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Mordsmann
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eBook441 Seiten5 Stunden

Mordsmann

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Über dieses E-Book

Ein Serienmörder, der Medien und Publikum bis heute fesselt. Ein True-Crime-Thriller, der die Seelen eines Killers und seines Jägers ausleuchtet. Ein Autor, der selbst Chefermittler in diesem spektakulärsten österreichischen Kriminalfall war: Ernst Geiger verarbeitete 30 Jahre nach Jack Unterwegers Tod dessen Geschichte literarisch. Sein Roman lässt mit dramatischen Wendungen und faszinierenden Charakteren fast vergessen, dass er auf wahren Begebenheiten basiert. Er erzählt die Geschichte eines Menschen, der sich nicht ändern konnte. Und von jenen, deren Leben durch ihn für immer verändert worden sind.
SpracheDeutsch
Herausgeberedition a
Erscheinungsdatum14. Jan. 2024
ISBN9783990017197
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    Buchvorschau

    Mordsmann - Ernst Geiger

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    PARADISO

    OKTOBER 1990 BIS JULI 1991

    Zwar, wie die Form zeigt häufig nur verdorrt,

    Was in des Künstlers Absicht hat gelegen,

    Weil taub der Stoff sich zeigte seinem Wort,

    So weicht zuweilen ab von seinen Wegen

    Auch das Geschöpf, da ihm die Macht geschenkt,

    Trotz seines Triebs, sich abseits zu bewegen,

    Gleichwie aus Wolken ja hinunterdrängt

    Das Feuer, wird die ursprüngliche Regung

    Durch falsche Lust zur Erde abgelenkt.

    Dante, La Divina Comedia, Paradiso, I. Gesang

    1990

    Freitag, 12. Oktober, 15:00 Uhr

    Nestroy-Gymnasium, Hütteldorf, Wien

    Sie erkannte den blauen Mercedes sofort. Er parkte an einer Ecke, von der aus man den Eingang des Schultores im Blick behalten konnte. Kaum war sie vom Schulhof auf die Straße getreten, öffnete sich die Hintertür und ein Deutscher Schäferhund sprang heraus. Die Zunge schlingerte ihm um das Kinn, als er auf sie zugestürmt kam.

    Katharina ging in die Knie, ließ die Schultasche neben sich auf den Boden sinken und streckte die Arme aus. Sie hatte sich immer einen Hund gewünscht. In den paar Tagen, in denen sie auf Joy aufgepasst hatte, war ihr die Hündin ans Herz gewachsen. Dennoch verspürte sie jedes Mal, wenn die Hündin auf sie zustürmte, ein Zucken in ihrer Magengrube. Kurz bevor Joy in ihre Arme sprang, sah Katharina die scharfen Zähne aufblitzen. Sie konnte nicht völlig verdrängen, dass die Zutraulichkeit der Hündin innerhalb von Sekunden in Aggressivität umschlagen konnte.

    Sie fühlte das weiche Fell der Hündin an ihrer Wange und schloss die Augen, als ihr Joys Zunge über das Gesicht fuhr. Katharina lachte und tätschelte Joy den Kopf. Als sie die Augen wieder öffnete, stand er über ihr und lächelte sie an.

    Sie streichelte die Hündin noch ein wenig, dann erhob sie sich. »Mein Vater hat verboten, dass du mit mir sprichst«, sagte sie.

    »Dabei habe ich mich noch gar nicht richtig dafür bedankt, dass ihr euch um meinen Hund gekümmert habt«, sagte er. Er trug eine ausgebleichte Jeans, braune Cowboystiefel, ein pinkes Hemd und darüber eine weiße Lederjacke. Seine Outfits amüsierten sie.

    »Den Hund kannst du jederzeit bei uns lassen.«

    Jack lachte. »Ich weiß. Weil deine Mutter mich mag, egal, was dein Vater sagt.«

    »Red nicht so daher«, sagte Katharina, musste nun aber auch grinsen.

    Vor einigen Wochen war sie mit ihrer Mutter spazieren gewesen, als ein riesiger Deutscher Schäferhund plötzlich aus dem Gebüsch gesprungen kam. Kein Besitzer war zu sehen. Joy hatte sofort Vertrauen zu Katharina gefasst und sich von ihr nach Hause mitnehmen lassen. Dort konnten ihre Mutter und sie ausfindig machen, wem der Hund gehörte: einem Schriftsteller namens Jack Unterweger. Zu dieser Zeit war Unterweger auf der Frankfurter Buchmesse gewesen, um ein Buch vorzustellen, und eine Frau Müller sollte sich um den Hund kümmern. Allerdings war Joy ihr weggelaufen.

    Die nächsten Tage blieb Joy bei Katharina. Als Jack sie abholen kam, ging er mit ihrer Mutter und ihr eine Runde spazieren. Er bedankte sich und war ausgesprochen höflich. Was Katharina vor allem gefiel, war, wie erwachsen er sie behandelte. Er schenkte ihr genauso viel Aufmerksamkeit wie ihrer Mutter. Wenn nicht sogar mehr.

