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Vogelhälse
Vogelhälse
Vogelhälse
eBook168 Seiten2 Stunden

Vogelhälse

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Über dieses E-Book

Ein Sommertag beginnt. Ein Junge erwacht. Anstatt zu lernen, lauscht er den Lauten des Sommers, dem Gesang der Vögel, träumt von der Fahrt aufs Land, vom Garten seiner Großmutter – erinnert sich an die ersten zaghaften Umarmungen eines Mädchens …
Eine Zugreise beginnt. Die Rückreise des Jungen und des Mädchens, die als Erwachsene an die Orte ihrer Kindheit reisen. Die Erinnerung des einen verschwimmt in der Erinnerung des anderen, als gäbe es keine Zeit und keinen Raum mehr, nur noch die Verzauberung des Augenblicks …
Kai Maruhns Sommerkomposition gleicht einem impressionistischen Gemälde und erinnert auf eigentümliche Weise an die sprich- wörtliche proustsche Madeleine.
SpracheDeutsch
Herausgeberduotincta
Erscheinungsdatum17. Apr. 2020
ISBN9783946086475
Autor

Kai Maruhn

Kai Maruhn wurde in Berlin geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Geschichte und arbeitete in unterschiedlichen, mehr oder weniger interessanten Jobs.

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    Buchvorschau

    Vogelhälse - Kai Maruhn

    verlag duotincta

    Kai Maruhn

    Vogelhälse

    Roman

    Kai Maruhn wurde in Berlin geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Geschichte und arbeitete in unterschiedlichen, mehr oder weniger interessanten Jobs. Die „Vogelhälse" haben eine ebenso unglaubliche, wie wahre Geschichte: Nachdem das erste Manuskript einem Hausbrand zum Opfer fiel, wurde der Laptop mit der zweiten Fassung gestohlen und fand sich erst Wochen später auf dem Grund eines Teiches in einem nahegelegenen Park wieder. Die dritte, hier vorliegende Fassung, erschien bei duotincta.

    Für Karen und Janet

    Der Sekretär

    – Das hast du nicht!

    – Hab ich doch!

    – Hast du nicht!

    – Hab ich doch!

    Der Junge hatte neben dem Sekretär gestanden und gewartet, eine Weile. Er sah durch die Fenster in den Garten, und nichts rührte sich.

    Wie früh es noch ist.

    Niemand schien wach, nicht ein Geräusch aus dem Haus war zu hören.

    Zögerlich, noch langsam und noch bevor der Tag ganz herangezogen war, wechselte das Licht. Diffuses Blau in Gelb.

    Wie früh es noch ist.

    Die flatternden, schnellen, fast hastigen Punkte der Schwalben, der Mauersegler, vor dem Dampf der zerfasernden Wolken, nur dann und wann durchbrach ein klares Licht den Morgen und zeigte die ganze Helligkeit eines beginnenden Tages, an dem nichts geschieht und nichts geschehen wird, der einfach nur da ist, unverrückbar und duftend.

    An diesem Morgen, wie auch an den letzten Schultagen, begann es warm, ja heiß zu werden, nichts war mehr übrig vom kühlenden Wind, von den kalten Füßen, den Pullovern, die an Herbst, nicht aber an einen beginnenden Sommer denken ließen, fast erwartete man noch Harsch, noch Raureif, Schneeregen, da liefen noch Schauer über den Rücken, als der Frühling vorüber schien und es wärmer wurde, schon heiß, und sich dann doch mit aller Macht noch kühlere Tage vor den Beginn des Sommers schoben. In diesen Tagen gab es selten das Gefühl, geborgen zu sein, bis es dann eines Morgens, nach dunklen Juniregenwolken, endlich wieder warm zu werden begann. In der Nacht brach das Wetter um. Und an diesem Morgen war es heiß, diesen Vormittag trug der Junge das erste Mal seit dem Frühling, seit dem Einbruch dieser Kühle, keine Jacke, keinen Pullover mehr.

