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Schweigende Boote: Ein Ägäis-Krimi
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Schweigende Boote: Ein Ägäis-Krimi
eBook370 Seiten4 Stunden

Schweigende Boote: Ein Ägäis-Krimi

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Über dieses E-Book

Die Corona-Pandemie hat auch die ägäischen Inseln erreicht. Ein Sommer ohne Touristen bedeutet für viele Insulaner eine wirtschaftliche Katastrophe. Um die fehlenden Einnahmen zu decken, verkaufen einige Fischer sogar ihre traditionellen Kaiki-Boote.
Für den jungen Biologen Elias ist daher der Job auf einer modernen Aquakultur-Fischfarm die sichere Wahl in der Krise. Als er jedoch bei einem Routinetauchgang eine Leiche in unmittelbarer Nähe zu einem der Aufzuchtbecken entdeckt, gerät er in ungeahnte Schwierigkeiten.

Ein neuer Sondereinsatz für Filippos Panos, dessen Ermittlungen ihn diesmal von Paros zu der kleinen, malerischen Insel Serifos führen. Ein vergessenes Kykladen-Eiland, das hinter verträumten Dörfern, einsamen Kapellen und sterbenden Fischerbooten, gefährliche Geheimnisse verbirgt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Mai 2023
ISBN9783949961045
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    Buchvorschau

    Schweigende Boote - Peter Pachel

    Elias Nikoladis

    Livadi, Serifos, Westliche Ägäis, Mai 2020

    Elias Nikoladis fuhr erschrocken hoch. Das schrille Klingeln seines Smartphones riss ihn nun schon zum dritten Mal unsanft aus seinen Träumen. Diesmal konnte er den Weckruf nicht mehr ignorieren, es wurde höchste Zeit aufzustehen. Noch während er schlaftrunken nach seinem Telefon suchte, entschied er, sich einen freundlicheren Alarm einzustellen. Der aktuelle Weckton drohte, seinem Trommelfell ernsthaften Schaden zuzufügen. Fluchend drückte er die Stummtaste und ließ den gestrigen Abend Revue passieren. Es war spät geworden im Takami, seiner Lieblingstaverne, viel zu spät, um heute pünktlich an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen. Mit dröhnendem Schädel mühte er sich aus seinem Bett. Den letzten Ouzo hätte er besser weggelassen, überlegte er reumütig, aber keiner in der Runde hatte Anstalten gemacht, nach Hause zu gehen. Sie alle hatten den Abend laufen lassen und die ausgelassene Stimmung genossen, nach langen Wochen voller Entbehrungen. Strikte Ausgangssperren hatte die Regierung verhängt und die wurden selbst hier auf Serifos akribisch von der Polizei überwacht. Bei Nichteinhaltung drohten hohe Bußgelder. Das einzige Mittel, die Bevölkerung in Schach zu halten. Trotz erster, leichter Lockerungen jetzt im Mai war das gewohnte Leben immer mehr auf der Strecke geblieben, seit das Virus selbst in den entlegensten Ecken des Landes in aller Munde war.

