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Sunrise: Mirages and Visions
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eBook446 Seiten6 Stunden

Sunrise: Mirages and Visions

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Über dieses E-Book

Dieser Tag, an dem Mike aufwachen würde, sollte nach ihrem Kennenlernen, Jennys Geburt, ihrer Hochzeit, der einmalig schönste Tag werden. Vielleicht ist er es auch, nur Susan kann es noch nicht fühlen. Mike ist aus dem Koma erwacht.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Sept. 2023
ISBN9783910537231
Sunrise: Mirages and Visions
Autor

Susanne Erhard

Susanne Erhard, 1966 in Paris geboren, ist gelernte Buchhändlerin, arbeitet allerdings seit vielen Jahren als freischaffende Autorin und Therapeutin in der Nähe von Memmingen, wo sie mit ihrem Mann, Pferden, Eseln und Katzen auf einem Bauernhof lebt. Bisher hat sie verschiedene Krimis veröffentlicht, mehrere Liebesromane, sowie einen historischen Roman, die alle im Allgäu spielen, außer dem siebenbändigen "Sunrise"-Zyklus. Im Oktober 2022 gründete sie ihren eigenen Verlag edition sunrise.

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    Buchvorschau

    Sunrise - Susanne Erhard

    1

    In der Halle schrillte das Telefon. Das Geräusch fror mich sekundenlang ein, füllte mich bis in die letzte Zelle aus, nichts Anderes existierte. Vor drei Wochen hatte ich es fürchten gelernt, dieses klassische Klingeln, das Mike so charmant fand, weil es ihn an seine Kindheit erinnerte.

    Und es klingelte hartnäckig, drängend, es trug die Gewissheit einer Information in sich, die ich wissen musste, aber wahrscheinlich nicht wissen wollte. Ohne Frage, es war traumatisch.

    Auch etwas, woran ich arbeiten sollte.

    Vor drei Wochen hatte mich diese Polizistin aus Isleworth angerufen. Ihr Mann hatte einen Unfall. Vor drei Wochen hatte sich unser Leben wie Mikes Auto überschlagen. Nichts war mehr, wie es einmal gewesen war. Aber Mike lebte. Irgendwie jedenfalls. Er atmete, sein Hirn schien intakt, sein Herz klopfte. Doch er war nicht da.

    Seine Welt war nicht mehr die unsere.

    Mein Herz hämmerte aufgelöst in meiner Brust herum, auch das tat es seit drei Wochen mehr oder weniger hysterisch. Meine Finger walkten das Geschirrhandtuch, mit dem ich gerade die Gläser aus der Spülmaschine polierte, was Mrs. Peters sicher in schweigender Missbilligung zur Kenntnis nehmen würde.

    Mit schier übermenschlicher Anstrengung richtete ich mich auf, stakste steif und hastig in die Halle. All die Ängste, die ich vor drei Wochen kennenlernen durfte, warteten hämisch grinsend am Telefon auf mich. Es kostete mich noch mehr Kraft und Überwindung, dieses kleine dunkelgraue Teil zu greifen, halbherzig auf das Display zu schauen, die Nummer fürchten. Sie sah bekannt aus.

    Ich sollte endlich den Klingelton ändern, Mikes Erinnerungen zum Trotz, denn ich packte meine nicht mehr.

    „Hamond?" Tief durchatmend, straffte ich mich, starrte blind auf die Wand vor mir, erwartete alles, aber nichts Gutes.

    „Hallo, Mrs. Hamond, hier ist Dr. Simpson."

    Ganz klar, die Bewältigung meines Traumas musste ich mindestens auf das nächste Telefonat verschieben, meine Lungen klemmten abrupt. Auch das taten sie seit drei Wochen und noch immer hatte ich mich nicht daran gewöhnt, geschweige denn eine Gegenmaßnahme eingeleitet.

    „Was ist passiert, Dr. Simpson?" Meine Stimme kippte ohne ausreichend Sauerstoff.

    „Nichts, um Gottes willen, ganz im Gegenteil, Mrs. Hamond. Bitte regen Sie sich nicht auf. Es ist alles gut."

