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DIE SCHWARZE PERLE VON NEVIANAR - Eine spannend erzählte Heldenreise als Fantasy-Roman mit überraschenden Wendungen: GEFAHRVOLLES ERBE - Die unfreiwillige Heldin soll eine fremde Welt retten, kämpft mit Worten gegen Vorbehalte ihrer Mitstreiter und mit dem Schwert gegen Diener einer dunklen Macht
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eBook839 Seiten12 Stunden

DIE SCHWARZE PERLE VON NEVIANAR - Eine spannend erzählte Heldenreise als Fantasy-Roman mit überraschenden Wendungen: GEFAHRVOLLES ERBE - Die unfreiwillige Heldin soll eine fremde Welt retten, kämpft mit Worten gegen Vorbehalte ihrer Mitstreiter und mit dem Schwert gegen Diener einer dunklen Macht

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Über dieses E-Book

Grace Goodhard beerbt ihre Großmutter und findet in deren Haus die Kette mit der schwarzen Perle. Sie legt sie an und gerät unversehens in die archaische Welt Nevianar. Gefahrvolle Tage verzweifelten Suchens nach Informationen, die ihr ein Entkommen ermöglichen sollen, liegen hinter ihr, als sie dem martialischen, frauenverachtenden Krieger Danrot begegnet. Er trägt einen Ring mit weißer Perle und behauptet, dass es ihrer beider Schicksal sei, Nevianar durch Erfüllung einer Prophezeiung vor einer alles bedrohenden dunklen Macht zu bewahren. Dafür müsse sie kämpfen wie ein Krieger.
Ist Grace dazu bereit, um nach Hause zu gelangen? Ist sie bereit, für Nevianar zu töten?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Dez. 2023
ISBN9783384083753
DIE SCHWARZE PERLE VON NEVIANAR - Eine spannend erzählte Heldenreise als Fantasy-Roman mit überraschenden Wendungen: GEFAHRVOLLES ERBE - Die unfreiwillige Heldin soll eine fremde Welt retten, kämpft mit Worten gegen Vorbehalte ihrer Mitstreiter und mit dem Schwert gegen Diener einer dunklen Macht

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    Buchvorschau

    DIE SCHWARZE PERLE VON NEVIANAR - Eine spannend erzählte Heldenreise als Fantasy-Roman mit überraschenden Wendungen - B. Weber

    1

    Bleigraue Wolken entluden ihre schwere Fracht. Vor drei Tagen hatte es zu regnen begonnen und seither nicht aufgehört. Vor drei Tagen war Agatha Goodhard auf ihre letzte Reise gegangen und es schien, als wolle der Himmel selbst ihren Tod beweinen.

    Kein Windhauch rührte sich. Tropfen fielen, als hätten Perlenvorhänge ihre Knoten eingebüßt, prasselten auf schwarze Schirme und einen schlichten Sarg. Hinter nassem Schleier glänzte polierter Granit fremder Gräber. Schlanke Bäume säumten die schmalen Wege, ragten aufrecht und stoisch ins Regengrau wie stumme Wächter eines verborgenen Reiches.

    Nur wenige geleiteten Agatha Goodhard zur letzten Ruhe. Ihr Sohn Jonathan hatte seiner Tochter Grace zuliebe die über vierhundertfünfzig Meilen auf sich genommen, um seine Mutter unter die Erde zu bringen. Seine Frau Valerie wäre im Hotel geblieben, hätte sie nicht beschlossen, beide im Auge zu behalten.

    Agatha hatte nie verstanden, weshalb ihr Sohn sich nach dem frühen Tod seiner ersten Frau Belle – Graces Mutter – für Valerie entschied. Sie war kalt und dominant und Agatha war es so vorgekommen, als hätte sie ihren Sohn Stück für Stück auseinandergenommen, um ihn nach ihrem Willen neu zu formen. Ausschlaggebend für eine unversöhnliche Abneigung war jedoch, dass sie erleben musste, wie aus ihrem wilden, unbeschwerten Enkelkind ein fügsames, ruhiges Mädchen wurde. Agatha hatte sich anderes gewünscht und all ihre Hoffnung in Grace gesetzt, obwohl sie nie mit ihr darüber hatte sprechen dürfen, welches Geheimnis sie miteinander verband.

    Nachdem Belle gestorben war, lebte die damals Fünfjährige ein Jahr bei Agatha. Jonathan hatte nur noch am Rande seiner selbst existiert und sich um seine Tochter nicht mehr kümmern können. Grace war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten und er ertrug es nicht, wieder und wieder daran erinnert zu werden, was ihm genommen worden war. Agatha nahm sich ihrer an, tröstete, machte Mut und festigte Graces Selbstvertrauen. Nach wenigen Wochen war ihr der schwere Verlust äußerlich kaum mehr anzumerken. Sie lachte wieder, spielte und tobte ausgelassen mit dem Nachbarsjungen durch den großen Garten.

    Bis Valerie in ihrer aller Leben trat.

    Zum wiederholten Mal stockte der Wagen, auf dem Agathas Sarg zum Grab gefahren wurde. Die Wege waren vom Regen aufgeweicht und in Senken hatten sich tiefe Lachen gebildet, aus denen er mühsam herausgeschoben werden musste. Die Sargträger taten das mit unerschütterlichem Gleichmut, obwohl ihre nachtschwarzen Anzüge längst durchnässt und verdreckt waren.

    Valerie hingegen beklagte lautstark den Zustand ihrer Schuhe. »Sieh dir das an, Jonathan. Diese verdammte Beerdigung wird sie mir ruinieren«, zischte sie und wies erbost auf den Schlamm am teuren Leder. »Sogar tot ist deine Mutter eine Plage.«

    Grace schämte sich für sie. Jonathan schwieg.

    Sie waren bereits verheiratet, als er Valerie mit zu seiner Mutter nahm, damit sie sich das fremde Kind, wie sie Grace lange nannte, ansehen konnte. Die Fäuste in die Hüften gestemmt begutachtete sie seine Tochter, als wolle sie ein Stück Fleisch kaufen und entschied, sie sofort mitzunehmen. Man könne doch nicht zulassen, dass ein Mädchen im Dreck spiele, mit einem Holzschwert herumtobe und sich benehme wie Huckleberry Finn.

    Die Begegnung mit Valerie und deren Ankündigung, sie solle mit ihr kommen, waren für Grace derart beängstigend, dass sie sich von ihr losriss und in der hintersten Ecke des Kellers versteckte. Agatha war entsetzt, es kam zum Streit. Valerie gewann die Schlacht, Agatha verlor ihre Enkeltochter, Grace ihre Unbeschwertheit. Und Jonathan? Er hatte schon lange alles verloren.

    Grace zog ein frisches Taschentuch aus der Packung, wischte die Tränen von den Wangen und putzte sich die Nase, während die feierlichen Worte des Reverends im Regen untergingen. Obwohl Großmutter ihr zuweilen seltsam vorgekommen war, hatte sie sie aufrichtig geliebt. Seit sie vor über zwölf Jahren bei ihr abgeholt worden war, hatten sie sich selten gesehen. Anfangs telefonierten sie oft, doch die missbilligenden Blicke ihres Vaters und Valeries abfällige Kommentare verunsicherten sie. Die Telefonate wurden seltener.

    Der Gottesmann gab ein Zeichen, der Sarg wurde herabgelassen. Grace warf einen Blumenstrauß ins Grab; neben dem schlichten Kranz ihres Vaters und einem Gesteck der Kirchengemeinde die einzigen Blumen für Agathas Heimgang.

    Jonathan und Valerie traten stehenden Fußes den Rückweg an. Grace folgte unwillig. Trotz des strömenden Regens wäre sie gern einen Moment geblieben, um sich zu verabschieden und ein letztes Gebet zu einem Gott zu sprechen, an den sie nicht so recht glauben mochte.

    Mit Großmutter war nun der zweite wichtige Mensch in ihrem Leben gestorben. Tränen rollten ihr über die Wangen, als sie wie von einem unsichtbaren Band gehalten zögernd einen Schritt vor den anderen setzte. An der ersten Wegbiegung blickte sie zurück. Zwei Männer, in bodenlange Umhänge gehüllt, standen am Grab. Friedhofspersonal, glaubte sie und schluckte. Dass Großmutters Sarg mit nasser Erde bedeckt werden würde, versetzte ihr einen Stich. Unfähig sich abzuwenden, beobachtete sie, wie die Männer sich verneigten. Einer von ihnen sank auf seine Knie, als wäre er von tiefem Schmerz ergriffen. Keine Totengräber, dachte sie und fragte sich, weswegen sie zu spät zur Beisetzung kamen, wenn sie Großmutter so sehr geschätzt hatten. Der Stehende sah sie an. Er war groß, kräftig, etwa Ende dreißig, Anfang vierzig, hatte scharf geschnittene Gesichtszüge und dunkle Augen. Sein Ausdruck war ernst, sein Blick musternd, durchdringend und wissend. Wie ein wortloses Versprechen.

    Grace ließ ihren Schirm sinken. Einem inneren Drang folgend stapfte sie zurück, um von den Männern zu erfahren, woher sie Großmutter gekannt hatten. Der Hüne sprach den Knienden an, der kam behände auf die Beine. Sie wandten sich um, gingen ein paar Schritte, verharrten kurz und waren plötzlich verschwunden, als hätte der Regen sie aufgelöst, wie heißer Tee ein Stück Zucker. An ihrer Wahrnehmung zweifelnd starrte Grace auf die Stelle, wo sie eben noch gestanden hatten. Bis Valeries Stimme das Prasseln übertönte.

