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Rapunzel: Lukas Grimmels erster Fall
Rapunzel: Lukas Grimmels erster Fall
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eBook518 Seiten6 Stunden

Rapunzel: Lukas Grimmels erster Fall

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Über dieses E-Book

Suspendiert, beruflich und privat am Ende kehrt der Münchner Hauptkommissar Lukas Grimmel in das Haus am Niedersonthofener See zurück, wo er seine Kindheit verbracht hat.
In den frühen Morgenstunden liegt eine junge Frau tot im seichten Uferwasser, vergewaltigt, misshandelt. Als Grimmel die Polizei anruft, ahnt er noch nicht, dass es mit einem stillen Sommer am See nichts werden würde.
Menschenhandel, Zwangsprostitution und ein kranker Sadist fordern alles von Lukas und seinem Team und über allem lastet die Hitze eines tödlichen Sommers.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Okt. 2023
ISBN9783910537316
Rapunzel: Lukas Grimmels erster Fall
Autor

Susanne Erhard

Susanne Erhard, 1966 in Paris geboren, ist gelernte Buchhändlerin, arbeitet allerdings seit vielen Jahren als freischaffende Autorin und Therapeutin in der Nähe von Memmingen, wo sie mit ihrem Mann, Pferden, Eseln und Katzen auf einem Bauernhof lebt. Bisher hat sie verschiedene Krimis veröffentlicht, mehrere Liebesromane, sowie einen historischen Roman, die alle im Allgäu spielen, außer dem siebenbändigen "Sunrise"-Zyklus. Im Oktober 2022 gründete sie ihren eigenen Verlag edition sunrise.

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    Buchvorschau

    Rapunzel - Susanne Erhard

    Kempten, Sommer 2006

    Die wummernden Bässe drangen bis auf die Straße, wo auf dem Gehsteig vor der Tür der Disco, die Jugendlichen rauchend und trinkend in Grüppchen herumstanden.

    Angespannt trommelten seine Finger gegen das lederbezogene Sportlenkrad, ein teures Extra an seinem neuen Golf, das er seiner Mutter genauso abgeschmeichelt hatte, wie die Sportsitze und die extra krasse Tieferlegung mit den knallharten Federn.

    Sein Vater durfte davon nichts wissen, deswegen hatte seine Mutter die Neuwagenbestellung entsprechend manipuliert. Verächtlich grinste er in den Rückspiegel. Er sah rasend gut aus. Abermals verzog er den Mund zu einem bösen Grinsen. Er fand, dass ihm das verdammt rattenscharf machte.

    Jedenfalls war er nicht so ein dämlicher Idiot wie sein Vater, dessen ölverschmierte Hände nicht mehr sauber wurden und der nicht bemerkte, wie die Mutter immer wieder Geld für den Sohn von den Firmenkonten abzweigte. Geschah ihm gerade recht.

    Sein Blick wanderte über die diversen Gruppen der Jugendlichen. Die Mädchen trugen knappe Miniröcke, enge, tief ausgeschnittene Tops und kurze Kleider aus Shirtstoff, wo man wirklich absolut alles durchsehen konnte.

    Der Sommerabend war fast heiß, er sah, wie sich eines der Mädchen kokett bückte und einen Jungen anlachte. Der gab ihr einen spielerischen Klaps auf den Hintern. Fast augenblicklich spürte er, wie sein Glied in der engen Jeans anschwoll. Das Mädchen quietschte übermütig und wedelte mit dem Hintern vor dem Jungen herum.

    Die Jugendlichen lachten, während er sich in den Schritt griff und halblaut stöhnte. Die Kleine war schlank, ihre hellbraunen Locken waren zu einem nachlässigen Zopf gebunden, den sie fröhlich über die Schulter warf. Er stellte sich vor, wie er ihr den Zopf um den Hals winden würde, voller Genuss daran ziehen, immer enger und enger.

    Erregt richtete er sich etwas auf und öffnete den Reißverschluss seiner Jeans, rieb sein Glied, während er das Mädchen anstarrte. Dann verschwand sie mit dem Jungen in der Disco.

    Er wartete geduldig, gleichzeitig aufgeregt, schwitzte im Auto, obwohl er alle Fenster heruntergelassen hatte. Einmal hatte er sich bereits Erleichterung verschaffen müssen, sein schwarzer Slip hatte Flecken. Den musste er auswaschen, bevor ihn seine Mutter in der Schmutzwäsche fand. Sie mochte es nicht, wenn er sich selbst anfasste. Das gehörte sich nicht.

    Die Dämmerung senkte sich auf die hochsommerliche Stadt. Kurz vor 22 Uhr ging die Straßenbeleuchtung an, aus der Tür der Disco drängten die ersten Jugendlichen heraus, die offensichtlich unter sechzehn Jahre alt waren. Er rieb sich fahrig über den Mund. Die Kleine war sicher dabei. Autos fuhren heran, in denen Eltern saßen, die ihre Kinder einsammelten, sodass er den Eingang nicht immer im Blick hatte.

    Leise fluchend, stieg er aus, lehnte sich unauffällig gegen die Fahrerseite, blickte über das Autodach hinweg. Dann sah er sie. Ihr Top war weit ausgeschnitten, weiß, ganz sicher trug die kleine Schlampe keinen BH und unter ihrem knappen Jeans-Mini kein Höschen. Sie schaute sich suchend um, schob dann missmutig ihre kleinen Hände in die Taschen ihres Jeansrocks.

    Sein Atem ging stoßweise, während das Mädchen ungeduldig vor der Disco auf und ab tippelte. Mehrfach sah er, wie sie angesprochen wurde, aber immer wieder abwinkte, bis nur noch wenige, deutlich ältere Discobesucher in einer Ecke am Eingang standen.