    Nicht aufregen? Noch einmal kämpfte ich mit meinen klemmenden Lungen, nicht aufregen. Ich kniff die Augen zusammen, die Wand vor mir verengte sich. „I´m sorry, Dr. Simpson. Mir gehen in letzter Zeit die Nerven viel zu schnell durch. Weshalb rufen Sie an?"

    „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich weiß wohl mit am besten, was Sie in den vergangenen Wochen durchgemacht und vor allem, was Sie geleistet haben. Aber zur Abwechslung habe ich gute Nachrichten für Sie. Es sieht so aus, als könnte Ihr Mann heute im Laufe des Tages aus dem Koma aufwachen."

    Mein Herz fing an zu rasen.

    Seltsam, mein Körper verstand die meisten Dinge viel schneller als mein Kopf. „Was sagen Sie?", haspelte ich.

    Es hatte Momente gegeben, in denen ich an allem zweifelte. Vor allem aber daran, dass Mike jemals wieder zu sich kommen könnte. Welche Entscheidung das von mir verlangte, hatte ich wie vieles andere allerdings verdrängt und verschoben.

    „Sie …, Sie meinen, er wird wach?"

    Konzentriert legte ich meine linke Hand auf das Sideboard, als könnte ich damit den Druck in mir ableiten.

    „Ja, es gibt ein paar Anzeichen in den Vitalwerten, die darauf hindeuten. Es wäre schön, wenn Sie schnellstmöglich kommen könnten. Obwohl es noch Stunden dauern kann oder unter Umständen erst in den nächsten Tagen passiert. Geht das?"

    „Ja, natürlich, ich komme sofort."

    Ich wollte umgehend auflegen, doch er hielt mich zurück. „Moment noch, Mrs. Hamond, fahren Sie langsam und vor allem vorsichtig. Sie werden mehr denn je gebraucht."

    „Ja, sicher, Doktor. Bis gleich."

    Mein Hirn rotierte. Auch das war seit jenem unseligen Abend eine erschöpfende Normalität. Was musste ich jetzt tun? Ich musste an Jenny denken. Sie war in der Schule. Sollte ich sie abholen und mitnehmen? Nach Hause holen und Mrs. Peters bitten, auf sie aufzupassen? Nein, zuerst musste ich Gary anrufen. Hastig wählte ich seine Nummer.

    „Sullivan", meldete sich Ginger mit ihrer notorisch genervten Stimme.

    „Hi, Ginger, hier ist Susan. Ist Gary da?"

    „Hi, Susan, ja, klar."

    Sie und ich, wir verloren nie viele Worte aneinander. Aber vermutlich verlor sie an niemanden viele Worte. Bisher hatte ich keinen nachvollziehbaren Grund gefunden, warum Gary sich in Ginger verliebt hatte. Aber das musste ich wohl auch nicht, Gary lebte mit ihr, idealerweise hatte er Gründe.

    „Hi, Sissy, was ist los?"

    Seltsam, dachte ich. wir telefonierten seit Mikes Unfall viele Male die Woche, aber trotzdem wusste Gary immer, wann es für mich ganz besonders wichtig war. Er kannte uns so gut.

    „Dr. Simpson hat angerufen, fiepte ich hysterisch, „er sagt, dass Mike heute aufwacht!

    Es war einen Moment still am anderen Ende der Leitung. „Gary?"

    „Ey Sissy, das wäre wunderbar, brummte er ausweichend. „Aber, fuck, versteif dich nicht zu sehr darauf. Ist das sicher?

    „Nein, Gary, sicher ist das nicht. Ich hechelte um Luft. „Nur, ich glaube, ich packe das nicht allein. Hast du Zeit, mit mir zu kommen?

    „Keine Frage, Susan, natürlich, erwiderte er, „wir treffen uns in einer Stunde im Krankenhaus.

    „Danke, Gary."

    „Take care, Baby." Er legte auf.

    Ich wählte sofort die nächste Nummer und rief Mr. Peters an, der anbot, mich ins Krankenhaus zu fahren, doch ich lehnte ab. Manches musste ich schon noch selbst bewältigen.

    Er und seine Frau wünschten uns Glück und Segen. Eine Kerze würde auch heute für Mike brennen, wie jeden Tag seit jener Nacht, in der wir um sein Leben kämpften.

    Alisons Mutter war mein nächstes Telefonat. Ich spürte die Hektik in mir. Dauernd fürchtete ich zu spät zu kommen.