    »Grace, was ist? Wir haben nicht ewig Zeit!«

    Sie hatte darauf bestanden, den Notartermin zur Testamentseröffnung auf den Tag der Beerdigung zu legen, um nicht wegen lästiger Formalitäten wieder und wieder herkommen zu müssen. Valerie hatte auch einen Makler herausgesucht, der Agathas Haus verkaufen würde. Sie wollte nichts daraus in ihrem eigenen sehen und hatte daher bestimmt, dass niemand aus der Familie es noch einmal betreten solle.

    Seit sie wusste, dass die verhasste Schwiegermutter ihr Leben ausgehaucht hatte, sprach sie von dem Geld, das sie bald haben würde. Grace musste sich ihre Pläne anhören und ihre Vorfreude ertragen. Sie war traurig und wütend, dass Valerie jedes Andenken an Großmutter auszulöschen suchte. Wütend war sie vor allem auf sich selbst, weil sie nicht den Mut fand, ihr zu widersprechen. Nachdem sie an Agathas Grab gestanden hatte, wuchs der innere Widerstand, als hätte Großmutter ihr ein letztes Mal Kraft gegeben, wie sie es früher tat. Dennoch schwieg sie auch auf der Fahrt zum Notar.

    Eine Sekretärin mittleren Alters, das aschblonde Haar zu einer Art Vogelnest aufgebauscht, führte sie hinein. Holzvertäfelte Wände, bodenlange Vorhänge, mit Fachliteratur bestückte Regale und die mit gestepptem Leder gepolsterte Tür verliehen dem Raum eine altehrwürdige Atmosphäre. Grace fühlte sich wohl und geborgen, obwohl alles darin aus der Zeit gefallen schien. An den Notar erinnerte sie sich. Sie war ihm mehrfach begegnet, als sie bei Agatha lebte. Samuel Porter war groß, hager und immer stilvoll gekleidet. Das weiße Haar war sorgsam frisiert und er roch nach Old Spice. Inzwischen war er sicher über achtzig Jahre alt.

    Er begrüßte die Anwesenden und bekundete sein aufrichtiges Beileid. Danach stellte er behutsam eine flache Metallkassette auf den großen, dunkelbraunen Schreibtisch, entnahm ihr verschiedene Umschläge und Papiere und verteilte sie auf der glänzenden Nussbaumplatte. Unmerklich nickte er Grace zu, nahm dahinter Platz, setzte eine Lesebrille auf und begann.

    »Jonathan, Grace, wenn Sie soweit sind.« Über die halbe Brille hinweg sah er sie an und wartete auf deren Zustimmung. »Lassen Sie mich vorab eines sagen, Jonathan. Wie Sie ja wissen, verband mich mit Ihrer Mutter enge Freundschaft, deshalb bat sie mich, die Regelung des Nachlasses in die Hand zu nehmen. Ich bedaure den Tod Ihrer Mutter sehr. Darüber hinaus bedauere ich, dass Sie bis zuletzt keinen Weg mehr zu ihr gefunden haben.«

    »Waren Sie tatsächlich mit ihr befreundet«, mischte sich Valerie ein, »dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass sie verrückt war.«

    Der Ausdruck des Alten verhärtete sich. »Ich würde Sie ungern bitten, das Büro zu verlassen, also zwingen Sie mich nicht dazu.«

    Valerie stutzte, setzte an, etwas zu erwidern und verstummte. Grace staunte. Sie kannte sonst niemanden, dem es gelänge, ihre Stiefmutter mit nur einem Satz zum Schweigen zu bringen.

    »Ich habe den Eindruck, dass weitere Worte überflüssig sind«, fuhr Porter fort und nahm einen der Umschläge zur Hand. »Ich werde nun das Testament verlesen und Ihnen nicht mehr als nötig Ihrer kostbaren Zeit rauben.«

    Der letzte Wille der verstorbenen Agatha Goodhard trieb Valerie die Zornesröte ins Gesicht. Nicht deren einzigem Sohn Jonathan, sondern dessen Tochter Grace fiel alles zu, was sich im Besitz der alten Dame befunden hatte.

    »Das macht gar nichts«, raunte sie um Beherrschung bemüht. »Es spielt keine Rolle, wer von euch den Vertrag für den Verkauf des Hauses unterschreibt, nicht wahr, Grace? Du wirst dich dem Willen deines Vaters nicht widersetzen.«

    Grace schluckte, sah Porter hilflos an und barg ein durchfeuchtetes Taschentuch aus ihrer schwarzen Jeans. Der Notar wandte sich ihrem Vater zu.

    »Jonathan, ich habe hier ein an Sie gerichtetes Schreiben«, sagte er. »Agatha wollte Ihnen damit die Entscheidung erklären und ihr Bedauern bekunden über den fehlenden Kontakt.« Er reichte ein Kuvert über den Tisch.

    Blitzschnell griff Valerie danach. »Das interessiert hier keinen«, zischte sie und ließ den Umschlag demonstrativ in einen ledernen Papierkorb gleiten.

    »Nun, das tut mir sehr leid für Sie, Jonathan«, sagte Porter.

    Valerie verstand die Anspielung, ihre Augen blitzten. Er ignorierte sie wie einen Fleck auf dem Gehsteig.

    »Grace, ich möchte Sie bitten, noch ein paar Minuten zu bleiben, allein«, sagte er.

    Mit einer Handbewegung wies er die anderen aus dem Raum. Valerie schäumte, Jonathan hatte in den letzten Stunden kaum ein Wort gesagt. Mit geballten Fäusten verließ er das Büro.

    Porter betrachtete Grace mit wachen, grauen Augen, als wolle er herausfinden, ob sie bereit sei für ihr Erbe.

    »Warum waren Sie nicht bei der Beerdigung?«, fragte sie in die Stille.

    Porter lächelte entschuldigend. »Wer selbst mit einem Fuß im Grab steht, mag nicht unbedingt in eines hineinschauen. Ich habe das mit Agatha so besprochen. George befreite sie gleichermaßen von der Verpflichtung, an der traurigen Veranstaltung teilzunehmen. Er hätte es nur schwer ertragen, der Ehefrau Ihres Vaters zu begegnen. Sie erinnern sich an George Milton?«

    Grace nickte.

    »Agatha spürte, dass es zu Ende ging. George und ich konnten uns von ihr verabschieden, ehe der Herrgott sie zu sich rief.«

    Grace tupfte sich die Augenwinkel. »Das hätte ich auch gern.«

    »Ihre Großmutter hat an Sie ebenfalls einen Brief geschrieben.« Er reichte ein weiteres Kuvert über den Tisch, ein flüchtiger Blick ging zur Tür. »Ich wollte sichergehen, dass Sie ihn ungestört lesen können.«

    Mit zitternden Fingern öffnete sie den Umschlag und entnahm ein einzelnes Blatt.

    Mein liebes Kind – so hatte Großmutter sie oft genannt –, wenn Du diesen Brief in Händen hältst, bin ich meinen letzten Weg gegangen. Grace nahm ein frisches Taschentuch aus der Packung. Weine nicht, ich hatte ein aufregendes und erfülltes Leben. Du, mein Kind, hast Deines noch vor Dir. Ich wünsche Dir Kraft und alles erdenklich Gute dafür.

    Meinen Besitz vertraue ich Dir an, weil ich glaube und hoffe, dass Du mein Andenken bewahren wirst. Natürlich steht es Dir frei, alles, auch das Haus zu verkaufen. Bevor Du das entscheidest, verbringe einige Tage darin, um herauszufinden, wie außergewöhnlich es ist.

    Eine Kleinigkeit – sie liegt in einem Holzkästchen auf dem Kaminsims im Lesezimmer – darfst Du jedoch keinesfalls in andere Hände geben. Ich bin sicher, sie wird Dir einmal genauso viel bedeuten wie mir. Bewahre sie um jeden Preis und sei vorsichtig; mehr kann und darf ich Dir nicht sagen.

    Deine Dich liebende Großmutter Agatha.

    Porter war hinter dem Schreibtisch hervorgekommen. Während Grace beschämt von ihrem Mangel an Haltung die Wangen trocknete, legte er ihr tröstend seine faltige Hand auf die Schulter.

    »Ich denke, es ist an der Zeit, eigene Wege zu beschreiten. Sie sind alt genug. Nehmen Sie Ihr Leben in die Hand.« Er lächelte. »Agatha erzählte mir, Sie hätten die High-School sehr erfolgreich abgeschlossen und wollten Geschichte studieren. Nutzen Sie das Erbe, um auf eigenen Füßen zu stehen. Ich kann Ihnen keine Entscheidung abnehmen, aber ich versprach Agatha, Sie im Rahmen meiner Möglichkeiten zu unterstützen. Denken Sie darüber nach, Grace«, riet er in einem Ton, der Forderung war und zugleich ein Versprechen.

    »Danke, Mr. Porter, aber das ist nicht so einfach«, erwiderte sie und ärgerte sich, dass sie sich anhörte wie ein kleines Mädchen.

    »Das Leben ist eine Herausforderung. Stellen Sie sich ihr und haben Sie den Mut, sich etwas zuzutrauen. Agatha war überzeugt, dass Sie einmal Großes leisten werden.«

    Grace lächelte. Das hatte sie auch einmal zu ihr gesagt.

    Valerie hatte die Brauen in die Stirn gezogen und gelacht, als sie erstmals erwähnte, dass sie auf die Universität gehen wolle. »Du und studieren? Wozu Zeit und Geld verschwenden. Erspare dir die Mühen und uns eine Enttäuschung. Such dir lieber einen reichen Mann.«

    Dies war eine der seltenen Momente, in denen Jonathan aufbegehrte und für Grace Partei ergriff. Es gäbe gute Gründe zu studieren, hatte er gesagt, er würde sich seiner Tochter nicht in den Weg stellen. Valerie hatte ihn angefunkelt und schließlich lauthals gelacht. Den unvermeidlichen Streit trugen sie in der darauffolgenden Nacht aus. Jonathan war unerwartet standhaft geblieben, seither tat Valerie so, als hätte der Abend nie stattgefunden.