    Langsam tappte sie zu einer Laterne, lehnte sich dagegen. Er sah, wie sie gelangweilt an ihrem Zopf herumfummelte, ihr Shirt richtete, unter ihren Achseln schnüffelte und das Gesicht verzog. Gut so, dachte er und trat hinter seinem Auto hervor. Wie unbeabsichtigt ging er um sein Auto herum, hob grüßend die Hand und lächelte sie an. Überrascht lächelte sie zurück, während er so tat, als überlegte er kurz, um dann entschlossen die schmale Straße zu queren.

    „Hi! Er schob seinerseits seine Hände in die Hosentaschen. „Hat man dich vergessen? Soll ich dich nach Hause fahren?

    Varna, Bulgarien, Ende April 2018

    „Dawai! Dawai!"

    Nadja schob sich hinter den anderen Mädchen in den Kleinbus mit den abgedunkelten Scheiben und russischem Kennzeichen. Ihr Herz klopfte wild. Vadims Blick glitt prüfend über die acht jungen Frauen hinweg, die dicht gedrängt auf den zwei Bänken des Busses hockten. Er sah ihre Aufregung, bemerkte diesen Hauch von Unsicherheit und Angst in ihren Gesichtern, eines schöner als das andere. Gut so. Er grinste zufrieden unter seiner dunklen Sonnenbrille und schob mit einem letzten Blick auf Nadja die Tür des Busses zu.

    Das Geräusch ging Nadja durch und durch, löste einen Schauer in ihrem Nacken aus. Automatisch griff sie nach ihrem langen, weizenblonden Zopf und zupfte daran herum, während sie beobachtete, wie Vadim sich auf den ledernen Beifahrersitz rutschte. Er nickte dem Fahrer flüchtig zu. Es gab kein Zurück mehr, weder für ihn noch für die jungen Frauen.

    „Fahr los!"

    Der Bus rollte langsam vom Parkplatz der Agentur. Unauffällig blickte Nadja über ihre Schulter zurück. Liebe ohne Grenzen, las sie ein letztes Mal den Firmennamen, bevor der Bus auf die Straße einbog. Grenzenlose Liebe – Internationale Partnervermittlung.

    Tief aufatmend, versuchte sie eine bequeme Sitzposition zu finden. Gut zwanzig Stunden reine Fahrtzeit würden sie von Varna am Schwarzen Meer unterwegs sein, nach Martinszell in Deutschland. Sie hatte sich die Strecke im Internet viele Male angeschaut, geträumt, gezaudert, bis sie sich endgültig entschlossen hatte, es zu wagen und Bulgarien zu verlassen.

    Zwanzig Stunden Fahrt. Zuerst würden sie einen Teil von Bulgarien durchqueren, dann über Rumänien nach Ungarn kommen, an Slowenien vorbei Österreich erreichen. Österreich war sehr klein, das hatte sie gewundert. Sie würden durch Wien und München fahren, dann war es nicht mehr weit.

    Martinszell lag im Oberallgäu. Sie lauschte dem Klang des Wortes in ihrem Kopf. Allgäu. Selbst als Gedanke verknotete ihr der Name die Zunge, obwohl sie leidlich Deutsch sprach. Sie lächelte still und senkte den Kopf. Und in Martinszell, diesem kleinen Ort im Allgäu, da wo sich die Alpen in ihre einzigartigen Idylle gen Himmel erhoben, würde sie den Mann kennenlernen, mit dem sich ihre Anzeige so perfekt gedeckt hatte, dass es einfach grenzenlose Liebe sein musste. Wieder und wieder hatte sie die Bilder von Martin angeschaut, seine Videobotschaft kannte sie auswendig.

    Sie wollte mit aller Kraft daran glauben. Sie hatte bei der Partneragentur einen Kredit aufgenommen, der ihr die Fahrt nach Deutschland ermöglichte, dazu die Unterkunft im Haus der Agentur am Niedersonthofener See. Das alles selbstverständlich so diskret, dass der neue Partner davon nichts erfahren würde.

    Nein, keiner wusste davon, nur ihre Großmutter. Aber die würde schweigen. Sie hatte ihr auch ein bisschen Geld für die Reise gegeben. Nadja selbst hatte nicht viel gehabt, war sie doch seit Monaten ohne Arbeit gewesen. Ihre Großmutter hatte sich für sie gefreut, als sie ihr das Foto von dem hübschen deutschen Mann gezeigt hatte.

    Der würde es sein.

    „Martin und ich treffen uns in Martinszell im Landhaus der Agentur", hatte sie ihrer Großmutter strahlend erzählt. Baba hatte gelacht und meinte, dass es bei so vielen Martins einfach glücklich enden müsse.

    Wie im Märchen hatte sie noch angefügt. Wie im Märchen.

    Baba war auf einem großen Landgut aufgewachsen, wo sie damals im Krieg deutsche Kriegsgefangene zur Arbeit herangezogen hatten. Einer der Zwangsarbeiter hatte ihr Märchen aus seiner Heimat erzählt. Am liebsten hatte sie die Geschichte von Rapunzel gehört.

    Auch Nadja liebte Rapunzel, hatte sich ihr weizenblondes Haar immer länger wachsen lassen und sich nichts sehnlicher gewünscht, als einen Mann aus dem Land zu heiraten, aus dem das Märchen stammte: Deutschland.

    In Momenten, wie diesem konnte sie kaum glauben, dass ihre Wünsche wahr geworden waren. In knapp zwei Tagen würde sie Martin kennenlernen. Das alles war von der Agentur geregelt und von Vadim Soranow überwacht. Die Frauen würden das Landhaus erst verlassen, wenn sie sicher wussten, dass sie mit ihrem Wunschpartner mitgehen wollten. Ansonsten durften sie bleiben, bis ein neuer Kandidat gefunden war. Alles ohne Risiko. Für Frauen absolut sicher. Garantiert.

    Das hatte auch ihre Baba beruhigt.