    Jetzt war er da, der Sommer, hatte sich pünktlich zum Beginn der Sommerferien eingefunden, an deren erstem Morgen der Junge aufstand und neben dem Sekretär wartete und vergaß. In diesem Moment war der Junge wach, und als er noch in seinem Bett zur Decke blickte, träumte er bereits von der Fahrt, von den Ferien, vom Land. Als er noch im Bett lag und nach dem Aufwachen die Augen schloss, sah er schon die Höhenzüge, die Felder, den breiten Fluss, und er sah das weiße Meer, die Atolle, er sah Polynesien, die Zweirumpfboote und James Cook auf dem Deck seines Schiffes, der Bark Endeavour, James Cook, der Sohn eines Landarbeiters war und aufbrach, Ozeane zu überwinden, um ein magisches Südland zu suchen, ein unbekanntes Land, als Terra incognita auf den Karten verzeichnet.

    Ein Südland suchen. In der Fremde.

    Mit einer Dreimastbark.

    Einem so kleinen Schiff.

    Ein unglaubliches Unterfangen in einer Nussschale.

    Man hatte ihm gesagt, dass er diese Ferien über für das nächste Schuljahr lernen solle. Jeden Tag ein bisschen, zwei, vielleicht drei Stunden, das sei ja nicht zu viel verlangt.

    Er war nach unten gelaufen an diesem Morgen, in einen von der Sonne durchtränkten Raum, er hatte seine Bücher unter dem Arm und wartete, bis sie ihm sagten, wo er anfangen solle. Niemand war da. Das Haus schlief, wie alle Häuser um ihn noch schliefen, in einer schlafenden Welt, und er schaute sich um. Die Fenster und die Terrassentüren standen offen. Er hörte keinen Laut, nur das Flimmern des Lichts. Es war still, kein Wind, der ging, kein Rauschen der Obstbäume im Garten, der nahen Kiefern, der hohen Birken mit ihren hellen Blättern. Wie in einem Tanz konnten sonst die Blätter in den Wipfeln der Bäume wirken, ein Neigen, ein Rauschen, ein Winken hundertfacher Arme in einem einzigen Klang.

    Es war warm und hell, noch fiel die Sonne flach in den Raum, und traf sie auf ihn, wärmte sie und brannte bereits für einen Augenblick auf der Haut, und er fuhr mit der Hand über die Stelle, auf die sie traf, als wische er sie achtlos beiseite. An diesem Tag erahnte er die Hitze eines nicht enden wollenden Sommers.

    – Wann war das, wann hattest du gesagt?

    – Ich erinnere mich nicht.

    – Der Sommer war wohl lang?

    – Ich erinnere mich nicht.

    – Wir sind oft an die See gefahren, ans Meer, ich weiß noch, wie wir in der Sonne lagen, im Sand, und an nichts dachten, nur leichter, kühler Wind vom Land und der Geruch von Fisch und Tang und Salz, sagte sie, und der Tee dampfte in den Bechern und das Rattern des Zuges tat ein Übriges, schläfriger wurden sie, mit jedem Takt der Gleise, mit jedem Rauschen eines in die entgegengesetzte Richtung fahrenden Zuges, und die Sonne wärmte noch durch die Scheiben und in allen Farben standen die Laubbäume, Blätter flogen rot und gelb.

    Der Junge hatte neben dem Sekretär gestanden und gewartet eine Weile. Still war es und der Hochsommer hatte begonnen, der erste Tag der großen Ferien.

    – Das hast du nicht!

    – Hab ich doch!

    – Hast du nicht!

    – Hab ich doch!

    Er drehte sich nicht um, aber erschrak, als er die Kinderstimmen hörte, sie waren laut und polternd und klangen, als würden sich die Jungen draußen schlagen wollen, schnell und überhastet stolperten die Worte von den nahen Parkwegen her, und es wirkte, als riefen sie dicht vor der Terrasse und stünden in seiner Nähe, und sie übertönten für einen Moment das Hundegebell aus den Nachbargärten und das Fahren der wenigen Wagen. Schnell stritten sie, und unwillkürlich ebbten die Stimmen ab.