    Grace schaute auf den Brief in ihrer Hand, dann zur Tür, hinter der ihr Vater und Valerie warteten. »Wissen Sie, was drin steht?«, fragte sie Porter.

    »Ja, das weiß ich.«

    »Wissen Sie auch, was ich unbedingt behalten soll? Und warum schreibt sie, ich soll vorsichtig sein?«

    »Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen, Grace. Ich kann Sie nur bitten, Agathas Worte zu beherzigen.«

    Sie las die Zeilen ein weiteres Mal, dann fiel ihr Blick auf den Umschlag im Papierkorb, auf dem in geschwungener Handschrift der Name ihres Vaters stand.

    Porter folgte ihrem Blick. »Oh ja, richtig. Den hätte ich beinah vergessen.« Er fischte das Kuvert aus dem braunen Behälter. »Ich werde den Brief aufbewahren. Vielleicht kommt eine Zeit, da Ihr Vater sich für die Worte seiner Mutter interessiert.«

    Grace reichte Porter das an sie gerichtete Schreiben. »Würden Sie … Ich möchte nicht …«

    »Ich verstehe«, sagte er, nahm es entgegen, faltete es sorgfältig und legte beide Briefe zurück in die Kassette auf seinem Schreibtisch. »Die Bankvollmachten müssen Sie aber mitnehmen. Für ein Leben auf eigenen Füßen.«

    Während ihres unfreiwilligen Wartens hatte Valerie darüber nachgedacht, wie sie verhinderte, dass ihre Pläne scheiterten. Tatsächlich traute sie dem Alten zu, Grace in Agathas Sinne zu beeinflussen, daher musste sie sich etwas einfallen lassen. Endlich öffnete sich die gepolsterte Tür.

    »Da bist du ja, Kind«, säuselte sie. »Ich hoffe, der Alte hat dir keine Flausen in den Kopf gesetzt.«

    Porter hatte das gehört und kam heraus. Wärme und Freundlichkeit waren aus seinen Zügen gewichen. »Hätte Gott Ihnen Ihr wahres Gesicht gegeben, könnten Sie Ihr Spiegelbild nicht ertragen. Es ist eine Schande, dass Sie den Namen Goodhard führen dürfen«, raunte er. »Grace, Jonathan, auf Wiedersehen.«

    Valerie spie einen Fluch aus, verließ die Kanzlei, warf sich hinters Steuer und hämmerte aufs Lenkrad, bis Grace und Jonathan eingestiegen und die Türen ins Schloss gefallen waren. Dann fuhr sie mit überhöhter Geschwindigkeit zur Adresse des Immobilienmaklers.

    Mr. Price gratulierte ihr mit aufgesetzter Freundlichkeit zum Erbe, stellte viele Fragen zu Alter, Größe und Ausstattung des Hauses und trug ihre Antworten in ein mehrseitiges Formular ein. Über den zu erzielenden Verkaufspreis wurden sich beide schnell einig.

    »Ich kümmere mich um alles, Mrs. Goodhard, und bin sicher, dass wir sehr bald einen Käufer finden. Bei der Lage des Grundstücks wird das kein Problem. Ich brauche hier noch Ihre Unterschrift.« Er zeigte auf eine markierte Stelle.

    Valerie schob Grace die Papiere zu. »Unterschreib«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

    Dem Makler entfuhr ein Laut des Erstaunens. Grace schluckte und tastete nach einer der silbernen Spangen, die Großmutter ihr schenkte, um das schulterlange, blonde Haar zusammenzuhalten. Zeit für eigene Entscheidungen, hatte Porter gesagt. Sie hob den Stift auf, stockte, setzte zur Unterschrift an, legte den edlen Kugelschreiber schließlich ungenutzt auf das Papier und gab ein leises, aber bestimmtes Nein von sich.

    Valerie schnaubte. Gier machte keine Gefangenen. »Du unterschreibst! Sofort!«, befahl sie.

    »Das kann ich nicht. Noch nicht.«

    »Jonathan, sag deiner Tochter, was sie zu tun hat.«

    »Valerie, bitte. Du weißt, wie sehr sie meine Mutter geliebt hat. Lass ihr Zeit. Es kommt doch auf ein paar Tage nicht an.«

    »Denkst du, ich mache mich hier zum Gespött?« Ihre Stimme bebte. »Das Haus wird verkauft. Grace, du unterschreibst!«

    Jonathan richtete sich in dem unbequemen Sessel auf. Er hatte oft geschwiegen, viel zu oft in all den Jahren. Jetzt war Valerie zu weit gegangen. Dass sie sich weigerte, auf der Beerdigung seiner Mutter Schwarz zu tragen und die Sorge um ihre Schuhe größer war als ihr Schmerz, konnte er verstehen; die beiden hatten sich nie gemocht. Dass sie deren Brief entsorgte und ihn damit bloßstellte, nahm er ohne Murren hin. Aber Grace derart unter Druck zu setzen und sich aufzuführen, als hätte sie einen Anspruch auf das Erbe, konnte er nicht zulassen.

    »Du kannst nur verkaufen, was dir gehört«, sagte er ungewöhnlich schroff. »Will Grace das Haus meiner Mutter behalten, ist das ihre Entscheidung. Und verkauft sie es, ist es allein ihr Geld. Also lass sie in Ruhe.«

    Grace war überrascht und erleichtert, weil er sich für sie einsetzte, obwohl er selbst leer ausgegangen war. Sie hatte es ihm nie übel genommen, dass er sich Valerie unterordnete. Der Tod ihrer Mutter hatte sein Lebensglück ausgelöscht und ihn klein gemacht. Grace verstand bereits in jungen Jahren, dass er seither ein gebrochener Mann war. Heute stellte er sich gegen seine Frau, in einem Moment, der ihr Triumph hätte werden sollen; Valeries endgültiger Sieg über die Schwiegermutter. Ihr eisiger Blick ließ ihn frösteln. Er hielt stand und sie musste einsehen, dass hier und jetzt nichts auszurichten war.

    Mit falschem Lächeln sagte sie: »Wir sollten das in Ruhe besprechen.« An den Makler gerichtet fügte sie hinzu: »Ich bedaure die Situation, Mr. Price, bin allerdings überzeugt, dass wir die Angelegenheit schnell klären werden.«

    Damit war ihre Beherrschung aufgebraucht. Mit zorngeröteten Wangen zerrte sie ihren Mantel von der Garderobe und stürmte aus dem Büro. Grace und Jonathan sahen sich stumm an, mehr brauchte es nicht, um sich darüber zu verständigen, dass sie nicht mitkäme. Er seufzte, nickte schwerfällig, sackte in sich zusammen und folgte seiner Frau.

    2

    Es hatte zu regnen aufgehört, als sei die Zeit der Tränen vorbei. Grace stand vor dem Gebäude, neben dessen gläserner Eingangstür ein poliertes Messingschild den Sitz des Maklerbüros anzeigte. So viel war geschehen, das ihr Leben veränderte. Großmutter war gestorben und beerdigt und mit ihr auch die unbeschwerten Tage der Kindheit. Anstatt ihres Vaters hatte sie das Erbe erhalten und die Kühnheit besessen, sich Valeries Willen zu widersetzen. Aber wie sollte es weitergehen?

    Agatha hatte ihr nicht nur das Haus hinterlassen. Als Porter die Liste vortrug, war Grace jedoch mit der Frage beschäftigt, warum ausgerechnet sie das alles erben sollte. Hatte Großmutter vorhergesehen, dass Valerie ihr Andenken zerstören würde, und befürchtet, ihr Besitz werde verscherbelt und das Haus abgerissen? Grace erinnerte sich an deren Brief. Eine Kleinigkeit darfst Du nie in andere Hände geben. Was sollte das sein? Für Großmutter musste es von sehr hohem Wert gewesen sein, dass sie es über ihren Tod hinaus schützen wollte. Weshalb hatte sie es nicht Porter anvertraut? Er hätte es aufbewahren und ihr heute überlassen können. Und was war an Großmutters altem Haus so außergewöhnlich? Wie sollte sie das herausfinden?

    Sie starrte auf das Messingschild. Es wäre ein Leichtes, hineinzugehen und den vorbereiteten Vertrag zu unterzeichnen. Würde Dad sich darüber freuen? Auf jeden Fall würde es ihm das Leben erleichtern. Grace mochte sich nicht ausmalen, was er jetzt durchstehen musste. Valerie machte ihm bestimmt die Hölle heiß, weil er seiner Tochter beistand und damit ihre schönen Pläne zunichtemachte. Stattdessen schien Großmutters Plan aufgegangen. Wenngleich vor drei Tagen gestorben, bewies sie ihrer Schwiegertochter, dass sowohl Grace als auch Jonathan aus solidem Goodhard-Holz geschnitzt waren und sich letzten Endes nicht unterkriegen ließen. Valerie hatte den Bogen oft überspannt, heute war er ihr um die Ohren geflogen.

    Um sich zu orientieren, ging Grace ein Stück die Straße hinunter. Sie war lange nicht hier gewesen und überlegte, welche Buslinie in die Nähe von Großmutters Haus fuhr. Porter hatte ihr neben den Bankvollmachten auch die Schlüssel dafür in die Hand gedrückt. Ihre Finger glitten in eine Hosentasche und tasteten danach. Der Gedanke, die verwaiste Bleibe zu betreten, bescherte ihr Magenschmerzen. Aber was blieb ihr anderes übrig? Sie zog ihr Smartphone aus der Gesäßtasche, das sie vor der Beerdigung auf lautlos gestellt hatte. Keine Nachrichten, weder von Valerie noch von Dad. Sie überlegte, ihre Freundin Amy anzurufen. Was sollte sie ihr sagen? Hey, ich hab geerbt und Schiss, das Haus zu betreten, in dem Großmutter gestorben ist. Nein, es war zu früh, über das Erbe zu sprechen. Sie hatte es selbst noch gar nicht realisiert und keine Vorstellung, was es für sie bedeutete. Genug Geld, um auf eigenen Füßen zu stehen, hatte Porter gesagt. Als ob es allein eine Frage des Geldes ist, dachte sie bitter. Natürlich wäre sie gern zu Hause ausgezogen, am liebsten gleich zu Beginn ihres Studiums. Valeries Pläne sahen das jedoch nicht vor. Das Erbe macht mich unabhängig, dachte sie, schmunzelte und verbot sich sogleich die Freude über ihre neue Freiheit. Der Preis dafür war Großmutters Leben.