    Am späten Nachmittag des übernächsten Tages verließ der Kleinbus mit russischem Kennzeichen an der Abfahrt Martinszell-Oberdorf die Bundesstraße 19, rollte durch den kleinen Ort hügelabwärts zum Niedersonthofener See, wo er am Ufer einer schmalen, asphaltierten Straße folgte, an deren Ende er in eine Toreinfahrt einbog, die sich sofort nach der Durchfahrt automatisch schloss.

    Die mehr als zwanzigstündige Fahrt endete vor einem großen, zweistöckigen Holzhaus, das auf niedrigen Stelzen halb in den See gebaut war.

    Grenzenlose Liebe, prangte in geschwungenen glitzernden Buchstaben über der breiten Holztür, zu der drei Stufen hinaufführten.

    Liebe ohne Grenzen!

    Acht junge Frauen stiegen vor Erschöpfung schwankend aus dem Bus. Die Frühlingssonne schickte letzte Strahlen durch die hohen Fichten, der Himmel schimmerte in zartem lila und orange, dahinter in dunklerem Blau der Abenddämmerung. Ein milder Wind brachte den Duft von Seewasser und frischem Gras, dem Harz der Fichten.

    Nadja atmete tief ein und griff nach ihrem Pferdeschwanz. Sie war am Ziel. So roch die Zukunft. So roch Martins Heimat.

    Wie im Märchen war Rapunzel gerettet.

    Martinszell - Oberdorf früher Abend, Freitag, 25. Juli

    Die Hitze flimmerte noch immer über der schmalen Asphaltstraße, als Lukas Grimmel am frühen Freitagabend sein voll bepacktes Trekkingbike die letzten Meter zum Haus rollen ließ und in den Schatten der hohen Fichten eintauchte. Eine Wohltat.

    Er war mit dem Zug aus München nach Kempten gefahren und von dort aus das letzte Stück geradelt. Diese Steigungen im Allgäu war er nicht mehr gewohnt. Sein T-Shirt klebte ihm am Rücken, seine Radlerhose war an Stellen feucht, wo er es peinlich fand und er wusste genau, dass er nicht mehr besonders gut roch. Bei der Hitze versagte jedes Deo, zumal auch im Zug, wie zu erwarten, die Klimaanlage ausgefallen war.

    Trotz allem hatte die Radtour hierher seine heimatlichen Gefühle angenehm berührt. Damit hatte er nicht gerechnet.

    Ohne den Blick zu heben, schob er sein Rad durch das halb verrottete, in den Angeln hängende Jägerzauntor, zum Haus hinüber. Der einstmals helle Kiesweg war von alten Fichtennadeln bedeckt, Unkraut wucherte überall, dazwischen dicke Moosteppiche. Dann kam die unterste Stufe der Holztreppe in sein Blickfeld. Abrupt blieb er stehen, schloss die Augen.

    Das war der Moment, den er ersehnt und gefürchtet hatte, seitdem der Notar ihm das Testament seines Vaters verlesen hatte. Der Moment der Heimkehr. Der Moment, von dem er viele Jahre sicher behauptet hatte, dass er nie, niemals, garantiert nicht passieren würde. Keine Macht der Welt würde ihn aus seiner Münchner Stadtwohnung hierher zurückbringen. Never say never again.

    Heute stand er also allen, eigentlich endgültigen Entscheidungen zum Trotz vor dem Seehaus seines Vaters. Das Haus, in dem er die Sommer seiner Kindheit und Jugend verbracht hatte. Das Haus, in dem seine Mutter sich erhängt hatte, sein Vater gesoffen und der Hund im Garten verscharrt lag. Hier hatte er selbst seinen ersten Rausch herausgekotzt, angeln gelernt und mit seinen Kumpels wilde Feten am Strand gefeiert. Auch das erste Mädchen hatte er hier gevögelt.

    Dies war der Moment, wo er zu feige war, die Augen zu öffnen, um es als erwachsener Mann zu betrachten. Stattdessen roch er den modrigen Boden, die ewige Feuchtigkeit, die alles mit klammer Kälte überzog und das Haus im Winter weitestgehend unbewohnbar machte.

    Er meinte, toten Fisch zu riechen, das Harz der Fichten. Dazu das Rauschen des Windes in den Bäumen, raschelndes Schilf. Irgendwo quakte eine Ente, ein Falke rief.

    Lukas Grimmel, vom Dienst suspendierter Kriminalhauptkommissar der Münchner Mordkommission, nahm seinen erschöpften, kläglichen Rest Mut zusammen und schaute auf. Drei morsche Stufen stiegen zu der schmalen Veranda hinauf, die rund um das Haus führte, am angebauten Bootshaus endete.

    Die Haustür war mit einem Vorhängeschloss gesichert, dessen Schlüssel der Notar ihm ausgehändigt hatte. Die Fenster waren fast blind vom Dreck, dahinter peinliche, rot-weiß karierte Gardinen. Vermutlich waren die noch von seiner Mutter genäht worden. Überall hing Moos an den verwitterten Bohlen des Blockhauses, die Umrandung der Veranda war zum Teil umgestürzt und im Dach fehlten Ziegel. Er konnte nur hoffen, dass es dicht geblieben war.

    Staunend, fassungslos strich sein Blick über das, was von seiner Familie übrig geblieben war. Hierherzukommen war im wahrsten Sinne des Wortes eine Schnapsidee gewesen.

    Vorsichtig stellte er das Fahrrad an das morsche Holz des Treppengeländers, kramte den Hausschlüssel aus der Lenkertasche und setzte probeweise einen Fuß auf die erste Stufe. Es knarrte, schien aber zu halten. Bedächtig stieg er die Treppe hinauf, wohl wissend, dass ihm der schwerste Augenblick noch bevorstand.

    Zögernd fummelte er an dem Schlüssel in seiner Hand. Noch konnte er umkehren und sich oben im Ort eine Pension suchen. Genau genommen hatte er wirklich schon hinreichend Probleme. Wie bescheuert musste man sein, um sich zusätzlich noch alten Erinnerungen zu stellen? Vor allem, wenn es solche Erinnerungen wie seine waren. Die wollte kein Mensch.