    »Joy mag dich«, hatte er zu Katharina gesagt.

    »Wenn du möchtest, kannst du häufiger mit ihr spazieren gehen.« Katharina hatte glücklich zugestimmt, doch wenige Wochen später war ihr Vater wutentbrannt aus der Arbeit zurückgekommen.

    »Weißt du eigentlich, wer der Kerl ist?«, hatte er geschrien. »Das ist ein verurteilter Verbrecher! Ich lasse mein Kind sicher nicht in seine Nähe!«

    Jacks Anrufe waren seitdem unbeantwortet geblieben. Das hatte ihn jedoch nicht davon abgehalten, heute vor Katharinas Schule zu warten. Hatte sie ihm je erzählt, wo sie in die Schule ging? Sie konnte sich nicht erinnern.

    »Willst du was trinken gehen?«, unterbrach Jack ihre Gedanken. »Ich lade dich ein. Es gibt ein nettes Lokal in der Nähe.«

    »Wir können zu Fuß hin?«, fragte Katharina.

    »Du musst nicht in mein Auto steigen«, sagte Jack und Katharina fühlte sich ertappt. Sie wusste nicht, warum Jack im Gefängnis gewesen war, ihr Vater hatte es ihr nicht erzählt. Doch sie war klug genug, nicht zu einem verurteilten Kriminellen ins Auto zu steigen.

    »Ich lade dich auf einen Kaffee ein. Und wenn du keine Lust mehr hast, gehst du einfach, okay?«, sagte Jack. »Ich zwinge dich zu nichts.«

    Katharina nickte. Sie mochte es, dass Jack sie ernst nahm, anders als ihre Eltern. Dass er sich um sie bemühte und sich für sie interessierte. Und sie konnte sich einreden, dass es ihr selbst vor allem um Joy ging.

    Jack griff nach ihrer Hand und Katharina fühlte, wie ihre Wangen plötzlich warm wurden.

    »Ist dir das nicht zu blöd?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. »Dass dich jeder sofort erkennt.« Sie deutete auf den Mercedes mit dem Nummernschild W-JACK 1.

    »Sollen sie mich erkennen«, sagte Jack und schnaubte. »Die Gaffer können gar nicht genug von mir kriegen. Aber ich bin ihnen immer einen Schritt voraus.«

    Sein Grinsen machte ihn um Jahre jünger. Katharina konnte ihm kein Alter zuordnen, für sie gab es nur junge und alte Menschen und Jack war ganz sicher nicht mehr jung. Doch die Art, wie er sprach und lächelte, die Energie, die seine Augen ausstrahlten, die Impulsivität seiner Handlungen, das alles ließ ihn jugendhaft wirken.

    »Mit diesem Wagen bin ich schon durch ganz Österreich gefahren«, erzählte er ihr. »Und sogar über die Grenzen.«

    »Du warst schon im Ausland?«, fragte Katharina, die Wien bisher bloß für Tagesausflüge nach Niederösterreich verlassen hatte. »Wo?«

    »Überall«, sagte Jack. »In Italien, der Schweiz, in Deutschland. Vor einem Monat war ich in Prag. Warst du schon einmal dort?«

    Katharina schüttelte den Kopf.

    »Eine wunderschöne Stadt.«

    »Warum warst du dort?«, fragte sie.

    Jack ließ sich eine Sekunde Zeit mit seiner Antwort.

    »Arbeit«, sagte er schließlich. In der kurzen Zeit, die sie Jack nun kannte, und die neben wenigen Spaziergängen vor allem aus langen Telefonaten bestand, hatte sie gelernt, dass er zwei völlig verschiedene Seiten besaß.

    Er konnte eine Stunde lang sprechen und von einer Geschichte in die andere stürzen, nur um im nächsten Augenblick einsilbig zu werden und sich zurückzuziehen. Ein Charakterzug, der ihr Interesse weckte.

    Joy trottete vor ihnen her, während sie durch die Wiener Innenstadt schlenderten. Es wirkte nicht, als wüsste Jack, wohin er seine Schritte lenkte.

    »Hör mal«, sagte er schließlich. »Ich will nicht, dass du einen falschen Eindruck bekommst. Ich war früher ein anderer Mensch, der keine guten Dinge getan hat. Aber ich habe mich im Gefängnis verändert. Die Bücher haben mir geholfen. Ich würde dich gerne weiterhin sehen. Deine Eltern müssen davon nichts wissen. Wenn das für dich in Ordnung geht?«

    Er blickte Katharina von der Seite aus an. »Joy würde sich freuen.«

    Katharina fühlte, wie sie rot anlief. »Ich freue mich auch, Zeit mit Joy zu verbringen.«

    »Nur mit Joy?« Jack machte ein beleidigtes Gesicht, woraufhin Katharina lachen musste.