    Statt den Anruf zu machen, suchte sie im Netz den Stadtplan von Atlanta heraus, der ihr verraten sollte, wie sie zum Haus kam. Ein Wagen hielt neben ihr am Bordstein. Sie beachtete ihn nicht. Zweimaliges Hupen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die schwarze Limousine. Sie wandte sich um, das Seitenfenster der Beifahrertür senkte sich herab.

    »Grace.« Porters Stimme drang aus dem Fahrzeug. »Steigen Sie ein, ich bringe Sie hin.«

    Das Haus stand in einem der Vororte. Es war ein altes, ein schönes Haus, wie man sie gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in den Südstaaten gebaut hat. Drei Stufen führten auf eine großzügige, überdachte Veranda. Die Holzkonstruktion könnte einen neuen Anstrich gebrauchen, stellte Grace fest. Auch an den Fensterläden blätterte die weiße Farbe ab und das Dach wirkte sanierungsbedürftig. Trotz oder gerade wegen dieser Unvollkommenheiten besaß das Haus Charme.

    Sie ließ den Blick über den weitläufigen Rasen schweifen, der sich bis zu einem Blumensaum vor der Veranda erstreckte. Vier Bäume ragten aus dem kurz gehaltenen Grün. An der knochigen Eiche hing noch immer die Schaukel, auf der sie als kleines Mädchen himmelwärts geflogen war. Ihre Finger wanderten über die rostige Kette. Wie lange war sie nicht hier gewesen? Viel zu selten hatte sie Großmutter besucht. Dabei hatte sie sich von ihr stets verstanden und behütet gefühlt. Die beste Zeit ihres Lebens verbrachte sie in diesem Garten. Als ihre Mom noch lebte, hatten sie nur zwei Straßen weiter gewohnt. Damals waren die Goodhards eine glückliche Familie und Graces Welt perfekt. Heute fühlte sie sich einsam und verloren. Von Erinnerungen überwältigt verbarg sie ihr Gesicht in den Händen, wünschte sich, Großmutter würde die Tür öffnen und sie in die Arme schließen. Aber sie war gestorben und mit ihr vielleicht der letzte Mensch, der sie bedingungslos liebte.

    Porter trat zu ihr. »Vergangenes lässt sich nicht ändern, Grace. Schauen Sie nach vorn.«

    Sie nickte schwach und ging zum Haus. Das Holz der Veranda knarrte bei jedem Schritt. Zögernd berührte sie den Türknauf, als fürchtete sie, er könne unter Strom stehen. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss, vergewisserte sich, dass Porter noch hinter ihr stand, und drehte ihn.

    »Das ist jetzt Ihr Haus, Grace. Schauen Sie sich um, ich warte hier solange. Und falls Sie lieber im Hotel übernachten, bringe ich Sie wieder in die Stadt.«

    »Bitte, Mr. Porter, kommen Sie mit rein. Sie waren immer willkommen und sind es auch heute.«

    »Vielen Dank«, erwiderte er lächelnd.

    Drinnen war es dunkel. Grace tastete nach dem Lichtschalter im Flur und betätigte ihn. Das alte Treppenhaus hatte sie schon als Kind geliebt. Der Handlauf war bestens geeignet, um darauf herunterzurutschen. Großmutter hatte es ihr nie verboten, im Gegenteil, sie glättete jeden Riss und polierte das Holz, damit es schneller ging.

    Es roch nach Apfelkuchen und Zimt. Grace sog den Duft ein und erinnerte sich, wie sie im Haus herumgetobt war, wie Großmutter sie dazu ermutigte, hoch hinauf in die Bäume zu klettern, wie sie mit einem Lächeln und einem Teller Pfannkuchen aus der Küche kam. Es waren schöne Erinnerungen und dieses Haus war voll davon.

    Sie öffnete die Türen im Erdgeschoss. Aus jedem Raum quoll Dunkelheit. Seit drei Tagen sperrten die geschlossenen Läden das Tageslicht aus. Wie in einem Grab, dachte sie, machte ein Fenster auf, entriegelte sie und schob sie auseinander. Unwillkürlich wich sie zurück. Gleißendes Licht fiel ins Zimmer. Die Wolken waren aufgerissen, der Himmel hatte sich ausgeweint.

    Sie stand mit Porter in Agathas Lesezimmer. Sie hatte es Lesezimmer genannt, für Grace war es eine Bibliothek mit geheimnisvoller Atmosphäre. Der Raum war mehr als vierzig Quadratmeter groß und seine Wände bis zur Decke mit Bücherregalen bestückt. Einzig für den Kamin und den Spiegel darüber war eine Stelle frei gelassen worden. Eine Leiter lehnte an einer Reling, damit man auch die oberen Regale erreichte. Der lackierte Dielenboden war zum großen Teil von einem senffarbenen Teppich bedeckt. Unter einem der Fenster standen ein bequemer Sessel mit Fußbank, eine Leselampe und ein ovaler Servierwagen. Grace erinnerte sich lebhaft an das schrille Quietschen der winzigen Rollen. Inmitten des Raumes befand sich ein monumentaler Tisch, auf dem sich viele Bücher stapelten. Weitere Möbel gab es hier nicht.

    Sie sah Großmutter vor sich, wie sie mit einer Tasse Tee oder einem Glas Wein lesend im Sessel sitzt, ein kleines Mädchen auf dem Schoß, das sich an sie schmiegt, das liebt, wie sie riecht, wie sie spricht. Grace bedauerte, dass sie in letzter Zeit so wenig von sich hatte hören lassen. Fast einen Monat war es her, dass sie telefonierten. Damals hatte sich Großmutter unmerklich von ihr verabschiedet, das wurde ihr heute schmerzhaft bewusst. Sie sei alt genug, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, sagte sie zu ihr. Auch wenn sie es sich momentan kaum zutraue, werde sie eine starke, selbstbewusste junge Frau sein, sobald Umstände es verlangten. Agatha behielt recht. Heute hatten die Umstände es verlangt und Grace brachte den Mut auf, Nein zu sagen zu Valeries Aufforderung zur Unterschrift.

    Sie wanderte durchs Haus. Es war alles so, wie sie es in Erinnerung hatte. In jedem Raum öffnete sie die Fenster und Läden, um Licht und Luft hereinzulassen. Großmutters Schlafzimmer betrat sie mit weichen Knien; dort war sie gestorben. Grace vermied es, sich vorzustellen, wie George Milton sie fand. Er war einer der wenigen Nachbarn, mit denen Agatha engen Kontakt pflegte und abgesehen von Porter der einzige, der einen Schlüssel zum Haus besaß. Vor drei Tagen war er herübergekommen, weil die Läden nicht mehr geöffnet worden waren. Er ahnte längst, was geschehen war, deshalb erschreckte ihn der Anblick seiner entschlafenen Freundin nicht. Grace zog die Tür zu. Hier sollte erst einmal alles geschlossen bleiben.

    In einem anderen Raum der ersten Etage waren die Möbel und das große Bett mit Laken abgedeckt. Es war ihr Zimmer gewesen in der Zeit, da sie bei Großmutter lebte. Lange her, dachte sie und nahm die Tücher herunter.

    »Ich bleibe«, sagte sie zu Porter, der es sich in einem Sessel auf dem Treppenabsatz bequem gemacht hatte.

    »Nun, dann fahre ich mal«, erwiderte er zufrieden, hievte sich aus dem Sitz, stieg die Stufen hinab und öffnete die Haustür.

    Grace stürzte ihm nach und hätte ihn beinah umgerannt. »Mr. Porter, bitte, haben Sie noch einen Moment?«

    »Sicher. Worum geht es?«

    »Um Großmutters Brief. Sie schrieb doch von einem Kästchen auf dem Kamin. Würden Sie mit mir dort hineinschauen?«

    »Es ist für Sie bestimmt, aber wenn Sie mich darum bitten…«

    Auf dem Sims fanden sie eine kleine, grob gewirkte Holzschatulle. Grace nahm sie herunter, ihre Hand wurde feucht. »Wissen Sie, was drin ist?«

    »Ich bin mir nicht sicher, also gibt es nur eine Möglichkeit, es in Erfahrung zu bringen«, sagte er lachend.

    Grace hob zögernd den Deckel an, als ob etwas herauszuspringen drohe. Wie albern, dachte sie und legte ihn beiseite. Auf weißen Blütenblättern ruhte eine schwere, goldene Kette mit einer in Gold gefassten schwarzen Perle daran. Grace erkannte das antik anmutende Schmuckstück. Es gab Fotos, auf denen Großmutter die Kette trug, und sie hatte sie selbst zweimal damit gesehen; bei der Beisetzung ihrer Mutter und an Agathas fünfundsiebzigstem Geburtstag.

    »Warum darf ich sie niemals in andere Hände geben? Ist es ein Familienerbstück?«

    »Ich kann Ihnen dazu leider nichts sagen«, wiederholte er seine Aussage vom Mittag. »Sie werden es selbst herausfinden müssen.«

    Grace öffnete den Verschluss, legte sie an, spürte das Gewicht an ihrem Hals und hätte schwören können, dass die Perle in ihrer Hand leichter gewesen war. Mit steigender Anspannung betrachtete sie sich im Spiegel über dem Kamin. Porters Gesicht erschien darin. Sein prüfender Blick verunsicherte sie. Hielt er es für verfrüht, sich des Schmuckstückes derart zu bemächtigen?