    Unschlüssig lehnte er sich mit dem Rücken an die Tür und starrte in den lichten Wald vor sich. Seine Frau Bianca hatte ihm schon vor Jahren prophezeit, dass er sich eines Tages all dem stellen musste. Damals hätte sie ihn sogar bei einer Therapie unterstützt. Aber wie bei fast allem, was Bianca betraf, hatte er nicht hinsehen wollen. So wie er jetzt nicht hinsehen wollte. Eine miese Strategie, zu einfach um gut zu sein.

    Bei Bianca hatte sie auch total versagt.

    Er spürte das seit Monaten vertraute Gefühl von Enge in der Brust. Bianca raubte ihm den Atem. Früher vor Liebe, heute vor Schmerz. Konzentriert atmete er tief in den Bauch, so wie es ihm die Therapeutin beigebracht hatte. Die Angst wegatmen, nannte sie das. Ob sie wusste, wovon sie sprach? Lukas war sich sicher, dass die Dame noch nie in ihrem Leben wahrhaft Angst durchgestanden hatte. Da half Atmen nichts, außer, dass man nicht vor Panik erstickte. Dabei war das seiner Meinung nach eine echte Alternative zum Scheißleben.

    Abrupt drehte er sich um, atmete vorschriftsmäßig ein, hielt den Atem kurz und ließ ihn fast pfeifend aus seinen Lungen weichen. Dann steckte er den Schlüssel in das Vorhängeschloss, ruckelte etwas herum, bis der Bügel mit einem altersmüden Knirschen aufsprang. Achtlos ließ er es auf die Holzbohlen fallen.

    Ein weiterer Atemzug gab ihm die Kraft, die Tür aufzustoßen. Moderluft schlug ihm entgegen, pilzig und feuchtkalt. Hier war seit Jahren niemand mehr gewesen.

    Wieder zögerte er unschlüssig über den nächsten Schritt. Der Flur war dunkel, alle abgehenden Türen geschlossen. Langsam trat er ein, den Kopf instinktiv wie bei Gefahr halb gesenkt, lauernd auf das, was ihn anfallen könnte. Die Stille war erstickend. Fahrig drückte er die Klinke zur Stube auf der linken Seite. Das Zimmer seines Vaters.

    Keiner hatte es je gern betreten, schon gar nicht, wenn sein Vater getrunken hatte. Lukas öffnete die Tür einen Spalt und schob seinen Oberkörper ins Zimmer.

    Ein Blick genügte, um klarzumachen, dass er dafür noch nicht bereit war. Betont leise zog er die Tür wieder zu. Niemanden wecken. Sein Vater hatte sich wie rasend gebärdet, wenn er im Rausch gestört worden war. Fast auf Zehenspitzen tippelte er den kleinen Flur entlang, zum größten Wohnraum mit Küche, an der hinteren Stirnseite des kleinen Hauses. Rechts neben ihm wand sich die schmale Stiege zum Dachgeschoss hinauf. Dort warteten ebenfalls Räume, die er nicht unbedingt betreten wollte.

    Die Wohnstube war erleichternd hell, dank der bodentiefen Sprossenfenster und den beiden Türflügeln in der Mitte, auch wenn die Scheiben stellenweise fast blind vom Dreck waren. Dazwischen hatte man noch immer freien Blick auf den Niedersonthofener See. Nichts schien verändert. Die Korbstühle standen vertraut im Rund um den alten Holztisch, dahinter die Küchenzeile, an der schon in seiner Kindheit die billige Melaminbeschichtung abgeblättert war.

    In der gegenüberliegenden Ecke drängten sich die alten Sofas, auf denen sogar noch die schmuddeligen Karo-Überwürfe lagen. Er vermied die Frage, was darin alles leben könnte? Das verstaubte Radio auf dem Beistelltisch, aus dem Nachlass seiner Oma. Das galt sicher schon als antik. An der Wand die einfachen, mittlerweile extrem verblassten Aquarelldrucke des Niedersonthofener Sees.

    Bianca hatte das alles schon vor vielen Jahren schrecklich gefunden, sich geekelt. Aber es war ein Stück seines Lebens gewesen. Er kannte es nicht anders. Langsam tappte er durch den Raum, öffnete die Flügeltüren in der Mitte der Glasfront. Mit dem Abstand der Jahre konnte er Bianca mal wieder besser verstehen. Trotzdem hatte sie ihm mit ihrer Ablehnung immer das Gefühl gegeben, irgendwie unzulänglich zu sein.

    Feuchtwarme Luft drückte in den Raum, Staub wirbelte in den Strahlen der tief stehenden Sonne. Lukas' Blick schweifte über den kleinen Steg, der halb verfault entlang des Bootshauses in den See führte. Unter ihm gluckste das Wasser an die Pfosten des Hauses. Sonne glitzerte auf den niedrigen Wellen.

    Von der Badezone weiter oben drang schrilles Kindergeschrei an sein Ohr. Das kam ihm auf skurrile Weise friedlich vor. Er schüttelte sich, um das Gefühl loszuwerden und trat ins Haus zurück. Noch war er nicht fertig mit seiner Rückführung. Nicht zuletzt hatte ihm seine Therapeutin geraten, kontrolliert zu den Orten seiner Kindheit zurückzukehren.

    Na ja, er seufzte und musterte ein weiteres Mal die Stube, kontrolliert war seine Heimkehr nicht. Er war sich vollkommen bewusst, dass er spätestens im Obergeschoss radikal an seine emotionalen Grenzen scheppern würde. Unwillkürlich huschten seine Augen zur Holzdecke. Die Balken waren stellenweise schmierig vom Fliegendreck.

    Ergeben stapfte er in den Flur zurück zur schmalen Stiege ins Obergeschoss, wobei er misstrauisch die alten Stufen beäugte. Er hatte sich dafür entschieden ins Allgäu zurückzukehren und jetzt war kneifen einfach nicht mehr drin. Die Stufen knarzten, eine splitterte unter seinem Fuß, brach aber nicht durch. Wenn er eine Weile hier verbringen wollte, dann kam er nicht umhin ein paar Dinge zu reparieren.