    Auch in Livadi, dem wichtigsten Hafenstädtchen an der Südostseite der Insel, war man vorsichtiger geworden, nachdem die schaurigen Bilder aus Bergamo mit unzähligen Corona-Toten um die ganze Welt gegangen waren. Ein Umdenken war überall zu spüren, obwohl es immer noch genug Menschen gab, die diese neue, unbekannte Gefahr herunterspielten. Auch Elias war lange der Meinung gewesen, ihm könne auf ihrer Insel nichts passieren. Erst als ihm Freunde aus Athen über zunehmende Erkrankungen in der Hauptstadt berichteten, hatte er sein Verhalten geändert. Wenn auch nur unwesentlich, schließlich spielte sich das Leben mit Beginn des Frühlings wieder zum größten Teil draußen an der frischen Luft ab. Tagsüber, wenn er seiner Arbeit nachging, kam er zwar zwangsläufig mit anderen Menschen in Berührung, aber auch in seinem Job bewegte er sich überwiegend außerhalb geschlossener Räume. Die Zentrale seines Arbeitgebers hatte vorbildlich reagiert und klare Verhaltensregeln für alle Mitarbeiter festgelegt, zumindest auf dem Papier. Ob sie in der Praxis wirklich eingehalten wurden, war nur schwer zu kontrollieren. Das neue Kleidungsstück eines Mund–Nasen-Schutzes erinnerte ihn seitdem stets an die gefährliche Krankheit. Eine nie gekannte Unsicherheit schwang seit dieser Zeit in seinem Leben mit. Das war bestimmt auch der Grund, warum er gestern zu später Stunde so zögerlich reagiert hatte. Und das, obwohl er so nahe am Ziel gewesen war und Lia ihm eindeutige Signale gegeben hatte. Die Studentin aus Tel Aviv, die eigentlich nur ein paar Wochen Urlaub auf der Ky­kladeninsel verbringen wollte, dann aber kurzerhand ihren Aufenthalt verlängert hatte. Sie war zu dem Entschluss gekommen, so lange auf Serifos zu bleiben, bis ihr Land wieder ein einigermaßen normales Leben zuließ. Israel, und ganz besonders Tel Aviv, wurde von der Seuche im Frühjahr ziemlich heftig erwischt und da waren die Lebensbedingungen auf einer griechischen Insel doch weitaus angenehmer als in der Enge einer sich im Lockdown befindlichen Großstadt. Seitdem gehörte die gutaussehende Schönheit an drei Tagen der Woche zum festen Bestandteil von Elias’ Lieblingstaverne. Ihr war es gelungen, Jannis, dem Besitzer des Takami, so lange in den Ohren zu liegen, bis er ihr einen Aushilfsjob angeboten hatte, obwohl das Lokal in den letzten sechs Wochen ausschließlich Essen to go anbieten konnte. Der in normalen Zeiten ab Anfang Mai beginnende Tourismus war bislang ausgeblieben.

    Corona hatte die Lebensbedingungen und damit verbunden auch das Reiseverhalten in vielen Ländern auf den Kopf gestellt und niemand konnte sagen, wie sich die Situation entwickeln würde. Das machte sich nun auch auf Serifos bemerkbar. Das karge Eiland, vielfach noch als Geheimtipp gehandelt, verzeichnete in den vergangenen Jahren zwar einen stetig steigenden Besucherstrom, aber der große Run wie auf den bekanntesten Kykladeninseln war bislang ausgeblieben.

    Elias schaute entsetzt auf seine Uhr. Er wollte wenigstens versuchen, noch vor seinem Chef an seiner Arbeitsstelle zu erscheinen, der großen Fischfarm in der Nähe von Spathi ganz im Süden der Insel. Von seiner Wohnung aus waren es mit dem Motorrad gute zwanzig Minuten bis zu der versteckten Stamata Bucht, in der die Andromiko Sea Food Group schon seit vielen Jahren die große Zuchtstation betrieb.

    Elias war schon fast zwei Jahre bei dem renommierten Unternehmen angestellt, welches in verschiedenen Ländern Aquakulturen betrieb und seinen Hauptsitz in Paiania, in der Nähe von Athen besaß. Nach seinem Studium in Heraklion auf Kreta hatte er zunächst eine kurze Zeit am Griechischen Zentrum der Meeresforschungen, dem HCMR gearbeitet. Der Wunsch, auf seine Heimatinsel Serifos zurückkehren zu können, hatte ihn zu dieser Firma geführt. Eigentlich war er Biologe, aber als die Firma einen Ingenieur zur Wartung der umfangreichen Fischfarm suchte, war sofort klar, dass er sich bewerben würde. Den Zuschlag erhielt er noch in derselben Woche. Das war nun schon eine geraume Zeit her und mittlerweile war er mit den vielfältigen technischen Gerätschaften bestens vertraut. Er war einer der wenigen Angestellten, der neben einem breiten technischen Wissen noch Expertise im Fach Biologie aufweisen konnte. Eine hervorragende Kombination, um in dem Unternehmen weiter Karriere machen zu können.

    Heute musste er den Wagen nehmen, in dem er sein Tauchequipment immer einsatzbereit mit sich führte. Bei gutem Wetter nahm er ansonsten sein Motorrad. Einem jährlich festgelegten Wartungsintervall folgend, stand in dieser Woche die Überprüfung der zahlreichen, im Meer verankerten Fischzuchtkäfige auf dem Plan. Dazu würde er den größten Teil des Tages unter Wasser verbringen müssen, was Elias als durchaus angenehm empfand. Der Besitz eines Tauchscheines war Bedingung für seine Anstellung gewesen und auch, wenn die Inspektionstauchgänge heute in erster Linie seiner Arbeit galten, konnte er so sein Hobby mit dem Beruflichen verbinden. Bei den im Mai noch recht kühlen Wassertemperaturen war ein Neoprenanzug unbedingt erforderlich. Seinem Kopf würde eine Erfrischung an diesem Vormittag guttun. Schnell hangelte er sich durch das Bad, steckte sich noch einen griechischen Sesamring – Koulouri – ein und machte sich auf den Weg. Einen starken Kaffee würde er sich vor Ort kochen.