    Er lächelte. »Ich denke, Sie kommen damit zurecht.«

    Grace war erleichtert, legte die Kette ins Kästchen und brachte ihn zur Tür. »Vielen Dank, Mr. Porter. Für alles.«

    »Ich habe das gern getan, glauben Sie mir.«

    Grace zog die Tür auf und erschrak. Auf der Veranda stand ein Mann. Er hatte die Hand ausgestreckt, um mit der dicken Bronzekugel anzuklopfen. Sie stutzte, dann erkannte sie ihren Nachbarn George Milton. Wie früher trug er weite, blaue Jeanshosen und ein kariertes Flanellhemd. Sein dunkles Haar war grau geworden, der Blick von Trauer getrübt.

    »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken«, beteuerte er, trat einen Schritt zurück und nickte Porter zu.

    Grace reichte ihm die Hand. »Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen.«

    George lernte sie kennen, ehe sie geboren war. Damals forderte ihre Mutter ihn auf, seine Hand auf ihren runden Bauch zu legen, damit er das wilde Strampeln wahrnahm.

    »Ich hatte gehofft, auch Ihren Vater zu sehen«, sagte er.

    Er kannte Jonathan gleichfalls von Kindesbeinen an. Um Agathas willen bedauerte er, dass ihr einziger Sohn sich von ihr abgewandt hatte, seit Valerie über dessen Leben bestimmte.

    »Tut mir leid«, erwiderte Grace, als wäre es ihre Schuld, dass er das Haus seiner Mutter selbst nach deren Tod mied.

    »Werden Sie verkaufen?«, fragte er geradeheraus.

    »Das kann ich noch nicht sagen. Ich will erstmal ein paar Tage bleiben und mich erinnern.«

    »Sagen Sie, wenn Sie was brauchen. Vielleicht müssen Sie einkaufen, dann fahre ich Sie.«

    »Danke. Ich sehe nach, was da ist.«

    George tippte sich zum Gruß an die Schläfe und ging. Porter machte sich ebenfalls auf den Heimweg, nachdem er versprochen hatte, Grace am nächsten Morgen zur Bank zu begleiten.

    Die schwere Eichentür fiel ins Schloss. Sie war allein in einem Haus, das ihr nun, da Großmutter darin gestorben war, ein wenig unheimlich erschien. Nur eine leere Hülle, dachte sie bitter. Der gute Geist, der diesen Mauern Leben eingehaucht hatte, war fort. Für immer.

    Verloren hockte sie auf den untersten Stufen der Treppe, das Kinn auf die Fäuste gestemmt. Was sollte sie anfangen mit ihrem Erbe? Das Haus behalten und einziehen? Allein? Oder doch verkaufen? Was hätte Großmutter sich von ihr gewünscht? Natürlich steht es Dir frei, alles, auch das Haus zu verkaufen. Na bitte, genau das hatte sie geschrieben. Danach forderte sie sie jedoch auf, ein paar Tage darin zu verbringen, um herauszufinden, wie außergewöhnlich es ist. Weshalb teilte sie ihr nicht mit, was sie meinte, anstatt ihr Rätsel aufzugeben? Und was hatte es mit der Kette auf sich, dass sie sich so große Sorgen um deren Verbleib machte?

    In der Gesäßtasche brummte das Smartphone. Valerie, fürchtete Grace und bereitete sich innerlich darauf vor, verbal niedergemacht zu werden. Das Display zeigte jedoch lediglich den Eingang einer Nachricht an. Amy fragte, wie es ihr nach der Beerdigung ginge, ob sie was tun könne für sie. Grace atmete erleichtert auf und schickte eine kurze Antwort: Alles sehr verwirrend. Brauche ein paar Tage. Melde mich. LG Grace

    Sie stieg die Treppe hinauf und betrat ihr altes Zimmer. Wollte sie hier übernachten, musste sie das Bett beziehen. Ein Laken und die Bezüge fand sie in der Kommode, wo Großmutter sie früher schon aufbewahrte. In einer Schublade lag sogar noch das Spielzeug, das sie einst nicht hatte mitnehmen dürfen. Valerie war der Meinung, Mädchen sollten lieber mit Puppen und einer Kinderküche spielen, anstatt in Bäume zu klettern oder mit einem Holzschwert durch einen Garten zu toben. Immerhin hatte Grace die Reiterferien machen dürfen, die Großmutter ihr in fünf aufeinander folgenden Jahren schenkte.

    Nachdem das Bett bezogen war, ging sie in der Küche auf die Suche nach Vorräten. Grace schaute in die Schränke und Schubladen, aber ihr war nicht wohl dabei. Das Haus und die Räume zu betreten war eine Sache, in Habseligkeiten zu stöbern eine andere. Es fühlte sich derart falsch an, dass sie gar fürchtete, Großmutter könne hereinplatzen und sie dabei ertappen. Sie hielt inne. Außer der selbstgemachten Marmelade und den Gläsern mit eingekochtem Obst wollte sie ohnehin nichts von dem verwenden, was sie an Lebensmitteln fand. Dinge von Toten anzurühren bringt einen der Endlichkeit näher, dachte sie. Womöglich ist das der Grund, warum Menschen sich davor scheuen.

    Sie musste einkaufen. Sie hatte nichts zum Anziehen und bei ihrer Körperpflege verzichtete sie ungern auf die gewohnten Produkte. Ihren kleinen Koffer aus dem Hotel zu holen wäre zu riskant. Dad und Valerie waren bestimmt noch dort und wer weiß, was sich ihre Stiefmutter hatte einfallen lassen, um das undankbare, fremde Kind auf Spur zu bringen.

    In ihrem Portemonnaie befanden sich keine zwanzig Dollar; zu wenig für einen Einkauf. Sie könnte mit Karte bezahlen, doch da erinnerte sie sich an die Keksdose, in der Großmutter das Haushaltsgeld aufbewahrte. Agatha hatte es für ein sicheres Versteck gehalten, obwohl man sie warnte, dass Einbrecher zuerst in einer solchen Dose nachschauen würden. Grace nahm sie vom Regal, fand vierhundert Dollar darin, steckte das Geld ein und kam sich vor wie eine Diebin.

    Sie stapfte über den feuchten Rasen zu dem niedrigen Törchen zwischen Agathas und Georges Grundstück. Auf dessen Einfahrt parkte neben einem museumsreifen Buick ein Toyota Land Cruiser. George stand in der Tür, ehe sie dessen Veranda betrat.

    »Haben Sie sich einen zweiten Wagen zugelegt?«, fragte sie.

    »Um Gottes willen. Ich werde doch meinen alten Freund nicht enttäuschen.« Er lachte. »Der neumodische Japaner gehört Marc. Sie erinnern sich doch an meinen Enkelsohn?«

    Grace hatte einen schmächtigen, unruhigen Jungen vor Augen, etwa zwei Jahre älter als sie selbst. Sie hatte ihn sehr lange nicht gesehen.

    »Marc, Junge, komm heraus. Grace Goodhard ist hier, Agathas Enkeltochter«, rief er ins Haus.

    Die Tür schob sich weiter auf und ein junger Mann kam zum Vorschein: sportlich, halblanges blondes Haar, graugrüne Augen. Grace stutzte. War das tatsächlich der Junge von nebenan? Marc ging es wohl ähnlich. Sein Gedächtnis hatte ihn zu einem dürren, wilden Mädchen geführt. Doch auch Grace hatte sich entwickelt. Sie war mittelgroß, hatte eine ansprechende, schlanke Figur und das zarte Gesicht ihrer Mutter. Das blonde Haar reichte ihr über die Schultern und wurde seitlich von silbernen Spangen gehalten.

    »Hey«, sagte Marc, nachdem er seine Sprache wiederentdeckt hatte. »Tut mir sehr leid, das mit deiner Großmutter. Werden wir jetzt Nachbarn?«

    »Hallo«, erwiderte sie zurückhaltend, denn es verunsicherte sie, dass jeder zu wissen schien, wer geerbt hatte. »Keine Ahnung. Ich bleibe erstmal ein paar Tage.«

    »Hm«, machte er. »Großvater hat was von Einkaufen gesagt. Wenn du willst, fahre ich dich. Bei der Gelegenheit könnten wir über alte Zeiten plaudern.«

    Grace sah achselzuckend zu George.

    »Fahren Sie ruhig mit ihm, er ist ein anständiger Junge.«

    Marc zog die Brauen in die Stirn. »Ach ja? Du weißt nicht alles über mich.« Er grinste frech. »Also was ist, traust du dich?«

    »Ja, meinetwegen.«

    Er stieg in den Toyota.

    George öffnete für Grace die Beifahrertür. »Das muss er noch lernen«, sagte er und hob den Zeigefinger. »Merk dir das, Junge: Willst du eine Lady, musst du sie wie eine behandeln.« Er ließ die Tür in die Verriegelung fallen, danach schlug er zweimal mit der flachen Hand aufs Dach, als wäre dies das Signal zur Abfahrt.

    Die fleischige Kassiererin warf das Wechselgeld in eine abgegriffene Kunststoffschale. Grace hatte über zweihundert Dollar ausgegeben. Außer Lebensmitteln und Drogerieartikeln hatte sie eine Jeans, T-Shirts und Wäsche gekauft. Marc war es sichtlich unangenehm, ihr dabei zuzusehen, wie sie Unterhosen aussuchte. Dass sie keine BHs kaufte, irritierte ihn.

    Auf der Hinfahrt war Grace zugeknöpft, jetzt taute sie auf, gab zu, Marc nicht wiedererkannt zu haben, und lachte darüber, dass auch er nicht hatte glauben können, Grace Goodhard vor sich zu sehen. Als sie bei Agatha lebte, zog sie ihn damit auf, dass er sich nicht traute, mit ihr in die Bäume zu klettern. Im Gegenzug hatte er sich über ihre Sommersprossen lustig gemacht.