    Am Ende der Treppe trat er in einen kleinen Flur, der eigentlich nur ein Absatz der Treppe war. Von hier gingen drei Türen ab. Links zur Vorderseite des Hauses befand sich das Bad oder das, was Bianca eine mittelalterliche Bakterienbrutstelle genannt hatte.

    Nur kurz drückte er die niedrige Tür auf, sah den Riss in der Fensterscheibe und die feuchten Flecken an der Wand. Wetterseite. Der Duschvorhang hing halb abgerissen, der Toilettendeckel war offen, staubig und verdreckt.

    Den sollte er gleich entsorgen. Angewidert rümpfte er die Nase. Bei Bädern und Toiletten war selbst er heikel. Vielleicht lag das daran, dass er als Polizist zu oft die intimsten Räume von Menschen betreten musste. Meistens befand sich darin eine Leiche, gern im blutigen Wasser der Badewanne, erschlagen, aufgeschlitzt, erschossen. Da bekam ein sauberes, weißes Bad eine ganz eigene Qualität.

    Auf der anderen Seite des kleinen Flurs lagen zwei Türen. Hier oben waren überall Spuren von Nässe an den alten Holzbalken, was klarmachte, dass das Dach nicht dicht sein konnte. Er murrte leise. Die Hütte war wesentlich verrotteter, als er befürchtet hatte. Abschätzend betrachtete er die weißen Wasserränder am Holz, hoffte, dass es kein Schimmel war. Er hätte im Bad das Fenster öffnen sollen.

    Die beiden anderen Türen bedeuteten seine ganz persönliche Herausforderung, von der er sicher war, dass er zumindest die Hälfte nicht bewältigen würde. Rechts die Tür führte zu seinem ehemaligen Kinderzimmer, links ins Schlafzimmer seiner Eltern. Angespannt starrte er auf die beiden Türen, entdeckte Reste von altem Tesafilm, mit dem er wahrscheinlich ein wichtiges Schild angeklebt hatte und einen abgeblätterten Pril-Blumenaufkleber.

    Beide Zimmer hatten große Sprossenfenster zum See hinaus, einen gemeinsamen Balkon. Der Ausblick war fabelhaft. Lukas Grimmel würgte. Unwillkürlich umfasste er mit seinen Händen die Kehle. Dort auf diesem Balkon hatte er gestanden und seine Mutter durch das Fenster gesehen. Sie hing am Firstbalken des Daches.

    Wie er es damals so oft getan hatte, wollte er sie auch an diesem Morgen vom Balkon aus wecken. Alles an ihr war reglos, sogar die Lache unter ihr am Boden. In seiner Erinnerung sah Lukas den Jungen draußen auf dem Balkon stehen, sah seinen Blick leer werden, minutenlang erstarrt, sah, wie er sich dann umdrehte und einfach fortging. Das war das Ende seines Lebens.

    Wieder stand er da, erstarrt. Kalter Schweiß rann ihm über den Rücken, klamm und feucht auch auf seinen Armen. Angst stank. Er hatte Angst so oft gerochen. An sich selbst bei gefährlichen Einsätzen, an den Opfern, die er während seiner Arbeit erlebte. Sogar die Täter stanken. Der Kampf gegen die Angst hatte ihn dazu bewogen, Polizist zu werden.

    „Und was hat es dir gebracht, du Volltrottel?, keuchte er um Atem ringend. „Nichts, Lukas. Nichts. All die Scheißjahre waren umsonst, alles nur dämlicher Bullshit.

    Er torkelte rückwärts zur Treppe. Dies war sein erster und garantiert auf nicht absehbare Zeit, auch letzter Gang ins Obergeschoss. Halb fiel er die Treppe hinunter, fing sich auf den letzten Stufen, prallte gegen die fleckige Holzwand des angrenzenden Bootshauses. Kurz zuckte der mahnende Hinweis seiner Therapeutin durch sein Hirn: atmen.

    „Scheiß aufs Atmen, fluchte er sich den Schweiß mit beiden Händen aus dem Gesicht reibend, „scheiß Therapie.

    Trotzdem drückte er sich energisch von der Wand ab und öffnete die Haustür. Die frische Luft löste die Bilder aus seinem Kopf. Es schien ihm, als trudelten sie über ihm erschöpft durch den sommerlichen Abend. Fast hätte er ihnen zugewinkt.

    Stattdessen griff er das bepackte Fahrrad und wuchtete es die drei Stufen hinauf. Er befand sich zwar nicht mehr in München, doch auch im Oberallgäu war kein gutes Fahrrad sicher.

    Er rollte es durch den Flur in die Wohnstube, wo er es gegen eine Wand lehnte. Konzentriert hängte er die Packtaschen aus, kickte seinen zusammengerollten Schlafsack in die Ecke bei den alten Sofas. Es staubte. Mit der Trinkflasche in der Hand schlurfte er auf die Veranda hinaus, wo er einen langen Schluck nahm und sich gemächlich entkleidete. Die Abendsonne wärmte seinen nackten Körper, er räkelte sich wohlig.

    Das war einer der wenigen Sachen, die ohne Bianca wesentlich entspannter waren. Sie hatte es gehasst, wenn er nackt in der Wohnung herumlief, obszön und peinlich hatte sie das genannt. Aber beim Sex konnte es nicht hemmungslos genug abgehen, sofern es nur richtig dunkel war.

    Er seufzte und stemmte sich über die Brüstung. Auch Bianca hatte ein paar Baustellen, die seine Therapeutin äußerst spannend gefunden hätte. Mit ruhigen Schritten stapfte er weiter in den See, hechtete dann mit einem langen Kopfsprung ins tiefere Wasser.