    »Vielleicht nicht nur mit Joy.«

    »Du wirst sehen«, sagte Jack, »Joy und ich haben einige Gemeinsamkeiten. Wir wirken vielleicht gefährlich, aber tief drin«, und er schlug sich mit der Faust gegen die Brust, »sind wir liebenswerte Wesen.«

    Katharina lehnte ihren Kopf gegen Jacks Schulter. Sie wusste, dass sie ein seltsames Bild abgaben: ein älterer Herr, der auch noch um einige Zentimeter kleiner war als die junge Frau neben ihm. Doch das war ihr in diesem Moment egal. Wie um ihre Gedanken zu bekräftigen, bellte Joy zweimal laut auf.

    Montag, 15. Oktober, 18:00 Uhr

    Postamt Schallergasse, Schallergasse, Meidling, Wien

    »Gut, dass Sie hier sind, Doktor Geiger«, begrüßte mich der WEGA-Einsatzleiter. Trotz seines professionellen Tons war sein Gesicht schweißbedeckt.

    »Wir haben drei Tote und zwei Schwerverletzte. Der Tatort ist gesichert.«

    »Verstanden«, sagte ich.

    Als Leiter des Raubdezernats war ich mit meinem Team kurz nach der WEGA am Tatort eingetroffen und musste mir erst einmal einen Überblick verschaffen.

    Das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge wurde von den Fenstern zurückgeworfen. Beamte eilten an mir vorbei. An beiden Enden der Gasse hatte sich eine kleine Menschenmenge gesammelt, die es zurückzudrängen galt. Das hier war ein Tatort und keine Theaterbühne.

    Es war gegen 18 Uhr passiert. Ein Geldtransporter der Post stand vor der Filiale in der Schallergasse. Begleitet wurde er von einem Bezirkspolizisten. Als der Postbeamte und der Polizist mit dem Geld aus der Filiale kamen, schlugen die Räuber zu. Sie sprangen hinter parkenden Autos hervor und eröffneten von beiden Seiten das Feuer.

    Der Fahrer des Wagens, der noch hinter dem Steuer saß, wurde ins Herz getroffen und war sofort tot. Der zweite Postbeamte und der Polizist wurden ebenfalls getroffen. Die Räuber trugen kugelsichere Westen und verwendeten Magnum-Revolver. Dem Polizisten gelang es, schwer verletzt und auf dem Boden liegend, das Feuer zu erwidern.

    Einen der Täter konnte er mit einem Kopfschuss töten, den anderen traf er im Bauch. Als ich mit der Kriminalbeamtengruppe am Tatort ankam, erwartete uns ein blutiges Chaos. Der Geldtransporter stand mit offener Fahrertür, platten Reifen und eingeschossenen Fensterscheiben auf der Straße. Glassplitter bedeckten den Asphalt. Den Fahrer des Wagens hatten Beamte mittlerweile auf die Straße gezerrt und wiederzubeleben versucht, allerdings vergeblich. Drei Leichen lagen auf dem Asphalt.

    Der Beamte und der Polizist, die beide angeschossen worden waren, befanden sich bereits auf dem Weg ins Spital. Vor allem der Zustand des Polizisten war kritisch.

    »Ein Glück, dass der Kollege schon eine Glock 17 hatte«, sagte mein Kollege Georg Kreil. Kreil war ein massiver Mann, der trotz seiner Statur flinke Finger besaß und jedes Schloss in Minutenschnelle aufbekommen konnte. Fähigkeiten, die er sicher nicht im Sicherheitsbüro gelernt hatte.

    Ich nickte. Erst vor kurzem war die Walter PP mit sechs Schuss durch eine siebzehnschüssige Glock ersetzt worden. Ohne sie wäre der Beamte im Kugelhagel verloren gewesen.

    »Die waren verdammt gut vorbereitet«, fuhr Kreil fort. Man hatte das Fluchtauto gefunden, einen Peugeot 205 mit italienischem Kennzeichen. Vermutlich wollten die Täter es aussehen lassen wie einen Überfall der Mafia. Im Auto lagen weitere Waffen, aber auch Funkgeräte.

    Die Spurensicherung war bereits dabei, die ganze Straße nach Spuren abzusuchen. Jede Patronenhülse musste dokumentiert werden, jede Blutspur gesichert.

    »Sehen wir uns mal die Täter an«, sagte ich zu Kreil. Man hatte den Toten mittlerweile die Masken vom Gesicht genommen. Der erste Mann war mit einem einzigen Kopfschuss ausgeschaltet worden.

    »Wenn der Kollege das mit Absicht gemacht hat, ist er ein Wunderschütze«, meinte Kreil. »Auf dem Boden liegend, selbst verletzt, ein bewegliches Ziel … fast unmöglich.«

    Wir gingen zur anderen Seite der Straße, wo der zweite Täter lag. Ich beugte mich über die Leiche. Unter dem Räuber hatte sich eine große Blutlacke gebildet, er hielt die Magnum noch in der Hand.

    »Sieht so aus, als hätte er sich selbst erschossen«, sagte Kreil, der neben mich getreten war.

    »Der Beamte hat ihn von unten erwischt. Die Kugel ging unter die kugelsichere Weste und traf ihn in den Bauch.«

    Der Mann musste die Aussichtslosigkeit seiner Situation erkannt haben. Er wäre mit dieser Verletzung nicht mehr vom Tatort weggekommen und hatte offenbar den Freitod dem Gefängnis vorgezogen.