    Die Strecke führte aus Livadi eine steil ansteigende Straße hinauf gen Süden, in Richtung der winzigen Ortschaft Ramos. Vorbei an einem lieblichen Kirchplatz erreichte man am Ausgang der Ansiedlung eine staubige Piste. Dort hielt er sich links und folgte der unbefestigten Straße. Sie schlängelte sich durch die karge Landschaft hinunter bis in die Stamata Bucht. Die Strecke war frei und lediglich ein laues Lüftchen sorgte für eine angenehme Frische an dem frühsommerlichen Morgen. Mit heruntergekurbelten Fenstern genoss Elias den Fahrtwind und ärgerte sich erneut, der schönen Studentin nicht näher gekommen zu sein. Zum Glück war sie ja nicht aus der Welt, und wie es aussah, zog sich ihr Aufenthalt noch in die Länge.

    Er war fast am Ziel. Nach der letzten Kuppe ging es bergab und erst jetzt konnte man die mehr als vierzig Zuchtbecken umfassende Anlage sehen, die wie überdimensionale Schwimmbecken im Meer schaukelten. Die kreisförmigen Käfige hatten unterschiedliche Durchmesser, die größten davon, zur Aufzucht von Dorade und Wolfsbarsch, maßen bis zu vierzig Meter. Alle Becken waren wie Perlen an einer Kette aneinandergereiht und hingen bis zu zwanzig Meter tief im Meer. Elias parkte seinen Wagen vor dem Wirtschaftsgebäude, das man durchaus mit einer Technikzentrale vergleichen konnte. Die effiziente Aufzucht von Fischen bedurfte einer lückenlosen Überwachung und dazu wurde hochwertige Messtechnik benötigt. Elias atmete auf. Sein Boss war noch nicht eingetroffen, also brauchte er sich wenigstens nicht für sein spätes Erscheinen zu rechtfertigen. Mehrere Angestellte, die größtenteils für Routinearbeiten gebraucht wurden, winkten ihm aus der Ferne zu. Sein erster Weg führte ihn in die winzige Kaffeeküche. Er brauchte jetzt dringend einen starken griechischen Kaffee – Ellinikó. Danach würde er dort weitermachen, wo er gestern aufgehört hatte. Gut die Hälfte der Käfige waren schon inspiziert worden und heute würde er die verbleibenden Becken auf eventuelle Beschädigungen kontrollieren. Die Bucht lag zwar gut geschützt vor den Tücken der oft rauen Ägäis, aber eine regelmäßige Sichtkontrolle der Netze gehörte zur Routine. Zu Beginn seiner Tätigkeit bei der Andromiko Sea Food Group hatte er sich in seinem Freundeskreis vielen kritischen Fragen stellen müssen, denn die Firma war nicht bei allen Insulanern gern gesehen. Fragen, die er sich oft selbst gestellt hatte. Aber die zunehmende Nachfrage nach bezahlbarem Fisch bei gleichzeitig stark überfischten Weltmeeren machte eine alternative Aufzucht von Meerestieren unabdingbar. »Wenn ich an der Quelle bin, kann ich mich einbringen, was die Nachhaltigkeit der Fischzucht betrifft«, hatte er seinen Freunden immer geantwortet. Jetzt, nach fast zwei Jahren in dem Betrieb, hatte er bereits mehrere Gespräche zu dem Thema mit der Zentrale geführt.