    Niedersonthofener See, Samstag, 26. Juli

    Als er tags darauf im Ort nach dem Lebensmittelgeschäft suchte, das es schon seit Jahren nicht mehr gab, war er überraschenderweise von den älteren Oberdorfern sofort wiedererkannt worden. Der Sohn vom alten Grimmel. Sie hatten ihn neugierig und abschätzend gemustert.

    War der Sohn auch ein Säufer? Aber bis zur Kripo in München hatte es der Bub gebracht. Lukas sah sich genötigt zu erklären, dass er das Seehaus geerbt hatte und dort ein wenig renovieren und ausspannen wollte. Dabei hatte ihn keiner danach gefragt, nur halbherzige Beileidsbezeugungen hatte es darauf gegeben. Für einen Kommissar redete er manchmal entschieden zu viel. Oder zur falschen Zeit.

    Also war er am späten Samstagnachmittag nach Kempten gefahren. Die Steigungen entlang der alten B19 machten ihm zu schaffen. Fit war anders. Aus einer Laune heraus hatte er sich die Kripo in der Hirnbeinstraße von außen angeschaut. Bis er rehabilitiert war, sein Versetzungsgesuch erfolgte und er von München nach Kempten wechseln konnte, würden unter Umständen Monate vergehen, aber München war endgültig vorbei.

    Hier lag seine Zukunft, hier im Oberallgäu, auch wenn er das nie vermutet hätte. Das Gebäude war ein klassischer Amtsbau, robust, nüchtern und etwas einschüchternd. Nicht unsympathisch, fast provinziell. Genau das, was Grimmel meinte zu brauchen.

    Danach hatte er bei einem Discount am Stadtrand ein paar notwendige Lebensmittel eingekauft und den Heimweg angetreten.

    Der Tag war wieder brüllend heiß gewesen, seine Trinkflasche war längst leer. Aber er hatte es fast geschafft. In München war Radeln zwar gefährlicher, dafür deutlich komfortabler. Wie am Tag zuvor ließ er sich den Hügel von Oberdorf zum See hinunterrollen, bog nach links zu den alten Strandhäusern ab. Er wunderte sich über die vielen Autos am Straßenrand, fette BMWs, schnittige Audis, Porsche. Die komplette deutsche Nobelpalette war vertreten.

    Als ihm ein Auto auf der einspurigen Anliegerstraße entgegenkam, stieg Lukas Grimmel vom Fahrrad und drückte sich ausweichend in eine Lücke zwischen einem Cayenne und einem A6. Sehr wahrscheinlich lag es daran, dass er Polizist war, aber eine so lässige Auslegung der Straßenverkehrsordnung fand er vollkommen daneben. Die gesamte Straße unterlag einem strikten Parkverbot.

    Er schickte einen giftigen Blick auf das Auto. Ein schwarzer Mercedes Kleinbus mit verdunkelten Scheiben und russischem Kennzeichen, wie er überrascht erkannte. Die sah man im Oberallgäu nicht so häufig.

    „Zuhälterkarre!", knurrte er sein Rad weiterschiebend. Auf Höhe seines Nachbarhauses überholte ihn ein Auto in Schrittgeschwindigkeit. Dieses Mal nur ein Polo älteren Baujahres, dessen vordere Stoßstange mit Klebeband geflickt war.

    Wider Willen musste Lukas grinsen. Er stoppte vor dem Tor des Hauses, das von einem hohen Holzzaun umschlossen war. Er meinte, gedämpfte Musik zu hören und Stimmengewirr. Vermutlich wurde dort eine Party gefeiert. Das erklärte die vielen Autos. Spontan milde gestimmt musterte er das kleine Logo neben der fetten Messingklingel.

    Grenzenlose Liebe", las er leise, seine Brauen hoben sich überrascht. „Liebe ohne Grenzen Internationale Partnervermittlung."

    Und das im spießigen Oberallgäu. Er grinste wieder. Vielleicht sollte er das auch mal ausprobieren. Im Ort hatte man ihm am Vormittag unter vorgehaltener Hand zugetuschelt, dass das Haus als Swingerclub oder gar als Bordell verwendet wurde, die Partnervermittlung sei jedenfalls mit absoluter Sicherheit nur Tarnung.

    Der alte Bäcker sprach auch von Russenmafia, weil dauernd dieser röhrende Kleinbus mit dem berüchtigten RUS herumfuhr, ganz finstere Gestalten. Der Bäcker hatte ihm zugeflüstert, dass es grad gut sei, dass er jetzt im Sommerhaus wohne, er sei ja ein Kriminaler, der denen mal auf die Finger schauen konnte.

    Dazu hatte er mahnend mit der Hand gewedelt.

    Lukas' Grinsen verschwand. Nachdenklich musterte er das Tor. Er hatte das Gewäsch des Bäckers nicht ernst genommen. Aber war nicht eben tatsächlich ein Kleinbus mit russischem Kennzeichen an ihm vorbeigefahren? Eine echte Zuhälterkarre mit abgedunkelten Scheiben und viel Sound im Auspuff. Egal, er war weder im Dienst noch in einem Zustand, um Undercover zu ermitteln. Wobei das wenigstens mal ein erregendes Milieu gewesen wäre.

    Gerade, als er sein Fahrrad endlich die letzten Meter nach Hause schieben wollte, schritt eine Frau auf das Tor zu. Er beachtete sie nicht. Seit Bianca ihn verlassen hatte, verengte sich sein Blickfeld, sobald eine Frau in seine Nähe kam. Scheuklappen. Das hier ging ihn alles nichts an. Wenn die es nötig hatte in einen Swingerclub zu gehen, dann war sie es selbst schuld.

    Da zahlte er doch lieber im Puff für einen professionellen Blowjob ohne Risiko auf Bissspuren an seinem besten Stück.

    Sie stöckelte an ihm vorbei, er meinte ein unsicheres Servus zu hören, aber er reagierte nicht. Die High Heels konnte er leider nicht ausklammern. Feuerrot, glänzend, mit goldenen Absätzen, mindestens zehn Zentimeter hoch, ein zartes Riemchen um eine schlanke, gebräunte Fessel. Scharfe Teile. Bianca hätte so etwas exorbitant ordinär gefunden.