    Obwohl die Kugel seinen Hinterkopf zerfetzt hatte, erkannte ich den Mann. Nun verstand ich auch, warum er diesen Ausweg gewählt hatte.

    »Das ist doch Viktor Zangler«, sagte Kreidl, der den Mann offenbar ebenfalls erkannt hatte. »War der nicht letzte Woche noch im ORF?«

    »Ja«, sagte ich. »Er war gerade erst aus Stein raus. Er muss gewusst haben, dass er bei einer neuen Verurteilung den Rest seiner Tage hinter Gittern verbringen würde.«

    Zangler war wegen Überfällen und Körperverletzung zu einer mehrjährigen Haftstrafe in Stein verurteilt worden. Er hatte an diversen Resozialisierungsprogrammen teilgenommen und ließ keine Gelegenheit aus, den Direktor der Haftanstalt Stein, Karl Schreiner, für seine Methoden und den Umgang im Gefängnis zu kritisieren. Weil Zangler für einen Schwerverbrecher ungewöhnlich gut aussah und sich besser artikulieren konnte als seine Mitgefangenen, war er von verschiedenen Journalisten interviewt und zitiert worden. Den kurzen Höhepunkt seiner Berühmtheit stellte ein Auftritt in der Sendung Club 2 dar, den er letzte Woche gehabt hatte und in dem er Steiner und das gesamte Justizsystem scharf kritisiert hatte.

    Nun lag er vor uns in seinem eigenen Blut. Die WEGA zog sich zurück, die Beamten sicherten den Tatort und die Leichen wurden in metallische Transportsärge verfrachtet. Wir konnten nicht ausschließen, dass es vielleicht einen dritten Räuber gegeben hatte, also gaben wir eine Fahndung heraus.

    Kreil zündete sich eine Zigarette an. Ich hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu rauchen und stattdessen mit dem Laufen begonnen. Doch in diesem Moment war ich froh über den Geruch von Teer, der den Geruch des Blutes ein wenig überdeckte. Kreil nahm einen tiefen Zug.

    »Davon hat Zangler im Fernsehen nicht gesprochen«, sagte Kreil.

    »Einen geplanten Raubüberfall zu erwähnen hätte sich sicherlich nicht gut auf seine Resozialisierung ausgewirkt«, antwortete ich.

    »Zangler beschwerte sich immer darüber, dass die Gesellschaft keinen Platz für Leute wie ihn hat.« Kreil lachte, doch es war ein trockenes, kaltes Lachen.

    »Ich frage mich, in welcher Gesellschaft er sich jetzt wohl befindet. Und ob es dort einen Platz für ihn gibt.«

    Freitag, 19. Oktober, 22:00 Uhr

    Reiss-Bar, Weihburggasse, Innere Stadt, Wien

    »Wie war der Sex im Knast?«

    Margit wunderte es nicht, dass er nach der Premiere in die Reiss-Bar gehen wollte. Das enge Lokal im ersten Bezirk zog sich vom Eingang schlauchförmig dahin, mit einer ovalen Bar in der Mitte. Über dem schwarz-weiß polierten Tresen hingen die Champagnergläser verkehrt herum von der großen, kubusförmigen Leuchtstoffröhre, die den Innenraum in ein mattes Licht tauchte. Jedes Mal, wenn Margit die Bar betrat, hatte sie das Gefühl, in den Passagierraum eines Privatflugzeuges zu gelangen.

    Sie wusste, dass die Bar bei der Wiener Schickeria beliebt war. Es war ihr Beruf, über diese Dinge Bescheid zu wissen.

    Margit arbeitete für eine Wiener Zeitschrift, die über das Szeneleben und die Gastronomie berichtete. Das war vielleicht nicht das, was sich ihre Eltern für sie vorgestellt hatten, als sie ihre Tochter in ihrem herrschaftlichen Anwesen in Döbling erzogen, dessen Garten groß genug war, um Treibjagden darin zu veranstalten. Noch weniger durfte es den Eltern jedoch gefallen, dass Margit sich im Zuge ihrer Arbeit in der Wiener Unterwelt bewegte. Es kam öfters vor, dass sie einen elegant gekleideten, höflichen Mann bei einem Veuve Clicquot begegnete, der sein Geld mit dem Führen mehrerer Bordelle verdiente. Das war das Wien der 90er-Jahre und Margit liebte es.

    Nun saß ihr so ein Mann gegenüber. Weißer Leinenanzug und weißer Fedora, dazu eine rote Kunststoffblume im Knopfloch, als hätte ihn jemand ins Herz geschossen.

    Jack lächelte. »Es hat sich noch keine beschwert.«

    Der Mann erschien ihr wie ein Widerspruch. Zum ersten Mal hatte sie seine Stimme vor einigen Wochen gehört, als sie ihn für einen Artikel nach seinem Lieblingsrestaurant gefragt hatte.

    »Das Cobenzl«, hatte er sofort geantwortet. Die meisten Prominenten, die Margit angerufen hatte, baten um mehr Bedenkzeit, um sich eine Antwort zu überlegen, die zu ihrem Auftreten passte. Nicht so Jack. Er war direkt.