    Die Ägäis war schon lange leergefischt, was jeder Tourist, der frischen Fisch liebte, schmerzlich in seinem Geldbeutel zu spüren bekam. Diesen Trend beobachtete man schon sehr lange und für viele traditionelle Fischerfamilien bedeutete diese Entwicklung den schleichenden Tod ihres seit Generationen ausgeführten Berufsstandes. Die ganze Misere wurde von der EU noch angetrieben, indem man seit den 1980er-Jahren eine Verschrottung der klassischen griechischen Fischerboote, den Kaikia, subventionierte. Mit dieser Aktion wollte man der Überfischung des östlichen Mittelmeeres entgegenwirken. Was der Verlust dieser alten Tradition für die Familien bedeutete, spielte dabei keine Rolle. Aber es gab sie noch, die kleinen Familienverbände, die mit den geschichtsträchtigen Booten ihren Lebensunterhalt verdienten, und der Widerstand gegen die Ausrottung der geliebten Holzboote wurde immer größer. In der seit Jahren anhaltenden Krise war bei der lokalen Bevölkerung eine Rückbesinnung zu alten Traditionen deutlich erkennbar, und der Erhalt der Kaikia war eine davon. So organisierten sich zunehmend Bootsbesitzer mit Medienaktionen, um dem Verschwinden ihrer Lebensgrundlage entgegenzuwirken. Kein leichtes Unterfangen, gegen die großen Fischereiflotten und die modernen Aquakulturen mit ihrem weltweiten Netzwerk, aber ein Anfang, der Mut machte. In Elias’ Brust schlugen zwei Herzen. Einerseits erschien ihm die Notwendigkeit neuer Aufzuchtmethoden durchaus einleuchtend, andererseits kannte er Familien auf den Inseln, die diese Technik als eine große Konkurrenz betrachteten. Hinzu kam, dass die großen Fischfarmen mittlerweile zu einem enormen Business gewachsen waren, von dem letztendlich auch die meisten Bewohner auf Serifos profitierten.

    Elias biss herzhaft in seinen Sesamkringel und schlürfte an dem Ellinikó. Dann schlüpfte er in den Neoprenanzug und holte die Tauchausrüstung aus seinem Wagen. Ein Steg, der weit ins Meer hineinragte, bot ihm Gelegenheit, auch an die weiter vom Ufer entfernt gelegenen Käfige trockenen Fußes zu gelangen. Sitzend zog er sich seine Flossen an und prüfte ein letztes Mal seinen Sauerstoffvorrat. Ein Routinecheck, der für ausgiebige Tauchtouren zwingend vorgeschrieben war. Bei seinen Kontrollgängen tauchte er maximal bis auf fünfzehn Meter ab. Keine Tiefe, aus der man nicht auch ohne Luft wieder problemlos aufsteigen konnte. Wie erwartet war mit seinem Equipment alles in Ordnung und er setzte die Maske auf. Dann glitt er sanft in das tiefblaue Nass nahe des zu prüfenden Zuchtbeckens. Sogleich kam Unruhe in dem gut gefüllten Bassin auf und Schwärme von Doraden schossen in ihrem beengten Gefängnis wild hin und her. Elias war mit dem Verhalten der Zuchtfische vertraut und startete unbeirrt seine Kontrolle. Dabei drehte er zunächst knapp unter der Oberfläche eine Runde um das gesamte Becken. Sein Augenmerk galt den Befestigungen des Netzes an dem auf der Oberfläche schwimmenden Abschlussring. An dieser Stelle traten erfahrungsgemäß die häufigsten Beschädigungen auf. Dort waren die Netze der ständigen Dynamik der auslaufenden Dünung ausgesetzt und hier waren die Zugkräfte besonders hoch. Mit jeder Umrundung tauchte er tiefer ab, bis er schließlich den Boden des Käfigs erreichte. Eine mit allerlei Bewuchs besiedelte Kette führte zu einem im Meeresgrund verankerten Betonklotz und war damit fest verbunden. Eine zusätzliche Sicherung für das wuchtige Becken. Elias war an der tiefsten Stelle angelangt. Die Sicht war hier nicht mehr ganz so unbeeinträchtigt wie kurz unter der Oberfläche, aber immer noch klar genug, um eine ordentliche Prüfung vornehmen zu können. Sorgfältig ließ er den Blick schweifen, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Alles schien okay. Er setzte an, um wieder aufzutauchen, als ein Gegenstand hinter der massiven Betonverankerung seine Aufmerksamkeit erregte. Zwei seichte Flossenschläge ließen ihn näher an die Stelle gleiten. Ein schroffer Felsbrocken befand sich direkt hinter dem künstlichen Betonblock. Der unbekannte Gegenstand schien sich zu bewegen, beobachtete Elias, als er genauer hinschaute. Zu seiner Überraschung erkannte er aber, dass es unzählige Krebse waren, die darauf herumkrabbelten. Er änderte seine Position, um mit seiner Maske noch näher heranzukommen. Dann stockte ihm der Atem. Unter den gefräßigen Schalentieren erkannte er einen Schuh, aber nicht nur das. In dem Schuh steckte ein Fuß, der unterhalb der Wade abgetrennt worden war. Zwischen dem Gewusel der Meeresbewohner blitzten die weißen, kalten Flecken menschlicher Haut hervor. Elias wurde schlagartig übel. Dann stieß er sich ab und tauchte auf.