    Und es war wieder still, von irgendwoher hörte er Schritte, das leise Schaben von Sohlen auf Sand. Kein Wind, der ging. Kein Laut. Kein Vogelzwitschern.

    Noch vor einer Stunde vielleicht, war ihm im Halbschlaf in seinem Zimmer alles voller Leben erschienen. Aus allen Winkeln, aus allen Büschen, Bäumen, von den Spitzen der Dächer sangen die Vögel, als würden sie nie aufhören wollen, und sie flogen über die Gärten, unermüdlich bemüht, ihrer Brut das Futter, die Würmer und Fliegen zu bringen, und jetzt sangen sie nicht mehr, da waren nur die Mauersegler, die hoch ihr schrilles Pfeifen pfiffen und unaufhörlich ihre Bahnen zogen.

    Wie Schatten.

    Wie warm es in den fiependen Vogelhäusern sein musste und wie die Vögel schwitzten mussten, mit prustend offen stehenden Schnäbeln, mit ausgebreiteten Flügeln, in der kommenden Hitze des Mittags, an dem alles stillzustehen scheint, an dem keine Zeit vorüberzieht, alles geborgen, dauerhaft beständig bleibt.

    Wie gern wäre er nach draußen gelaufen, hätte alles stehen und liegen gelassen, um in den Wiesen weiterzuschlafen.

    Er wartete.

    Früh war es und warm, nicht der Schatten einer Wolke vor der Morgensonne. Tiefblauer Himmel. Als er aufgewacht war, hatte der Junge keinen Unterschied zwischen der Wärme des Bettes und der des Tages bemerkt, er hatte einen Fuß aus der Decke gestreckt und sich gefreut.

    Es war der erste Tag der Sommerferien und er war aufgestanden, ohne einen Laut war er in das Badezimmer gegangen, auf Zehenspitzen über die dösigen Hunde gestiegen, hatte ihr warmes Fell an seinen Füßen gespürt, ein Brot gegessen und kalten Tee getrunken, mit Zucker, wieder mit immer zu viel Zucker, wie seine Großmutter auf dem Land mahnte, das Land, das Westdeutschland hieß und in das sie bald fahren würden, morgen oder übermorgen früh. Kannenweise Hagebuttentee bereitete seine Großmutter, ungesüßt und wässrig, aber süß sei der doch am besten, sagte er und löffelte Zucker und später dann Honig, nimm doch lieber Honig statt Zucker, sagte seine Großmutter, und wenn er den Tee dann zu sehr süßte, sollte er Wasser dazugießen, das sei eh das Beste im Sommer, ihr müsst mehr trinken, sagte sie dann, und der Junge sah sich Kannen Hagebuttentee trinken, mit seinen aufgeschlagenen Knien, an denen der Schorf den Sand einbettete und festhielt, wie siehst du denn wieder aus, sagte sie und spuckte in ein Taschentuch und kniete sich hin und griff schon nach einem seiner Beine, das er wegzog und dabei wünschte, dass sie das nicht tun solle, weil es wieder brennen würde, hab dich nicht so, sagte sie und tupfte schon auf den frischen Schorf, ich muss das jetzt reinigen, sonst entzündet es sich noch, und dann solle er mal sehen, wie das dann wehtäte.

    Und er war hinuntergelaufen. Ein Knäckebrot mit Salz in der einen Hand und die Bücher unterm Arm nah an den Körper gedrückt stand er neben dem Sekretär und wartete eine Weile, und hörte erneut das Johlen und Rufen der Kinder, die nun entfernter spielten und von ihren Ferien träumten, in Gedanken bereits an den Stränden lagen, in den Wäldern, den Badeanstalten, unter Palmen oder bei den nahen Ruinen der Burgen, und die größten Strandburgen bauten, die sie bauen konnten, größer und höher, als diejenigen, die die Welt sich vorstellen konnte.