    Übermäßig aufmerksam peilte er zwischen den eng parkenden Autos die Straße hinunter.

    „Lukas?"

    Lukas Grimmels Schritte stockten Bruchteile von Sekunden. Wollte er hier vor dem Swingerpuff von High Heels angesprochen werden? Die Entscheidung erübrigte sich, denn die Schuhe klackerten näher.

    „Lukas Grimmel, bist du das?"

    Unwillig drehte er sich um. Eigentlich war das heute schon wieder entschieden zu viel Lukas Grimmel und zu viel Grimmel´sche Geschichte gewesen. Selbst schuld, wenn man an den Ort seiner Kindheit zurückkehrte.

    Eine gertenschlanke Frau in seinem Alter stöckelte die wenigen Schritte auf ihn zu. Er platzierte das Fahrrad demonstrativ zwischen sich und fixierte konzentriert seinen abgewetzten Fahrradsattel

    „Echt, ich fasse es nicht!, rief sie die Hände ausstreckend. „Lukas! Wie geil! Dich habe ich ja ewig nicht gesehen.

    Überraschend, dachte Lukas ärgerlich, während er versuchte sich zu sammeln. Natürlich hatte diese Frau ihn ewig nicht gesehen, er war schließlich seit mehr als einem Jahrzehnt nicht daheim gewesen. Daheim?

    Okay, überlegte er weiter, bis drei zählen und aufschauen. Atmen. Abrupt löste sich sein Blick vom Fahrradsattel und prallte direkt in das Gesicht der Frau, wo er ratlos hängen blieb. Sein Personengedächtnis war eigentlich legendär, doch in diesem Augenblick hätte er geschworen, diese Frau noch nie gesehen zu haben. Aber das konnte nicht sein, wenn sie wusste, wer er war. Angestrengt blinzelte er. In seinem Hirn ratterte das Zeitrad rückwärts, verjüngte das Gesicht vor ihm, bis er überrascht die Augen aufriss.

    „Wow, dieses Mal taxierte er die Frau vor sich ganz bewusst. „Biggi Schreyvogel. – Du hast dich mal hübsch gemausert.

    Seine Augen wanderten anerkennend über ihre Gestalt, weswegen er sein albernes Wortspiel nicht bemerkte. Ein lachsrotes, langes Sommerkleid aus durchscheinendem Chiffon umspielte ihre schlanke Figur. Man sah die Spitzenunterwäsche hindurchschimmern. Die schmalen Trägerchen mit Glitzersteinen betonten ihre zarten Schultern, über die ein halber Meter dunkelbraune Haare fielen. Beine bis zum Hals.

    Die Schuhe hatten ihn ja auf Anhieb betört und für ihr Alter war sie überraschend glatt um die braunen Augen. Sie als heißes Teil zu bezeichnen, wäre übel untertrieben gewesen.

    „Wow …, wiederholte er, spürte gleichzeitig, wie sich der Druck in seiner Jeans erhöhte. Irritiert schaute er kurz zur Seite. „Echt, Hammer. Mit deinem Aussehen wird es garantiert nicht lange dauern, bis die Partnervermittlung eine Schlange von Anwärtern für dich datet.

    Sie lachte kokett und glockenhell, stupfte ihn dabei über das Fahrrad hinweg gegen die Brust. „Früher warst du nicht so charmant, Lukas. Hast in München Manieren beigebracht bekommen? – Was treibst du hier?"

    Von Treiben war er Lichtjahre entfernt, wenn er nicht in einen Puff gehen wollte. Er seufzte leise. An Sex konnte er sich kaum noch erinnern, an guten schon gar nicht.

    „Nichts Konkretes. Ich mache Urlaub. Beim Vater waren Manieren nicht so gefragt."

    Ein wissendes Blinzeln war alles, dann lächelte sie wieder. „Urlaub im alten Sommerhaus?"

    Unsicher richtete er sich etwas auf und packte das Fahrrad fester. Noch mehr Fragen wollte er eigentlich nicht beantworten.

    Biggis Blick durchleuchtete ihn. Sie kannte Männer wie ihn zur Genüge. Reizende Kerle, eigentlich grundsolide, aber sie trugen ihre verkorkste Kindheit wie einen Altar vor sich her, suchten sich Frauen, die vermeintlich besser auf sie aufpassten als ihre Mütter. Das war ja manchmal ganz reizend und niedlich, aber dauerhaft extrem nervig.

    Wobei, sie musterte Lukas Grimmel noch einmal mit einem tiefen Blick, den er nicht erwidern konnte. Sie schmunzelte, denn Lukas zog es vor, den siffigen Sattel seines Rades zu betrachten, anstatt sie. Lukas hatte es tatsächlich schwer gehabt mit dem gewalttätigen Säufer und einer Mutter, deren Selbstmord er fast live erlebt hatte.

    Bevor sich Lukas zu einer Antwort aufraffen konnte, kam ein Mann zwischen den parkenden Autos hindurch auf sie zu. Lukas wusste sofort, dass er nun den perfekten Grund hatte, um sofort zu gehen. Der Typ war jünger als er und in deutlich besserer Verfassung und mit deutlich mehr Geschmack ausgestattet. Bianca hätte ihn rasend gefunden und auch Biggi wendete sich ihm sofort zu.

    Der Mann war durchtrainiert, ein Sixpack zeichnete sich unter seinem engen, weißen Armani-T-Shirt ab, das wiederum in einer engen, modern verwaschenen Jeans steckte. Lukas spuckte innerlich aus. Die Typen konnte er ab wie Pickel nach dem Rasieren.