    Das Cobenzl war ein Restaurant auf der gleichnamigen Erhebung, von der man einen Blick über ganz Wien hatte. Bei Touristen war es deswegen sehr beliebt, Wiener traf man dort selten. Noch eher auf dem Parkplatz vor dem Restaurant, wo Jugendliche mit ihren Autos parkten und sich ungestört miteinander vergnügen konnten.

    »Was gefällt Ihnen denn am Cobenzl?«, hatte Margit gefragt.

    »Die Aussicht«, hatte Jack geantwortet. »Und der Wald rundherum. Ich fahre dort gerne spazieren.«

    Sie fragte ihn, ob er den Parkplatz vor dem Cobenzl kenne. Jack hatte gelacht.

    »Ich bin ein erwachsener Mann mit einer Wohnung«, hatte er geantwortet. »Ich brauche keinen Parkplatz.«

    Nur wenige Tage später war ein Ticket zur Premiere seines Theaterstücks Kerker in Margits Büro angekommen, zusammen mit einer Einladung, danach in die Reiss-Bar auf einen Drink zu gehen. Nun saßen sie sich gegenüber und Margit wurde nicht ganz schlau aus dem Mann.

    Als sie ihn vor der Vorstellung auf der Bühne gesehen hatte, war sie überrascht gewesen, wie klein, schmächtig und zierlich er schien. Sie wusste, dass er ein Mörder war, aber er wirkte völlig ungefährlich auf sie.

    Seine Stimme jedoch war schneidend, die Wörter flossen nur so aus seinem Mund, überschlugen sich beinahe. Er sagte, was er dachte, und ließ sein Gegenüber dabei nicht aus den Augen. Das gefiel Margit.

    »Ich meine«, fuhr sie fort, »wie hat sich der Sex im Gefängnis für dich verändert?« Jack hatte ihr bereits beim Betreten der Bar das Du angeboten.

    »Ich kenne einige Leute, die länger gesessen sind. Alle sagen, dass sich nach spätestens fünf Jahren die Sexualität verändert. Die Gedanken streifen umher …«

    Jack hatte seinen Ellbogen auf den Tresen der Bar gestützt. Sein Kinn lag auf seiner Handfläche. Mit schiefgelegtem Kopf musterte er sie.

    Etwas in seinem Gesicht veränderte sich. Er straffte seinen Rücken, als machte er sich kampfbereit. Mit einer schnellen Bewegung zog er seinen Stuhl zu Margit heran, so nah, dass sich ihre Knie berührten.

    »Ich war mir selbst genug«, flüsterte er ihr zu. »Musste mir selbst genug sein. Aber seit ich wieder in Freiheit bin, lebe ich für zwei. Ich habe fünfundzwanzig Jahre meines Lebens verloren. Und jetzt hole ich sie mir zurück.«

    Er lehnte sich wieder etwas zurück, lächelte Margit an und griff nach seinem Champagnerglas.

    »Möchtest du noch woanders hin?«, fragte Margit. »Ich kann dir meinen Lieblingsclub zeigen.«

    »Klingt gut«, sagte Jack.

    Margit bezahlte. »Immerhin ist heute dein großer Tag«, sagte sie. Jack wehrte sich nicht. Sie gingen nach draußen, wo er seinen weißen Ford Mustang geparkt hatte. Sein Auftreten, seine Kleidung, selbst sein Auto wirkten wie Anachronismen, als hätte sein Leben angehalten, als er 1975 ins Gefängnis gegangen war. Vielleicht, dachte Margit, hatte es das ja auch.

    »Wo soll es hingehen?«, fragte er.

    »Ins Motto«, sagte sie.

    Margit sah, wie er eine Augenbraue hochzog. Schweigend fuhren sie am Stadtpark und dem Schwarzenbergplatz vorbei, dessen Denkmal für die sowjetische Armee, die in Wien 1945 gegen die Nationalsozialisten gekämpft hatte, im nächtlichen Dunkel bedrohlich aufragte.

    Das Motto war in einem alten Kellergewölbe untergebracht. Der Eingang war leicht zu übersehen. Hineingelassen wurde nur, wer sich nicht vorzustellen brauchte. Margit kannte man dort. Der Türsteher winkte Jack und sie weiter.

    Das Motto verstand sich als ein modernes Sodom, ein stilisierter Sündenpfuhl in der gutbürgerlichen Wiener Lebenswelt. Tropische Pflanzen schlängelten sich die Decke entlang, überdimensionierte Aktfotos bedeckten die Wände und auf den Toiletten wurden pausenlos pornografische Filme projiziert. Margit wollte sehen, wie Jack in einer so aufgeladenen Atmosphäre reagieren würde. Ob sie ihn zum Explodieren bringen könnte. Sie beobachtete ihn genau, doch sie konnte keine Regung in Jacks Gesicht feststellen. Als wäre er ein unbeteiligter Zuschauer, den das alles hier nichts anginge, ließ er seinen Blick über die Bilder und die Gäste schweifen.