    Er stellte den Wagen in die Einfahrt und half ihr, die Tüten ins Haus zu tragen. »Sehen wir uns in den nächsten Tagen?«

    »Klar, warum nicht. Wohnst du bei George?«

    »Ja, immer noch. Er hat mir den geräumigen Schuppen hinter dem Haus als Werkstatt überlassen. Ich versuche, mir eine Existenz aufzubauen. Eine kleine, feine Fahrradmanufaktur, in der ich die Bikes an die Fahrer anpasse. Wenn ich hier arbeite, könne ich auch gleich bei ihm wohnen bleiben, hat er gesagt. Ich glaube, er fürchtet, dass ich mal wegziehe. Außer mir hat er ja niemanden mehr, dem er hinterherräumen kann.«

    Grace nickte traurig. Sie verstand gerade sehr gut, was Einsamkeit bedeutete. Obwohl Valerie zuweilen unausstehlich zu ihr war und sie auf ihren Vater nur selten zählen konnte, waren die beiden ihre Familie, deren Zugehörigkeit sie heute wohl verloren hatte. Marc bemerkte, wie niedergeschlagen sie war, und lud sie darum zum Abendessen bei seinem Großvater ein. Sie nahm dankbar an und war erleichtert, den Abend nicht allein verbringen zu müssen. Die Nacht würde schlimm genug werden.

    Inzwischen fragte sie sich, ob es richtig war herzukommen. Vielleicht hatte Valerie Recht, das Haus verkaufen zu wollen, obwohl ihre Beweggründe rein egoistisch waren. Es zu behalten, machte nur Sinn, wenn jemand darin wohnte. Wollte sie ihr Zuhause, ihre Freunde aufgeben, um hier neu anzufangen? Sollte sie ein verwittertes Haus erhalten, weil Großmutter sich das gewünscht hätte? Grace wusste darauf keine Antwort. Mit der Hoffnung auf einen Rat fragte sie George nach dem Essen, wie er darüber dachte.

    »Die Entscheidung kann Ihnen niemand abnehmen«, sagte er. »Schließlich geht es um Ihre Zukunft und nicht um die Frage, was Sie zum Nachtisch möchten.« Er lächelte aufmunternd. »Bleiben Sie ein paar Tage, dann werden Sie wissen, was das Richtige ist.«

    Als würden Tage genügen, Entscheidungen fürs Leben zu treffen, dachte Grace und nickte nachdenklich. Dann bat sie ihn, von Großmutter zu erzählen, wie er sie gekannt hatte. George tat das gern und was er berichtete, hatte nichts von einer verwirrten, der Welt entrückten Frau, wie Valerie es in freundlichen Worten ausgedrückt hätte. Agatha sei ein besonderer Mensch gewesen, sagte er. In mancher Hinsicht eigen, ja, aber sie hatte Witz und konnte bisweilen richtig spitzbübisch sein. Sie war eine zierliche Frau und besaß doch mehr Kraft als manch junger Bursche. Ihre Herzlichkeit wärmte, ihre Hilfsbereitschaft war rührend. Sie war verlässlich und loyal. Ihr Wille, ihr Mut und ihre Entschlossenheit hatten George immer sehr beeindruckt.

    »In Ihnen fließt das gleiche Blut, Grace. Vergessen Sie das nie.«

    Angesäuselt stand sie vor der Haustür und fummelte den Schlüssel ins Schloss. Grace hatte mehr Wein getrunken, als sie vertrug. Hilft beim Einschlafen, dachte sie und stolperte über die Schwelle ihres Hauses.

    Porter hatte sich für 8.30 Uhr angekündigt. Sie barg das Smartphone aus der Hosentasche und fluchte. Die Akku-Anzeige offerierte den letzten Balken. Ihr Ladekabel lag im Hotel und sie hatte vergessen, ein neues zu kaufen. Um nicht zu verschlafen, brauchte sie den Wecker aus Agathas Schlafzimmer. Sie schob die Tür auf und starrte wie gebannt auf das Bett; die Decke war halb zurückgeschlagen. Großmutter richtete es immer so für sich her, ehe sie schlafen ging. Grace überlegte angestrengt, ob es am Nachmittag genauso dalag. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und plötzlich befiel sie das Gefühl, nicht allein im Raum zu sein. Sie schnappte sich den Wecker, zog die Tür zu und schloss ab.

    Der Bankangestellte war äußerst zuvorkommend, nachdem er die Kontostände geprüft hatte. Neben dem Haus und einem Grundstück hatte Grace fast zwei Millionen Dollar geerbt.

    »Wie Sie wissen, ist Ihr Großvater Ted kurz nach Ihrer Geburt tödlich verunglückt. Jonathan hatte weder Talent noch Interesse, die Weberei weiterzuführen. Agatha hat die Firma nach Teds Tod verkauft. Für das Grundstück erhielt sie eine jährliche Pacht, von der sie lebte. Nach einem verheerenden Brand vor zehn Jahren musste die Weberei die Produktion einstellen. Noch heute stehen die Ruinen auf dem verwilderten Gelände. Agatha hat sich nie entschließen können, es zu verkaufen, weil bei dem Feuer zwei Menschen gestorben waren.«

    »Was fange ich nur an mit alldem? Ich werde Dad und Valerie einen Teil des Geldes geben«, entschied Grace und empfand eine kindliche Freude.

    Porter massierte sich das Kinn. »Sehr nobel«, sagte er. »Ich rate Ihnen jedoch, damit zu warten. Ihr Vater und seine Frau werden sich über einen Teil des Erbes erst freuen, nachdem sie akzeptiert haben, dass das Geld Ihnen gehört.«

    Unschlüssig sah sie zu Boden. Porter schätzte Valeries Ambitionen sicher richtig ein; aktuell wäre sie mit nichts als dem Ganzen zufrieden. Aber Dad? Grace war überzeugt, dass er mit sich reden ließe.

    Porter räusperte sich. »Wählen Sie einen Betrag aus, um sich in Ihrem neuen Leben einzurichten. Kaufen Sie ein Auto und lassen Sie überfällige Reparaturen am Haus vornehmen. Den Rest legen Sie an. Findet Ihr Vater den Weg zu Ihnen, ist es früh genug zu entscheiden, ob und wie viel Sie ihm geben.«

    Grace horchte auf. Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass sie das Haus behielt und dort einzog. Hatte Großmutter ihn gebeten, sie in diese Richtung zu lenken?

    »Haben Sie gestern noch mit Ihrem Vater sprechen können?«, fragte er.

    »Nein. Er hat sich nicht gemeldet und ich will nicht an Valerie geraten.«

    »Geben Sie ihm Zeit, Grace. Er bleibt ein Goodhard, ungeachtet dessen, dass der frühe Tod Ihrer Mutter und seine zweite Ehe ihn verändert haben. Er wird Sie nicht fallen lassen.«

    Grace wünschte sich nichts mehr als das, weil sie in ihm noch immer den Vater sah, der er früher war. Gleichzeitig fürchtete sie ein Gespräch mit ihm, solange Valerie den Ton angab.

    »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Mr. Porter.«

    »Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Grace. Ich werde eine Rechnung stellen, die Ihr Erbe reichlich schmälert.« Er sagte das mit solchem Ernst, dass sie ihn konsterniert anschaute. Plötzlich huschte ein Zucken um seine Mundwinkel, dann lachte er so herzhaft, dass sie seine goldüberkronten Backenzähne sah. »Glauben Sie nicht alles, was man Ihnen sagt, und hören Sie auf, mir dankbar zu sein. Gönnen Sie einem alten Mann die Freude, Ihnen auf die Beine zu helfen. Lassen Sie mich ein wenig teilhaben an Ihrem neuen Leben, das ist Dank genug.« Sein Lächeln hüllte sie wärmend ein. Sie erwiderte es und konnte sich gerade noch verkneifen, ihm erneut zu danken.

    Er brachte sie nach Hause. Bei Kaffee und Obstkuchen, den er in seiner Lieblingskonditorei kaufte, saßen sie in Großmutter Esszimmer, tauschten Erinnerungen aus und sprachen über dies und das. Nachdem er gegangen war, befiel Grace erneut das Gefühl von Einsamkeit. Sie streifte durch die Räume und stellte sich vor, darin zu wohnen. Bad und Küche müsste sie modernisieren, das Lesezimmer sollte bleiben wie es war. Mit der sparsamen Möblierung und all den Büchern wirkte es großzügig und besonders. Im Gegensatz dazu waren Wohn- und Esszimmer völlig überladen. Dunkelrote Teppiche, wuchtige Möbel, bodenlange, dunkle Vorhänge und eine Unmenge verschnörkelter Glasgefäße in verschiedensten Formen und Farben; eine von Großmutters Leidenschaften, die Grace niemals teilen könnte. Auf den Dachboden damit, war ihr erster Gedanke.

    Ob da noch das Schaukelpferd stand, das Großmutter ihr zum dritten Geburtstag schenkte? Es war riesig, aufwendig gearbeitet, und bunt lackiert. Ich muss nachschauen, dachte sie und scheute sich im gleichen Augenblick davor. Möglicherweise gab es Ratten dort oben. Die Vorstellung, den Kopf durch die Luke zu stecken und auf Augenhöhe mit diesen ekligen Nagern zu sein, ließ ihr die Haare zu Berge stehen. Sie sah aus dem Fenster. Kein Toyota auf Georges Auffahrt. Sollte sie abwarten, bis Marc nach Hause kam? George wollte sie damit keinesfalls behelligen. Was hatte er gestern gesagt? Das Blut Ihrer Großmutter. Hätte sie Angst gehabt, auf den Dachboden zu steigen? Sicherlich nicht. Grace fasste sich ein Herz, holte einen Besen aus der Abstellkammer, stieg hinauf bis zur Luke und pochte mit dem Stiel dagegen. Die Biester verkrochen sich in die hintersten Winkel und taten so, als wären sie nicht daheim, sobald sich Besuch ankündigte. Hoffte Grace.