    Automatisch zog er seinen Bauch ein und straffte sich. Bianca hatte sich immer beschwert, dass er solch eine schlechte Haltung habe, dazu der schlaffer werdende Bauch, der mehr vom Bier trainiert, als vom Sport gestählt war. Dabei war bei Bianca zuletzt auch nicht mehr alles an der Stelle gewesen, wo er es vor fast zwanzig Jahren vorgefunden hatte. Der Zahn der Zeit machte vor niemandem Halt, auch nicht vor solchen Styling-Fuzzis.

    Ungeniert griff der Kerl Biggi mit einer Hand an den Po, drückte kräftig zu und küsste sie gleichzeitig auf die Wange.

    „Servus, Sexi-Hexi-Biggi, wartest schon auf mich?"

    Lukas ignorierte er. So einer war keine Konkurrenz, der war nur ein Mitleids-Objekt für Frauen mit Helfer-Syndrom.

    Biggi giggelte und lehnte sich kurz an das Armani T-Shirt. „Auf dich zu warten, würde sich sogar lohnen, Fabio. Wo steht dein obergeiles, fettes Audi-Cabrio?"

    Klar, dachte Lukas, auch noch Möchtegern-Understatement. Für einen 911 hatte es nicht gereicht.

    „Magst lieber eine Cabrio-Tour machen, Biggi, als Party? Ich fahre dich bis ans Ende der Welt, wenn du willst." Sein Arm rutschte vom Po hoch zu ihren Schultern und drückte sie an sich.

    „Das Ende der Welt gibt es nicht, sorry, da muss ich euch enttäuschen. Lukas schickte ein stahlhartes Lächeln in die Runde, eines, das er sonst gern im Verhör angebracht hatte. „Es ist auch nicht so, dass ihr am Ende einfach mit dem Cabrio von der Platte kippen würdet. Falls du dein Smartphone bedienen kannst, such bei Google doch mal nach einem Bild der Erde. Dann wird dir bestimmt klar, warum die Erde kein Ende hat. – Ich muss jetzt los, ciao, Biggi.

    Er nickte nachlässig zum Tor der Partnervermittlung und schob sein Rad endgültig auf die Straße. „Viel Spaß …"

    Ätzend, dachte er. Versteh einer die Frauen.

    „Ciao, Lukas …" Biggi sah ihm kurz nach. Ehrlich, der Kerl tat ihr leid und das nicht nur, weil er offensichtlich ein Looser war. Lukas hatte schon immer etwas Besonderes an sich gehabt. Vermutlich etwas, was sie nicht testen sollte. Ergeben zuckte sie die Schultern und wendete sich Fabio zu.

    „Gehen wir rein?"

    Lukas drehte sich nicht um, bis er die Ecke des hohen Holzzaunes erreicht hatte. Dann holte er gepresst Luft und schaute zum Haus. Sein Verhalten war albern gewesen. Für so einen Testosteron-Scheiß war er eigentlich zu alt.

    Aus den Augenwinkeln vermeinte er eine Bewegung zu sehen, sein Blick huschte zum Giebel des Agenturhauses. Es hätte ein Gesicht sein können, dort oben am Speicherfenster. Einen Moment lang starrte er hoch, doch da war nichts mehr.

    Nadja konnte sich riechen. Ihr Körper klebte vom Schweiß, ihr langer Zopf juckte. Angewidert sah sie an sich herunter. Ihr Trägertopp hatte feuchte Stellen, ihr Höschen und ihre nackten Beine waren staubig vom Holzboden. Neben ihr wälzten sich die anderen Mädchen auf den dünnen Matratzen herum, jeder gierte nach dem Hauch von Luft, der durch die Ritzen der kleinen Giebelfenster in den Dachraum zog.

    Leise Stimmen drangen vom Parkplatz zu ihnen hoch. Sie hatten absolutes Redeverbot. Nicht einmal flüstern durften sie und jede hielt sich daran, denn keine wusste, wer die andere im Zweifelsfall verraten würde.

    Fast lautlos, nur ihre Zehen knacksten, kroch sie zum Giebelfenster. Aufrecht stehen konnten sie hier oben nicht. Die Enge des niedrigen Speicherraumes machte ihr zu schaffen, die Hitze klemmte ihre Lungen. Sie spürte die angespannten Blicke der anderen sechs Mädchen in ihrem Rücken. Eine fehlte, zu acht waren sie aus Bulgarien gekommen. Was mit ihr geschehen war, wussten sie nicht.

    Nadja musste jetzt aus dem kleinen runden Fensterchen schauen, wenigstens einen Blick ins Freie riskieren, sonst überrollte sie bald die Panik der Enge. Fahrig wischte sie mit zwei Fingern über die staubige Scheibe. Das Glas war alt und wellig, sie roch den Moder des Holzes. Seltsam tröstlich erinnerte sie der Geruch an das Haus ihrer Oma in Varna am Schwarzen Meer.

    Einen gequälten Atemzug lang fluteten sie die Bilder der Bucht von Varna, auf die man vom Haus ihrer Baba herabsah. Sie hatte ihrer Oma einen Brief schreiben müssen, dass es ihr gut ginge und mit Martin sehr glücklich sei. Vadim hatte mit der Peitsche in der Hand neben ihr gestanden, während sie schrieb.

    Mehr als einmal hatte sie erlebt, mit welcher Präzision und welchem Genuss er die Peitsche führte. Deniza hatte er die Fußsohlen zerschlagen, weil sie nicht schreiben wollte. Deniza hatte sich nie gefügt. Es war Deniza, die fehlte. Die kleine zarte Deniza mit den schwarzen Haaren, die wie Schneewittchen ausschaute. Auch das war ein Märchen aus Deutschland, in dem ein Prinz das schöne Schneewittchen rettete.

    Deniza hatte er vermutlich nicht mitgenommen.

    Nadja holte stockend Luft. Keiner wagte darüber nachzudenken, was mit Deniza geschehen war. Sie hatte die Freier nur noch liegend empfangen können und dann war sie zu dem einen gebracht worden, von dem man schlimme Dinge tuschelte.

    Ein leises

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