    Jenny konnte die Nacht bei ihr und Alison bleiben, sie holte beide nach der Schule ab. Mein Kind hatte in den vergangenen Wochen mehr als genug ausgehalten. Sie durfte sich nicht schon wieder Sorgen um Dinge machen, die sie nicht einmal im Ansatz verstand.

    Manchmal hatte ich das Gefühl, als Mutter immer nur zu versagen. Jenny hätte so viel Ruhe und Aufmerksamkeit gebraucht und nichts davon hatte ich ihr nach Mikes Unfall wirklich geben können.

    Wahrscheinlich bezeichnete mich meine Mutter zu Recht seit Jahren als eine Rabenmutter.

    Vor allem Jennys heile Welt war seit Garys Auszug vor gut einem Jahr böse ins Wanken geraten. Er hatte zu ihrem täglichen Leben gehört, wie Mike und ich. Ich war echt sauer gewesen, dass Gary den Umzug durchgezogen hatte, obwohl ich mich zu diesem Zeitpunkt bei Karin in Köln aufhielt. Keiner kannte Mike und Jenny so gut wie er.

    Er hätte wissen müssen, was sein Auszug für beide bedeutet.

    Genauso hätte er, als der vernünftigere, erkennen müssen, wie schlimm die unterschwelligen Spannungen zwischen ihm und Mike waren. Alles nur wegen Ginger. Kleine Muräne, Giftspritze, Bitch, der wir, als Garys Wahlverwandtschaft grundlegend auf die Nerven gingen.

    Ihr war offensichtlich nicht bewusst, dass es sie in Sachen unvermeidbaren Anhang wesentlich schlimmer treffen konnte.

    Und dann passierte Mikes Unfall. Anfangs hatte ich den Fehler begangen, Jenny Mike auf der Intensivstation zu zeigen, mit all den Maschinen um ihn herum, die ihn am Leben erhielten. Sie konnte das nicht verstehen. Wie auch, wenn nicht einmal ich es verstand.

    Das war eine fatale Fehlentscheidung gewesen, die ich bitter bereute.

    Ich setzte mich ins Auto und fuhr los. Mit allergrößter Mühe konzentrierte ich mich auf den Verkehr. Mein Herz hämmerte, die Angst hockte mir im Nacken. Permanent konnte ich sie an mir riechen, jedem Deo zum Trotz, immer trug ich ihren schweißigen Film an mir. Furchtbar.

    Wenn ich nur den Hauch einer Ahnung gehabt hätte, was alles noch auf mich zukam, bevor Mike wieder halbwegs gesund war.

    „Wir schaffen das!", murmelte ich immer wieder vor mich hin. Unser Mantra seit dem Unfall. „Wir schaffen das!"

    Auf der Schnellstraße staute sich der Verkehr und ich kam langsamer voran, als meine Nervosität es eigentlich zuließ.

    Was war, wenn Mike erwachte und ich noch nicht bei ihm war?

    Endlich erreichte ich den Parkplatz des Krankenhauses. Garys Wagen stand falsch geparkt am Straßenrand, obwohl weiter hinten noch genug Flächen frei gewesen wären. Anscheinend wollte auch er keine unnötige Minute verlieren. Trotzdem stellte ich meinen Wagen ordnungsgemäß ab und rannte Richtung Haupteingang.

    Gary wartete am Aufzug zur Intensivstation. Wir nahmen uns kurz in die Arme und er küsste mich sanft auf die Wange, während er den Knopf für den Aufzug drückte.

    „Reg dich nicht immer so auf, Sissy, mahnte er leise. „Es kann noch Stunden dauern, bis Mike die Augen öffnet. Und vielleicht passiert es auch erst morgen oder übermorgen, nächste Woche. Wir müssen Geduld haben. Du reibst dich zu sehr auf.

    Mit einem gequälten Lächeln nickte ich. „Ich weiß, Gary, ich weiß, lass uns nach oben fahren." Ich zog ihn am Arm in den Aufzug hinein. Geduld war nie meine Stärke gewesen.

    In diesem Fall besaß ich gar keine und wollte sie auch nicht lernen.

    „Ist Jenny bei Alison oder bei Mrs. Peters?", fragte er, als sich die Tür vor uns schloss.