    Vorsichtig drückte sie die Klappe ein wenig nach oben, spähte durch den schmalen Spalt und entdeckte das Schaukelpferd. Ein weiteres Mal hämmerte sie gegen das Holz, um auch dem letzten lebenden Wesen anzukündigen, dass der Frieden dahin und etwas Gefährliches im Anmarsch war. Dann stieß sie die Klappe nach hinten und erklomm so schnell wie möglich den Dachboden; der Giebel war hoch genug, dass sogar größere Menschen aufrecht stehen konnten. Mit dem Besen in der Hand und festen Schuhen an ihren Füßen fühlte sich Grace ausreichend gewappnet. Sie sah sich um und horchte. Nichts bewegte sich, kein Laut außer ihrem pochenden Herzen.

    Während sie sich langsam dem Schaukelpferd näherte, hetzten ihre Augen über die Holzbohlen. Sie hielt inne, lauschte. Nichts. Noch vier Schritte, dann zog sie es zu sich heran. Ein gellender Schrei entfuhr ihr, als sie den dicken, unbehaarten Schwanz entdeckte. In Panik floh sie davor, stolperte rückwärts und wäre fast durch die Luke gestürzt. Voller Abscheu spähte sie zu der Stelle, wo die Spitze des Schwanzes zu sehen war. Was war los? Die Viecher wichen zurück, sobald man ihnen auf die Pelle rückte. Grace knallte den Besenstiel auf den Boden. Nichts bewegte sich. Schritt für Schritt wagte sie sich vor und erblickte ein seltsam verbeultes Hinterteil. Das Tier war ausgetrocknet, der Schädel grotesk verformt, dass die langen Frontzähne quer herausstanden. Sie begriff, dass die Ratte tot war. Mausetot, dachte sie erleichtert und atmete hörbar auf. Fürs Erste hatte sie hier oben genug gesehen. Allein könnte sie das wuchtige Pferd sowieso nicht durch die enge Öffnung bugsieren. Marc würde ihr bestimmt dabei helfen. Sie stieg den Tritt hinunter, verschloss die Klappe und verriegelte sie sorgfältig. Sicher war sicher.

    Vor Agathas Schlafzimmer blieb sie stehen. Zu früh, dachte sie und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Ohrenbetäubendes Klingeln. Großmutters antikes Telefon war so laut eingestellt, dass sämtliche Nachbarn mitbekamen, wenn jemand anrief. Grace spurtete in die Küche und riss den Hörer von der Wand.

    »Bei Agatha Goodhard«, hörte sie sich sagen.

    »Grace?« Die Stimme ihres Vaters drang aus der Muschel.

    »Entschuldige, Dad, ich muss mich erst daran gewöhnen, dass sie nicht mehr da ist.«

    Sie blickte auf ihr Smartphone. Hatte sie einen Anruf verpasst und er darum den Anschluss seiner Mutter gewählt? Das Display blieb schwarz, Akku leer. Verdammt, sie brauchte ein Ladekabel.

    »Wie geht es dir?«, fragte Jonathan.

    »Soweit okay. Seid ihr wieder zu Hause?«

    »Es hätte kaum Sinn gemacht, in Atlanta zu bleiben, oder?« Er erwartete keine Antwort von ihr, sprach ohne Pause weiter. »Wir müssen reden, Grace. Du kannst dir denken, wie enttäuscht Valerie ist, weil nicht ich … Du weißt, sie hatte Pläne.«

    »Sie ist enttäuscht, weil sie nicht das Geld ausgeben kann, das ihr ohnehin nie gehört hätte«, hielt sie dagegen und biss sich auf die Lippe. Woher nahm sie den Mut, sowas zu sagen?

    »Sei bitte nicht ungerecht. Valerie hat sich all die Jahre um dich gekümmert.«

    »Ich weiß, Dad. Tut mir leid.«

    »Komm nach Hause, Grace, und lass uns in aller Ruhe darüber sprechen. Wir finden eine Lösung.«

    »Glaubst du, Valerie wird in Ruhe reden können?«

    Schweigen.

    »Ich dachte, du verstehst, dass ich Zeit brauche, Dad.«

    »Du musst auch mich verstehen.« Er klang hilflos.

    »Ich kann mir vorstellen …«, sagte sie und hielt inne. »Dad, ich will mich nicht gegen dich stellen und auch nicht gegen Valerie, aber … Es tut mir leid, ich muss bleiben, bis mir klar ist, wie es weitergehen soll. Du sagtest, es sei meine Entscheidung, was ich mit dem Erbe mache. Sei mir bitte nicht böse und richte Valerie aus, dass ich Zeit brauche. Weißt du, ich hab überlegt …« Gerade noch beherrschte sie sich ihm vorzuschlagen, zumindest das Geld aufzuteilen. »Mr. Porter hat Großmutters Brief an dich aus dem Papierkorb gefischt«, sagte sie stattdessen.

    Schweigen.

    »Dad, lass uns unter vier Augen reden. Wie wäre es, wenn du herkommst. Das Haus … es ist so voller Erinnerungen, auch an die Zeit, als Mom noch lebte. Wir könnten uns gemeinsam daran erinnern.« Ihre Stimme brach. Mit dem Handrücken rieb sie eine Träne von der Wange, hörte, wie ihr Vater seine herunterschluckte. »Was denkst du?«, fragte sie nach einem Moment der Stille.

    »Ich … ich versuche es. Pass auf dich auf«, sagte er und unterbrach die Verbindung.

    Grace hängte den Hörer an die Wand. Sie hatte sich mehr von seinem Anruf erhofft. Mehr Verständnis. Mehr Rückhalt. Konnte sie das erwarten, solange Valerie das Zepter schwang? Immerhin hatte sie es geschafft, sich ein weiteres Mal durchzusetzen. Grace war stolz darauf, musste jedoch damit rechnen, dass sie nicht aufgab und Dad weiter unter Druck setzte, um doch noch ans Erbe zu kommen.

    Um sich davon abzulenken, zerrte sie den Staubsauger aus der Abstellkammer bis ins Lesezimmer. Saubermachen und Aufräumen beruhigte sie, weil es Dinge in Ordnung bringt. Doch statt zu saugen, schlenderte sie die Regale entlang. Ihre Finger glitten über die Buchrücken. Hier und da hielt sie inne, nahm eins heraus und las den Klappentext. War er vielversprechend, schob sie den Band nur halb in die Lücke zurück, um ihn schneller wiederzufinden.

    Zuletzt schaute sie sich die Bücher auf dem Tisch in der Mitte des Raumes an. Es waren sehr alte Exemplare darunter, Lexika, Bildbände und Atlanten. Womit hatte Großmutter sich beschäftigt? Ihr Blick wanderte zum Kamin und dem Holzkästchen mit der Kette, die nie in andere Hände gelangen sollte. Was war daran so besonders?

    Sie entfernte den Deckel. Seltsam, dachte sie. Die Blütenblätter waren noch immer frisch. Selbst wenn Großmutter sie kurz vor ihrem Tod hineingelegt hatte, müssten sie inzwischen welk oder faul geworden sein. Sie nahm eines heraus. Es fühlte sich samtig an und verströmte ein feines, holziges Aroma. Seltsam, dachte sie noch einmal und legte es zurück.

    Sie ließ die Kette an ihrer Hand baumeln. Die schwarze Perle glänzte, nein sie leuchtete geradezu. Grace hatte den Eindruck, in sie hineinschauen zu können, als ob tief im Schwarz etwas verborgen läge. Sie öffnete gerade den Verschluss, da klopfte jemand an die Haustür. Sie bettete das Schmuckstück auf den Blütenblättern und öffnete.

    Marc lehnte lässig im Türrahmen. »Hey, wie geht es dir? Großvater meint, ich soll mal nach dir sehen.«

    Grace schürzte enttäuscht die Lippen. Sie hatte gehofft, dass es ihn selbst interessierte. »Mir gehts gut, danke«, erwiderte sie unterkühlt.

    »Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?«

    »Hör zu: Ich freue mich, dass George sich nach mir erkundigt.

    Richte ihm meinen Dank aus und sag ihm, dass ich okay bin.«

    Sie schob schon die Tür zu. Marc stellte den Fuß dazwischen, drückte sie auf und hob entschuldigend beide Hände.

    »Tut mir leid«, sagte er kleinlaut.

    »Was meinst du?«

    Er druckste herum. »Großvater hat mich gar nicht geschickt. Ich … ich wollte einfach mal vorbeischauen.«

    »Echt jetzt?«

    »Komm schon, mach kein Drama draus.«

    »Mir ist gerade nicht nach Spielchen.«

    Marc zuckte verlegen mit den Schultern. »Sorry.«

    »Na gut, komm rein. Ich hab einen Job für dich.«

    »Gleich eine Strafarbeit, na toll. An was hast du gedacht?« »Dachboden, Ratte, tot«, lautete ihre detaillierte Schilderung.

    Marc verzog das Gesicht. »Muss das sein?«

    »Ich könnte auch einen Kammerjäger beauftragen, aber komm wenigstens kurz mit nach oben. Ich hab mein altes Schaukelpferd gefunden, das würde ich gerne bergen.«

    »Schon gut, ich kümmere mich darum. Gib mir eine Tüte und das Kehrblech. Bin gespannt, ob es wirklich nur eine ist.«

    Sie stellten den ganzen Dachboden auf den Kopf, es blieb bei der einen Ratte. Anschließend manövrierten sie das Schaukelpferd die schmale Stiege hinunter. Marc fragte sie feixend, ob sie es wieder benutzen wolle. Zur Strafe musste er sich selbst daraufsetzen und machte eine armselige Figur dabei. So verbrachten sie den Nachmittag zusammen, alberten herum und lachten, bis er sie unerwartet ernst ansah.