    Es war der erste Tag der Ferien und er sollte lernen, solle sich hinsetzen und lernen und erst einmal die Bücher lesen, die er zu lesen habe, und dann, wenn er noch Zeit habe, könne er die nehmen, die er so gerne las, die Logbücher James Cooks seien jetzt nicht seine Lektüre, die könne er erst mal ganz vergessen, die würden für ihn jetzt überhaupt nicht existieren, die gäbe es für ihn jetzt gar nicht, sagten sie, und auch den Vasco da Gama wollten sie bei ihm nicht sehen, nicht im Wagen und auf gar keinen Fall an seinem Bett, weil der niemals um die Erde gesegelt sei, das könne er sich jetzt ganz abschminken, und der Junge sehnte sich nach einem Gewitter, nach dem lauten, nicht enden wollenden Fallen, dem Prasseln des Regens, dem hohen Krachen der Donner, dem Vergessen.

    Wenn er fertig sei, habe er ja Zeit für sich, sagten sie, da könne er das tun, was er tun wolle, wenn der Tag sich neige und verschwand und er die Zeit genutzt habe.

    Untätig wartete er neben dem Sekretär, der dunkel in der Sonne stand, und wollte sich nicht setzen, noch gab es zu hören, noch galt es zu lauschen, zu sehen, die Bewegung des Laubes, das Bellen der Hunde und das weit entfernte Rufen der Kinder, als würde nie eine Sekunde verstreichen und als würde nie Abend werden, nie Nacht, und wenn, dann nur so unmerklich, dass die Hitze hing und blieb, sich nicht abkühlte, dass Grillen zirpten im Gesang der Nachtigall und die Nacht nicht leise wäre, dass es nur dunkler war, eben nicht mehr hell, und man irgendwann müde würde und zu träumen begänne, wie man über die Ebenen träumt, hinübergleitend über die Felder streicht, die ewigen Flüsse, die Steppen, die Wälder, die Hohlwege, den staubigen Lehm, die trocken brechenden Äste, in die Erzählung der Wanderung hinein, in die Kaftane, die über die Bazare schlendern, die Früchte, die goldgelb und rot und grün duftend feilgeboten werden, die Karawanen, die Fischmärkte und die Rufe der Matrosen in den Wanten, die ihre Schiffe seeklar machten und in den ewigen Weiten des silbernen, indischen Ozeans verschwanden.

    Es war so still an diesem ersten Tag der Ferien. Kaum ein Wind, der ging. Nur dann und wann verfing sich das Fallen staubiger Blätter in den garnigen Kronen der Gräser.

    Der ganze Duft des Sommers hüllte ihn in eine nicht enden wollende Wärme ein. Grüner Pollenstaub legte sich unaufhaltsam. Der Junge hatte die Hefte um seinen Brustkorb gelegt, gebogen, Krümel des Knäckebrots dazwischen, er achtete nicht auf einknickende Ecken, mit gekreuzten Armen und fast bewegungslos wartete er geduldig, in einem kurzärmeligen, weißen Hemd, dessen obere beide Knöpfe offen waren, und spürte die Ecken der Hefte auf der Haut kneifen.

    Die Tage zuvor hatten sie das Haus geputzt, hatten auf den Knien die Fußböden geschrubbt, sie wollten es ordentlich haben, wenn sie wiederkämen, keine Vase mit verwelkten Blumen sollte in den Wochen ihrer Abwesenheit herumstehen. Sie wollten bei ihrer Rückkehr nichts zu tun haben, nur noch die Koffer auspacken, sich setzen oder legen, den Nachmittag auf der Terrasse verbringen.

    Der Junge dachte daran, wie entsetzlich es wäre, wieder zurückzukommen, und er wünschte sich, nicht mehr wiederzukehren und sich nie mehr in die niemals endende Wanderung einzureihen, er sah sich in einem hölzernen Schiff in Richtung des offenen Meeres treiben und ihm war, als höre er nur das Knarren und Rumoren des Holzes und des Windes, der sich im flatternden Segel verfing, und die Stimmen spielender Kinder, die den Booten winkten und nahe dem Ufer im Wasser spielten.

    Regen schien es zu geben und es dauerte nicht lange und die ersten Tropfen fielen gegen die Scheibe, die kühl war. Sie standen im Abteil, drehten sich um und blickten

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