    Dimitris Somaris

    Paros, Südliche Ägäis, vier Wochen vorher

    Dimitris Somaris hatte mehrere Tage seinen neuesten Coup gefeiert, was in diesen Zeiten nur ganz wenigen Inselbewohnern vorbehalten war. Die Stimmung auf der beliebten Kykladeninsel hatte sich in wenigen Wochen merklich eingetrübt, seit Ende Februar auch in Griechenland ein erster Fall von Covid-19 offiziell erfasst worden war. Eine Frau aus Thessaloniki wurde am 26. Februar erstmals positiv auf das Virus getestet, nach einem Aufenthalt in Norditalien. Die Reaktion der Regierung kam postwendend und schon einen Tag später wurden alle Karnevalsfeiern im gesamten Land vorsorglich abgesagt. Ein erstes Zeichen der sich anbahnenden Katastrophe. Aber Thessaloniki war weit weg und viele Bewohner der Insel erlagen zu diesem Zeitpunkt noch der Illusion, dass ihnen schon nichts passieren könne. Ein fataler Irrtum, wie sich schnell herausstellen sollte, denn schon am 10. März veranlasste die Regierung die Schließung aller Bildungseinrichtungen. Das war dann auch für die Landbevölkerung ein harter Eingriff in den Alltag. Einen Tag zuvor war zudem ein erster Fall auf Lesbos aufgetaucht. In nur wenigen Wochen war nichts mehr wie es war und spätestens als Ende März strenge Ausgangsbeschränkungen beschlossen wurden, zeichneten sich die Auswirkungen von Corona immer deutlicher ab.

    Ein böses Erwachen vor allem für Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Tourismus bestritten. Die ansonsten in dieser Jahreszeit so positiv empfundene Aufbruchstimmung war plötzlich dahin und eine große Lähmung erfasste die Bevölkerung. Der große Frühjahrsputz kam jäh zum Stillstand und als klar war, dass selbst ihr geliebtes Osterfest den Corona-Schutzmaßnahmen zum Opfer fallen würde, wurde die ganze Tragweite für alle drastisch spürbar.

    Eine Tatsache, die Dimitris Somaris kalt ließ, denn Familie war noch nie seine Passion gewesen. Und nach der Trennung von seiner Frau pflegte er kaum noch Kontakt zu seinen Verwandten. Kinder hatte er keine und seine Ex war nach der Scheidung zurück nach Amerika gegangen. Das war bei den meisten griechischen Familien völlig anders, schließlich war das Paskafest zu Ostern die größte Festlichkeit der Griechen. Nur die Ankündigung hoher Geldstrafen, bei Nichteinhaltung der Regeln, hielt die Menschen davon ab, sich über die beschlossenen Maßnahmen hinwegzusetzen. Keine rosigen Zeiten für Normalbürger. Für Dimitris Somaris stellte sich die Situation trotz dieser einschneidenden Ereignisse jedoch etwas anders dar. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die der neuen Bedrohung durchaus auch etwas Positives abgewinnen konnten. Peinlichst darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen, spielte er verschiedene Szenarien der möglichen Entwicklung durch. Dabei kam er zu dem Schluss, dass sich bestimmt noch weitere lukrative Geschäfte für sich und seinen Geschäftspartner im fernen Deutschland durch die Krise anbahnten.

