vor.

    Der Stuhl lag noch auf dem Boden. Er hatte nur noch drei Beine. Das vierte, an dem noch Hautreste und Haare klebten, hatte er benutzt. Die Blutflecken auf dem Betonboden wird er später mit Kalk beseitigen, das Stuhlbein im Ofen verbrennen. Vorerst hatte er Dringenderes zu erledigen. Er ging hinüber zur Werkbank. Langsam stieg die schon abgeklungene Erregung wieder an. Dort lagen sie: Die Hände und Füße seines Opfers. Schlank, weiß, fein, ohne Makel, die Finger- und Fußnägel waren gepflegt und sauber. Am Ringfinger der linken Hand steckte noch ein Goldring mit einem kleinen Edelstein. Er zog ihn ab und legte ihn beiseite. Nicht vergessen, dachte er, während er die Hosen öffnete und seine Fetische fixierte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Jetzt!

    Als er seine Beute ‚beerdigte‘ zitterten ihm noch die Hand und die Knie. Doch er war zufrieden. All der Druck, die furchtbaren Gedanken, Tagträume und Wünsche waren von ihm abgefallen. Er legte seine Trophäen in ein Extragrab. Das machte er immer. Es war nicht nur ein Verscharren. Es war mehr. Etwas wie … wie … etwas Besonderes.

    Und als er mit frisch gewaschenen Händen sein Zimmer in der Villa aufsuchte und sich zur Ruhe begab, begann es wieder, das Warten auf das nächste Mal – auf den Moment, wenn der Druck unerträglich und die Wut nicht auszuhalten war. Wenn er wieder losziehen musste.

    Sommer 1936 - eine ganz private Angelegenheit

    Edeltraut schmiegte sich an ihren Mann. Musst Du wirklich schon zur Arbeit?, fragte sie schmollend. Natürlich wusste sie, dass er zur Arbeit musste, aber es machte ihr Spaß, die kleine unschuldige Maus zu spielen. Er strich ihr über den Kopf. Das weißt Du doch, Kind. Er nannte sie immer Kind. Das mochte sie nicht. Aber er ließ sich nicht davon abbringen. Sie war doch kein Kind! Sie war die Mutter zweiter süßer Kinder, eines Jungen und eines Mädchens, die sie mit in diese Ehe gebracht hatte. Damals, am Anfang ihrer Ehe, mochte sie diesen Mann, der nicht gefragt, sondern sie genommen hatte. Er war zart zu ihr gewesen und liebevoll zu den Kindern. Er verdiente gut, sehr gut, und ihm stand die Uniform. Er sah so schick darin aus. Dieses Schwarz mit den silbernen Tressen! Wenn sie über dem Kurfürstendamm gingen, hakte sie sich bei ihm ein und sah stolz auf die anderen Frauen herab, die ihr mit ihren Männern entgegenkamen. Seht hier, das ist mein Mann!

    Sie drehte sich noch einmal auf die andere Seite, während er sich aus dem Bett erhob und ins Bad ging. Was genau er am Tage tat, sollte sie nicht interessieren. Nicht mehr. Sie hatte einmal gefragt, und er hatte sie nur angesehen. Ihr war kalt geworden dabei. Also fragte sie nicht. Doch, dass es wichtig und sehr geheim war, was er so tat, wusste sie genau. Sie wusste mehr, als ihm jemals lieb sein könnte. Sie lächelte heimlich ins Kopfkissen. Die Frau hörte ihren Mann im Bad wirtschaften. Dann klapperte Geschirr, wenig später

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