    Sie nahmen in einer ledergepolsterten Sitznische Platz und bestellten eine weitere Flasche Champagner. Jack beugte sich zu Margit, damit sie ihn über den Lärm des Clubs hinweg verstehen konnte. Sie erwartete, dass er etwas sagen würde.

    Da spürte sie seine Hand auf ihrem Oberschenkel. Seine Finger fuhren den Stoff ihrer Strumpfhose entlang, vom Knie bis zum Saum ihres Rockes. Dabei lächelte er sie an.

    »Was du tust, ist gefährlich«, sagte er, gerade noch laut genug, dass sie ihn verstehen konnte.

    »Ich mag gefährlich«, antwortete sie.

    Jack lehnte sich zu ihr, Margit schloss die Augen und einen Moment später spürte sie seine Zunge ihre umkreisen. Er küsste gierig. Als würde er all die verlorenen Jahre auf der Zunge tragen.

    In diesem Moment tauchte der Kellner mit ihrem Champagner auf. Jack ließ sich von Margit wegschieben. Als würde er nicht bemerken, wobei er sie gerade störte, goss der Kellner ihre Gläser ein und stellte die Flasche in dem Kühlbehälter ab.

    Margit hob ihr Glas. »Auf den Theaterautor und eine erfolgreiche Premiere!«

    Jack stieß an. »Hoffen wir, dass die anderen Aufführungen auch so gut laufen. Ich toure bald durch ganz Österreich. In den nächsten Wochen sind wir in Bregenz, Innsbruck, Graz. Nicht schlecht, was?«

    Margit lernte in den nächsten Stunden eine weitere Seite von Jack kennen: den Zuhörer. Er stellte viele Fragen, folgte ihren Ausführungen gespannt, lachte an den richtigen Stellen und fragte dort nach, wo er merkte, dass sie nicht alles erzählt hatte.

    Sie bemerkte, wie sehr sie es genoss, mit ihm zu sprechen und von sich zu erzählen. Die meisten Männer versuchten, sie mit ihren Geschichten zu beeindrucken. Weitschweifig und selbstverliebt erzählten sie von ihrem Beruf, ihren Häusern oder Autos. Aber nicht Jack. Er wusste, dass alles über ihn in den Zeitungen stand. Er brauchte sich nicht mehr vorzustellen. Also hörte er zu.

    Als Margit auf die Uhr blickte, erschrak sie. Der Morgen war fast angebrochen.

    »Ich sollte jetzt los!«, rief sie Jack zu. Der nickte nur und folgte ihr nach draußen.

    Auf dem Weg zu Jacks Auto liefen sie durch die dunklen Straßen des fünften Bezirks, gefangen in der lichtlosen Zeit vor dem Sonnenaufgang. In einer kleinen Seitengasse packte er sie an der Hüfte, drückte sie gegen eine Hauswand und presste ihr seinen Oberschenkel zwischen die Beine. Sie konnte spüren, dass er hart war.

    Er versuchte sie zu küssen, doch Margit schob ihn zur Seite. Sie fühlte, dass der zierliche Körper sehnig und kräftig war, kräftiger, als sie gedacht hatte. Doch Jack ließ es geschehen.

    »Ich glaube, es ist Zeit, nach Hause zu gehen«, sagte sie. »Es war ein schöner Abend.«

    Jack nickte. »Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte er.

    »Das wäre nett.«

    Sie fuhren die Wienzeile entlang. Neben ihnen wirkten die geschlossenen Buden des Naschmarkts mit ihren heruntergelassenen Gittern wie stumme, aufgerissene Münder.

    »Warum hast du das Mädchen damals eigentlich umgebracht?«, fragte Margit in beiläufigem Ton.

    »Du wirst wahrscheinlich wissen, dass ich eine schwere Kindheit hatte«, sagte Jack, ohne den Blick von der Straße zu nehmen, als hätte er auf diese Frage gewartet. »Ich hatte so viel Wut und Hass in mir, vor allem auf meine Mutter, die mich verließ und mir nie Liebe zeigte. Außerdem war ich zu dieser Zeit am Boden, ich nahm Drogen und trank. Ich hatte eine Freundin und dieses Mädchen, das ich umgebracht habe … Sie hat mich angemacht. Das hat mich irritiert. Irgendwas an ihr hat mich an meine Mutter erinnert. Plötzlich habe ich völlig automatisch gehandelt, ohne irgendetwas dagegen tun zu können. Meine Hand erhob sich und ich schlug sie. Nach dem ersten Schlag gab es kein Zurück mehr. Ich sah in ihr meine Mutter und entlud meine gesamte Wut. Als ich begriff, was passiert war, war es zu spät.«

    »Denkst du noch daran?«, fragte Margit.

    »Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen«, sagte Jack. »Aber was passiert ist, ist passiert.«

    »Hast du Kontakt zu deiner Mutter?«

    »Ja, im Gefängnis habe ich begonnen, das alles aufzuarbeiten und wieder Kontakt mit ihr aufzunehmen. Sie lebt in München. Manchmal besuche ich sie.«

    »Und dein Vater?«, fragte Margit.