    Dem hatte er gestern noch ganz euphorisiert von seinem letzten Erfolg berichtet. Ein Fehler, wie sich im Nachhinein herausgestellt hatte. Robert Wagner hatte aufmerksam zugehört und war immer unruhiger geworden. Jetzt witterte auch er das ganz große Geschäft. Das gipfelte darin, dass er ab sofort täglich einen Lagebericht von dem Griechen verlangte. Eine engere Abstimmung aller weiteren Aktivitäten könne nur von Vorteil sein und nur so sei die Ausarbeitung einer angepassten Strategie möglich, waren seine Worte. Somaris hatte ihn reden lassen. Er saß eindeutig am längeren Hebel und gab die Regeln vor. Außerdem war die Geschäftsverbindung zu Robert Wagner nicht seine einzige Einnahmequelle. Gleich zwei Erfolge galt es in diesen Tagen zu feiern, wobei die Übernahme eines angesagten Cafés eher durch einen Zufall zustande gekommen war. Das verdankte er seinem guten Netzwerk auf der Insel. Das Gerücht hielt sich schon lange und durch Corona wurde es schnell zur Gewissheit. Der Pächter eines im Herzen von Naoussa liegenden Cafés namens Platanos hatte sich im vergangenen Jahr völlig überschuldet mit dem Umbau des Lokals und alle Karten auf eine gutgehende Saison 2020 gesetzt. Mit einer Berechnungsgrundlage aus den letzten beiden sehr erfolgreichen Jahren hatte er auch seine Bank überzeugen können und einen großzügigen Kredit erhalten. Jetzt, nachdem es ein Sommergeschäft 2020 nicht geben würde, hatten sie ihm die Pistole auf die Brust gesetzt.

    Über einen guten Bekannten war Somaris über die Nöte des Mannes informiert worden und der geschäftige Grieche aus Parikia hatte dem verzweifelten Betreiber postwendend ein Angebot gemacht. Nach dem Motto: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, hatte er ihm die Übernahme des Cafés sowie der gesamten Einrichtung angeboten, zu Konditionen, die weit unter dem Verkehrswert der Lokalität lagen. Somaris hätte nie damit gerechnet, dass der Wirt so schnell darauf eingehen würde, aber seine Bank hatte dem verzweifelten Gastronomen dringend dazu geraten. Die Überschreibung war bereits veranlasst worden, nun wartete er nur noch auf die Dokumente, die der ehemalige Besitzer ihm zusammen mit den Schlüsseln des Objektes aushändigen sollte. Seit diesem Deal führte Somaris eine Liste weiterer Restaurants und Ladenlokale mit sich, die sich in einer vergleichbar prekären Lage befanden. Ganz besonders Geschäfte, die Ende 2019 den Besitzer gewechselt und viele Investitionen getätigt hatten, waren in seinem Fokus. Die Dorftrommeln funktionierten, gerade wenn es um die heißumkämpften Lokalitäten ging, mit denen man während der Hochsaison enorm viel Geld verdienen konnte. So versprach die ganze Krise doch noch etwas Gutes zu bewirken, zumindest für Dimitris Somaris.

    Er war bekannt für sein gutes Näschen, wenn es um gewinnträchtige Geschäfte ging. Viele sahen in ihm einen skrupellosen, windigen Halsabschneider, der ohne Rücksicht auf Verluste die Situation in Not geratener Menschen ausnutzte.

    Ihn selbst störte das wenig und er hob stets die Vorteile der Betroffenen hervor, die es ohne seinen Einsatz noch wesentlich schlimmer erwischt hätte. Diese Strategie verfolgte er auch sehr erfolgreich mit seinem Haupt-Business, auf das er durch einen Gast aufmerksam geworden war. Damals betrieb er eine eigene Taverne, war aber schon länger auf der Suche nach einem zweiten Standbein. Robert Wagner kam da gerade zur rechten Zeit mit seiner Idee, und ihre Zusammenarbeit war schnell besiegelt. Die beiden Männer kannten sich flüchtig, wenn der Deutsche aus einem kleinen Dorf in Süddeutschland auf Paros Urlaub machte und in Somaris’ Taverne war. Dort hatte er dem Wirt auch erstmals von seiner Geschäftsidee erzählt, nach einer gemeinsamen Karaffe Souma. Somaris war von Anfang an begeistert gewesen von dem Gedanken, hatte sich aber auch darüber geärgert, dass ein Fremder diesen genialen Einfall vorbrachte.

    Angetan von der sorgfältigen Vorbereitung des Deutschen, und einem guten Gefühl für die außergewöhnliche Idee, hatte er ihm am nächsten Tag einen Vorschlag gemacht.

    Ohne die Hilfe eines Partners vor Ort wäre er auf verlorenem Posten, hatte er Wagner eindeutig zu verstehen gegeben und sich als Juniorpartner angeboten. Dieses Geschäft wäre mit sehr vielen Emotionen verbunden und verlange größtes Einfühlungsvermögen, hatte Somaris schwadroniert. Voraussetzungen, die einem Nichtgriechen ganz einfach fehlten. Wagner hatte es nach einigen Erläuterungen verstanden und damit die Geburtsstunde ihres gemeinsamen Geschäftsmodells eingeläutet.