    »Hast du einen festen Freund?«

    »Nein, nicht mal einen Lockeren. Und wie ist dein Status?«

    »Frei. Ich bin frei. In letzter Zeit hab ich nur Zicken kennengelernt, das bringt bloß Stress. Da warte ich lieber, bis mir die Richtige über den Weg läuft.«

    »Schon klar.«

    »Wir können ja mal ins Kino gehen so als alte Freunde.«

    »Wieso nicht«, erwiderte sie und mit einem Mal lag Traurigkeit über ihrem Gesicht. »Bleibst du zum Essen? Ich mag nicht alleine sein heute Abend.«

    Marc verstand sie nur zu gut. Nachdem seine Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen – er war damals zwölf Jahre alt – konnte er es lange Zeit nicht einmal ertragen, alleine in einem Raum zu sein. Er bat Grace zu warten, kam nach wenigen Minuten zurück und sah sie bedauernd an. »Großvater hat schon mit dem Kochen angefangen. Er sagt, er erwartet Besuch von einer jungen Lady.«

    Sie senkte enttäuscht den Kopf.

    Marc boxte ihr auf den Arm. »Damit bist du gemeint.«

    »Im Ernst?«

    »Komm kurz vor sieben. Großvater schätzt Pünktlichkeit. Old school, hast du ja schon mitbekommen.« Er verdrehte die Augen. »Ich muss leider noch arbeiten, wichtiger Kunde. Ist er zufrieden, folgen weitere Aufträge.«

    »Dann streng dich an«, sagte sie und lächelte warm.

    3

    Gleich nach dem Frühstück ging Grace in Großmutters Schlafzimmer. Agatha hätte es sich gewünscht, dass ihre Kleider an die Kirchengemeinde gespendet werden, hatte George beim Abendessen gesagt und Bedenken, es sei zu früh, zerstreut. Seine Warmherzigkeit und Marcs Lässigkeit ergänzten sich hervorragend. Sie nahmen Grace bei sich auf wie ein Familienmitglied und sie war glücklich darüber. Zum Dank lud sie sie ungeachtet ihrer bescheidenen Fähigkeiten am Herd für den heutigen Abend zum Essen ein.

    Es fiel ihr schwer, den Inhalt des Kleiderschrankes in die Faltkartons zu verstauen, die sie vom Dachboden holte. Und sie vergoss Tränen, während sie Stapel um Stapel dort hineinlegte. Großmutter hatte jedes Stück sorgfältig ausgewählt. Alles wegzugeben, manifestierte die Tatsache, dass sie nie mehr zurückkehrte.

    Als der Schrank geleert war, machte sie eine Pause, setzte sich mit einer Tasse Kaffee auf die Stufen, die von der Küche in den hinteren Teil des Gartens führten, und tröstete sich mit ihrer Lieblingsschokolade. Wieder im Schlafzimmer, öffnete sie die Truhe vor Großmutters Bett.

    »Wow!«, entfuhr es ihr.

    Vorsichtig hob sie das zu oberst liegende Stück heraus. Es war ein Abendkleid in elegantem Grau, schlicht geschnitten, aber aufwendig gearbeitet. Grace zog es auf einen Bügel und hängte es an den Schrank. Ein weiteres Kleid, dunkelrot. Danach barg sie Agathas Hochzeitskleid, hielt es sich an, trat vor den ovalen Spiegel und stellte sich vor, durch das Mittelschiff einer Kirche zu schreiten. Großmutter hatte auf ihren Hochzeitsfotos anmutig gewirkt und glücklich ausgesehen. Das spende ich auf keinen Fall, dachte sie und hängte es neben die anderen.

    Was danach unter einer erdfarbenen, groben Wolldecke zum Vorschein kam, befremdete sie. An einem langen Stiel zog Grace eine Axt aus der Truhe. Keine, die man für gewöhnlich zum Spalten von Feuerholz verwendete, nein, dies war eine Streitaxt, deren Schaft mit verschiedenfarbigen Lederbändern umwickelt war. Die Klinge war schartig, aber scharf. Es schien ein sehr altes Stück zu sein, das Großvater gehört haben musste. Grace war sicher, es nie zuvor gesehen zu haben. Sie entdeckte weitere Waffen: ein Kurzschwert und einen Dolch, dann Arm- und Beinschienen, die mit Riemen gebunden wurden wie bei einem Krieger. Offenbar hatte Großvater eine komplette Ausrüstung besessen. Ein Gürtel mit goldener Schnalle und mit Halbedelsteinen besetzt gehörte ebenfalls dazu. Zu guter Letzt nahm sie ein Lederwams aus der Truhe.

    Das Material war dick und fest, dass es eher an eine Rüstung erinnerte als an eine Weste. Sie stutzte. Auswölbungen im oberen Teil waren nicht für einen Mann gemacht. Dieses Wams war für eine Frau gefertigt worden, eine Frau ihrer Statur oder der Statur ihrer Großmutter. Grace starrte auf das Bett, wo alles ausgebreitet lag. Wofür hatte sie solch eine Ausstattung gebraucht? Und wo kaufte man sowas? Zu welchem Anlass hatte Großmutter sie getragen? Bei einem Kostümfest? Man geht doch nicht mit scharfen Waffen auf einen Ball, dachte Grace und konnte sich keinen Reim darauf machen. Womöglich wusste George darüber Bescheid. Sie nahm sich vor, ihn später danach zu fragen.

    Kopfschüttelnd verstaute sie die Sachen in der Truhe, verbarg sie unter der Wolldecke und legte die weißen Tücher darauf, mit denen die Möbel in ihrem Zimmer verhüllt waren. Dann klappte sie den Deckel zu, hievte sich einen Kleiderkarton auf die Schulter und trug ihn bis zur Haustür.

    Die Kampfausrüstung ließ ihr keine Ruhe. Hatte auf dem Tisch im Lesezimmer nicht auch ein Buch über Waffenkunde gelegen? Grace schob den Karton auf die Veranda und widmete sich dem Chaos.

    Weit über zwanzig Bücher und Magazine lagen kreuz und quer übereinander, als hätte Großmutter etwas gesucht. Grace sah sich zuerst an, was aufgeschlagen war. Seiten eines veralteten Lexikons zeigten Bilder von Schmetterlingen, in einem Wissenschaftsjournal wurde über die Entdeckung einer Tierart berichtet, die lange als ausgestorben galt. Ein Atlant bot die Karte des Landes dar, um das es im Artikel ging. Grace setzte sich in den Sessel und las ihn. Es wunderte sie, dass Großmutter sich dafür interessiert hatte. Sie liebte die Natur und ihren Garten und sie kannte sich mit allerlei Pflanzen aus, aber wissenschaftliche Abhandlungen?

    Grace sah sich weitere Bücher an, fand eins über Waffenkunde und ein anderes über alten Schmuck. Sie blätterte es durch, dann holte sie das Kästchen vom Sims und öffnete es. Wieder schien es, als könne sie in die Perle hineinschauen. Ein seltsam schönes Stück, dachte sie, legte sich die Kette an und schaute in den Spiegel. Zu Jeans, Bluse und einem Pullover um die Hüften wirkte sie unpassend. Sie stellte sich vor, wie sie zu einem der Abendkleider aussähe und bemerkte, wie das Gewicht des Anhängers fortwährend zunahm. Sie hatte bereits die Hände an ihren Hals geführt, um den Schmuck abzunehmen, da flammte die Perle auf, als wäre in ihr ein Licht entzündet worden. Grace erschrak und stand wie gebannt. Unfähig, den Verschluss zu greifen, sah sie in den Spiegel. Verformte sich ihr Gesicht oder war es das Glas? Alles um sie herum geriet nun in Bewegung. Es war, als ob ihr schwindelig wäre, ihre Augen Zerrbilder produzierten und sie jeden Moment aus dem Gleichgewicht käme. Gleichwohl stand sie fest und aufrecht auf einem Boden, der in Wellenbewegungen in einen Nebel zu gleiten schien. Teile des Raumes waren bereits fort oder befanden sich in Auflösung. Wie von einem Sog erfasst strömte alles in einen Trichter, der sich hinter dem Spiegel aufgetan hatte. Grace war wie versteinert, während sich ihr Verstand dem Wahrgenommenen zu entziehen suchte. Dann schrie sie auf und presste die Hände vor ihre Augen in der Hoffnung, der Spuk hätte ein Ende, wenn sie wieder hinsah.

    Der Spuk hatte ein Ende, jedoch nicht das von Grace erwartete. Sie befand sich nicht mehr im Lesezimmer, nicht in Großmutters Haus, nicht in ihrer Straße oder einer Stadt. Sie stand auf einer grasbewachsenen Hügelkuppe inmitten einer ihr völlig unbekannten Landschaft. Jenseits eines Waldes, der sich in einem weitläufigen Tal erstreckte, gab es mit Steinmauern eingefasste Felder und Weiden und eine Siedlung, die nichts mit dem gemein hatte, das sie kannte. Schlichte aus Feldsteinen und Holz errichtete Häuser ragten wie faulende Zähne aus der Anhöhe. Grace glaubte nicht, was sie sah. Ein ums andere Mal schloss sie ihre Augen, doch das änderte nichts. Immer die gleichen Bilder, die gleiche Landschaft, sobald sie sie aufmachte.

    Die Arme nach vorn ausgestreckt ging sie ein paar Schritte, als sei sie blind. Drei oder vier, weiter war sie vom Kamin nicht entfernt gewesen, nun hatte sie schon zehn gezählt. Das konnte doch alles nicht sein. Grace war zu irritiert, um panisch zu werden. Sie dachte an

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