    »Den habe ich nie kennengelernt. Er war ein amerikanischer Soldat und lebt, glaube ich, in New Jersey.« Jack lachte auf, was Margit irritierte. »Aber ich werde ihn bald suchen. Stell dir sein Gesicht vor, wenn plötzlich sein Sohn vor ihm steht!«

    »Hier kannst du anhalten«, sagte Margit.

    Sie bemerkte, wie Jack einen ungläubigen Blick auf die Villa warf, in der Margit lebte. Früher hatte sie der Familie Rothschild gehört und erinnerte an ein Schloss.

    »Willst du nicht doch mit zu mir kommen?«, fragte Jack. »Wir könnten noch etwas trinken und reden. Ich habe ein Gästezimmer, das kann man von innen absperren.«

    »Vielleicht ein andermal«, sagte Margit. Sie blieb vor dem schmiedeeisernen Eingangstor stehen und blickte dem weißen Mustang nach, als er davonfuhr. Die roten Rückleuchten verschwanden langsam, glühende Augen in der Dunkelheit.

    Sie fühlte Anziehung und Abstoßung in gleichem Maße für diesen Mann. Er wirkte schwach, verletzlich und einsam genauso wie berechnend, stark und impulsiv. Margit konnte Jack Unterweger nicht einschätzen. Sie nahm sich vor, herauszufinden, wer er wirklich war.

    Samstag, 27. Oktober, 11:00 Uhr

    Polizeiwachzimmer, Schmiedgasse, Graz, Steiermark

    »Bitte nennen Sie den Namen, das Geburtsdatum und den Wohnort der vermissten Person.«

    Reinhold Masser, den alle nur Ronny riefen, ballte die Fäuste. Das kleine Büro war vollgestopft mit Aktenschränken. Um hinter den Tisch zu kommen, an dem der Beamte saß, musste man sich zwischen Tischkante und einem der Schränke seitlich hindurchschieben. Lieblos gepflegte Topfpflanzen standen in Winkeln, in denen sie unmöglich Sonnenlicht bekommen konnten, und die Oberfläche des Tisches war zu einem Mosaik aus Kaffeeflecken und Aschehäufchen geworden.

    Ihm gegenüber saß ein Polizist, der sich als Herr Steiner vorgestellt hatte. Steiner schien nicht besonders erpicht darauf, Ronnys Aussage aufzunehmen. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag das Formular für Abgängigkeitsanzeigen, aber er machte keine Anstalten, etwas zu notieren. Stattdessen kaute er auf dem Ende seines Kugelschreibers herum.

    »Brunhilde Masser, geboren Eberl«, gab Ronny zum Protokoll. »Geboren am 9. Mai 1949 in Knittelfeld.« Er nannte die gemeinsame Wohnadresse.

    »Und Sie sind der Ehemann?«, fragte der Polizist, ohne aufzublicken.

    »Der Freund«, antwortete Ronny. »Sie benutzt meinen Nachnamen, aber offiziell haben wir nicht geheiratet.«

    »Und Ihre … Freundin«, der Polizist sprach das Wort mit hörbarem Missfallen aus, »warum glauben Sie, dass sie abgängig ist?«

    Ronny bereute es bereits, das Wachzimmer in der Grazer Innenstadt aufgesucht zu haben. Die ganze Nacht hatte er nicht geschlafen. Als klar war, dass Brunhilde nicht nach Hause kommen würde, hatte er an die Decke ihrer Wohnung gestarrt, die Schimmelflecken gezählt und sich gefragt, was er tun sollte. Er machte sich Sorgen, aber den Kontakt mit der Polizei wollte er eigentlich vermeiden. Schließlich hatte seine Sorge gesiegt.

    »Gestern hat sie gearbeitet«, erklärte Ronny. »Nicht weit vom Uhrturm entfernt war ihr Platz. Schon seit zehn Jahren steht sie dort. Und bis heute ist sie jedes Mal pünktlich um fünf Uhr früh nach Hause gekommen.«

    Der Polizist seufzte. »Ihre Freundin arbeitet also als Prostituierte. Ist sie gemeldet?«

    »Nein«, sagte Ronny leise. »Wird sie jetzt Probleme kriegen?«

    Endlich schob der Polizist seine Notizen beiseite und blickte Ronny an. »Darum kümmern wir uns, wenn wir Ihre Freundin gefunden haben. Haben Sie ein Foto von ihr dabei, das wir rausgeben können?«

    Ronny nickte. Er holte sein Portemonnaie hervor und zog ein quadratisches Foto heraus, das er dem Polizisten überreichte. Die Frau darauf hatte harte Gesichtszüge, gelocktes, braunes Haar, eine große Nase und markante Wangenknochen. Forsch blickte sie in die Kamera.

    »Wir werden das Foto mit den Personendaten raussenden«, erklärte der Beamte. »Sie müssen uns auch eine Liste von Personen dalassen, mit denen Ihre Freundin in Kontakt stand. Privat und … beruflich. Besonders Ex-Freunde und Kunden.« Der Polizist stand auf, zwängte sich um den Tisch herum und kam neben Ronny zum Stehen. Für ihn ein Zeichen, dass er nicht mehr benötigt wurde.