    Die Idee, alte Fischerboote aufzukaufen und sie nach Deutschland und andere Länder in Europa zu verschicken, war in der Tat ein heikles Thema, was seit dem Beginn der Achtzigerjahre die Gemüter auf den Inseln erregte. Geboren war der Plan bei Robert Wagner, als er bei einem seiner Aufenthalte auf den Kykladen von der bestehenden EU-Maßnahme erfahren hatte. Den Beamten in Brüssel waren die zahlreichen traditionellen Fischerboote – die Kaikia – schon lange ein Dorn im Auge und sie hatten damit begonnen, die Verschrottung der Boote zu subventionieren. Ihr Plan, damit die Überfischung der Ägäis aufzuhalten, fand nicht überall Anklang, zumal ein Kaiki für die Griechen viel mehr war als nur ein schnödes Fischerboot. Es war ihr zweites Zuhause und gleichzeitig ihre Arbeitsstätte, mit der der Lebensunterhalt ganzer Familien gesichert wurde. Dabei waren die traditionell gebauten Boote aus Holz der ganze Stolz des Familienoberhauptes, die an die Kinder weitergegeben wurden, und das seit Generationen. Schon lange kämpften die kleinen Familienbetriebe ums Überleben, und das nicht nur wegen der schwindenden Fischbestände in der Ägäis. Auch die zunehmend wachsende Flotte der Großtrawler mit ihren riesigen Fangnetzen machte ihnen das Leben schwer. Eine traurige Entwicklung, die kaum aufzuhalten war. Da kam die Verschrottungsprämie der EU wie ein Brandbeschleuniger erschwerend hinzu. Um ihr karges Einkommen etwas aufzubessern, boten sich die Fischer in den Sommermonaten oft als Zubringer von Touristen zu entlegenen Stränden an, aber das konnte den Verlust ihrer eigentlichen Passion nicht ersetzen. Die Urlaubssaison war kurz und das linderte die Not nicht wirklich. Schweren Herzens waren in den vergangenen Jahren viele Fischer auf das Angebot der EU eingegangen, meist wenn die Nachkommen nicht mehr bereit waren, unter den widrigen Umständen ihrer Eltern zu arbeiten und ihre Heimatinseln verließen. Diese traurige Entwicklung setzte sich viele Jahre fort und die einheimischen Fischer fühlten sich der Situation hilflos ausgeliefert. Robert Wagner zusammen mit Dimitris Somaris kannten die Nöte der Betroffenen ganz genau und führten ein Register, in denen auf den einzelnen Inseln potenzielle Verkäufer gelistet waren. Es waren Familien, die ein Kaiki ihr Eigen nennen konnten, jenseits der Siebzig und ohne Nachkommen, die für eine Übernahme der Boote bereitstanden. Somaris hatte an den Profilen der Familien kräftig gearbeitet und wusste ganz genau, wann die Zeit für ein Angebot gekommen war.

    Die grandiose Idee seines deutschen Geschäftspartners war ihm dabei sehr hilfreich.

    Robert Wagner war gelernter Möbelbauer und hatte ein Konzept erarbeitet, aus den antiken Booten prunkvolle Einzelstücke zu erschaffen, die er in Luxusgärten in ganz Europa verkaufte. Zu wissen, dass ihr Boot erhalten blieb, wenn auch zweckentfremdet, war für die einstigen Fischer eher zu ertragen, als es zu verschrotten.

    Wagners Geschäftsidee boomte seit fast zehn Jahren, dank der akribischen Zuarbeit von Somaris auf Paros. Doch in letzter Zeit zogen immer mehr dunkle Wolken auf. Die Auswirkungen der langanhaltenden Wirtschaftskrise waren auch daran zu erkennen, dass viele junge Griechen ihre alten Traditionen wiederentdeckten. Dazu gehörte neben der Rückbesinnung auf die griechische Musik und deren Tänze auch die Bedeutung der klassischen Kaikia. So hatte eine Online-Kampagne mit dem Titel Save Kaikia der Traditional Boat Association of Greece der Verschrottung der alten Boote erst neulich den Kampf angesagt. Die beiden Geschäftsleute beobachteten die Aktion schon

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