    »Sie werden sehen«, sagte der Polizist, als er ihn in den Vorraum des Wachzimmers führte, »die meisten solcher Fälle lösen sich von selbst. In den nächsten Tagen wird Ihre Freundin auftauchen und tun, als wäre nichts gewesen. Dann vergessen Sie aber nicht, uns anzurufen!«

    Der Beamte klopfte Ronny auf die Schulter und hielt ihm sogar die Tür auf, als er nach draußen trat.

    Als Ronny durch die Innenstadt zur Straßenbahn ging, die ihn nach Hause bringen würde, suchte sein Blick den Uhrturm, der über den Dächern der Innenstadt aufragte. Brunhilde hatte ihm oft erzählt, wie sie den Uhrturm bei der Arbeit im Blick behielt, die Stunden ablas, die noch vergehen mussten, bis sie wieder bei ihm sein konnte. Er fragte sich, wo sie wohl war und wie viele Stunden diesmal vergehen mussten, bis er sie wiedersehen würde.

    Montag, 5. November, 10:00 Uhr

    Fakultät für Psychologie, Liebiggasse, Innere Stadt, Wien

    Elisa blickte prüfend in den von Fettflecken übersäten Spiegel. Sie strich sich das schwarze Jackett über ihrer weißen Bluse glatt, kontrollierte noch einmal das dezent aufgetragene Make-up und brachte jedes ihrer langen kastanienbraunen Haare an seinen Platz. Sie trug sie heute als Pferdeschwanz. Zu lange hatte sie auf diesen Termin gewartet, um nicht wie die perfekte Kandidatin auszusehen.

    Wobei der Begriff Audienz angemessener wäre. Doktor Ernst Töller war der angesehenste Gerichtspsychologe im Land. Seit zwei Jahrzehnten hielt er Vorlesungen an der Universität, die bei den Psychologiestudenten aufgrund ihrer Komplexität und der geforderten Lektüre gefürchtet waren. Er betreute einen kleinen, ausgesuchten Kreis an Doktoranden, die mit dem Rest der Fakultät kaum etwas zu tun hatten. Während sich andere Psychologen mit Depressionen beschäftigten oder das Kaufverhalten des homo oeconomicus analysierten, arbeitete Töllers Team in den Abgründen der menschlichen Seele. Genau dort wollte Elisa hin.

    Sie verließ die Toilette und stieg die Stufen in den zweiten Stock empor. Während sie den Flur entlangging, übertönten die Schläge ihres Herzens die Absätze ihrer Schuhe.

    Elisa klopfte sachte an die Bürotür von Töller. Da sie keine Reaktion vernahm, versuchte sie es erneut. Wieder nichts. Sie atmete tief durch. Hatte er etwa vergessen? War er gar nicht im Büro? Dann wäre die Tür bestimmt versperrt. Sie nahm all ihren Mut zusammen und drückte die Klinke nach unten.

    Die Tür sprang auf. Langsam und vorsichtig schob Elisa sie auf.

    Vor ihr herrschte Chaos. Bücherstapel wuchsen aus dem Boden wie Bäume, manche ähnelten in ihrer Architektonik gefährlich dem Schiefen Turm von Pisa. Bilder von Freud, Jung und Adler hingen an der Wand und Elisa entging nicht, dass Freuds Porträt mit der Pfeife ein wenig höher als die anderen beiden hing. Es gab weder Pflanzen noch anderen Zierrat.

    Töller saß auf seinem Stuhl, den Kopf in den Nacken gelegt und die Füße auf dem Tisch. Seine teuer wirkenden schwarzen Lederschuhe ruhten auf einem Stapel Akten. Elisa sah, dass der Professor Kopfhörer aufgesetzt hatte. Ein Kassettenrekorder lag neben seiner Schreibmaschine.

    Elisa räusperte sich, aber offenbar nicht laut genug. Töller zeigte jedenfalls keine Reaktion. Noch einmal öffnete Elisa die Tür des Büros, ließ sie diesmal jedoch so laut zufallen, dass der Knall selbst den Hausmeister im ersten Stock alarmieren musste.

    Töller zuckte zusammen und konnte erst im letzten Moment verhindern, dass er mitsamt dem Stuhl umkippte, indem er die Tischkante neben sich zu fassen bekam. Die Kopfhörer fielen ihm vom Kopf.

    Verwirrt blickte er Elisa an. »Ja, bitte?«

    »Doktor Töller«, begann Elisa verlegen, »bitte entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Elisa Kronfeld. Wir haben einen Termin.«

    »Natürlich, Frau Magister Kronfeld …« Töller versuchte, eine respektable Haltung einzunehmen. Er schob ein paar Unterlagen zur Seite und zog sich seine Krawatte, die einen schrillen, lachsfarbenen Ton hatte, enger. Da allerdings die obersten zwei Knöpfe seines Hemds geöffnet waren, zog er sich die Krawatte wie eine Schlinge um den Hals und hustete.

    »Wollen Sie ein Glas

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