    Vehement drückte ich die Taste des Stockwerks. „Noch in der Schule, dann bei Alison, sie bleibt dort über Nacht. Ich habe ihr auch nicht gesagt, warum ich ins Krankenhaus muss. Ich will ihr möglichst jede Aufregung ersparen, wenn es nicht gerade eine gute Nachricht ist. Sie leidet so sehr."

    Gary fuhr sich bedrückt über die Augen. „Wenn sie sich nur besser mit Ginger verstünde. Dann könnte sie bei uns bleiben. Aber so gibt das nur Mord und Totschlag. Ich weiß einfach nicht, warum Ginger mit Jenny nichts anfangen kann? Sie gibt sich nicht die geringste Mühe. Ich habe sie so sehr darum gebeten. Mir zuliebe. Aber sie mag keine Kinder. Jenny weiß das ganz genau. Es tut mir so leid, Susan, ich bin ihr Pate, ich sollte für sie da sein, wenn ihr es nicht könnt und ich wäre auch sehr gern für sie da."

    Ich schaute nachdenklich zu ihm hoch. Aus meiner Sicht konnte Ginger mit niemandem etwas anfangen, vielleicht nicht einmal mit ihm. Aber das war nichts, was Gary hören musste, vermutlich stand mir ein Urteil auch nicht wirklich zu.

    „Jenny ist vor allem eifersüchtig, Gary, wiegelte ich also ab. „Sie will dich mit niemandem teilen. Du weißt doch, wie sie sogar mir gegenüber herumfiest, wenn es um dich geht. Davon abgesehen hätte ich sie lieber bei dir untergebracht als irgendwo anders. Aber es ist, wie es ist und für uns ändert das nichts an deiner Patenschaft.

    Die Tür des Aufzuges öffnete sich im dritten Stock. Diese Etage hätte ich mit verbundenen Augen am Geruch erkannt. Eilig schritten wir in Richtung Intensivstation. Ich klingelte und die Schwester, die uns einließ, grüßte freundlich. Auch sie gehörte seit Wochen zu unserem Leben, hatte Mike mit mir zusammen gewaschen, gepflegt, rasiert, ihn umgelagert und immer einen guten Kaffee und eine ruhige Minute für mich übrig gehabt. Ich verdankte ihr viel.

    „Gehen Sie nur schon hinein, Mrs. Hamond, ich sage dem Arzt Bescheid, dass Sie da sind."

    „Danke, Schwester Annie."

    Mir war aufs Neue furchtbar beklommen ums Herz. Dieses Zimmer betrat ich seit drei Wochen jeden Tag, manchmal sogar mehrmals, hatte auch mehr als eine Nacht hier verbracht und oft war bange Hoffnung in mir gewesen. Aber heute war es ein ganz sonderbares Gefühl.

    Ich wollte hinein und wieder auch nicht. Ich wollte ihn sehen, aber auch nicht. Ich wollte es wissen und nicht. Meine Nerven flatterten.

    Mike fehlte mir schmerzlich.

    Gary schob mich ins Zimmer. Er kannte mich zu gut. Unwillkürlich hielt ich die Luft an, starrte angestrengt in die Richtung von Mikes Bett. Die Geräte um ihn herum brummten, piepten, zischten in vertrautem Chaos.

    Meine starrenden Augen wollten sich einfach nicht auf ihn konzentrieren und ich bemerkte absolut nichts in seinem Gesicht, was Dr. Simpsons Worte bestätigte.

    Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung überrollten mich wie eine Stahlwalze, fast wäre ich in die Knie gegangen. Gary war dicht hinter mir, ich stützte mich an der Klinke der Tür ab, trat langsam auf Mike zu.

    Sein Gesicht war reglos wie immer. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber ich hatte mir wohl aus unerfindlichen Gründen eingebildet, dass er anders aussehen müsste als in den letzten Wochen.

    Zögernd setzte ich mich auf meinen Platz auf der Bettkante. Bei näherem Hinsehen wirkten seine Wangen nicht mehr so eingefallen, vielleicht auch ein wenig rosiger. Aber er war noch lange nicht bei uns.

    Ich liebte diesen Mann so sehr. Er war tatsächlich meine bessere Hälfte, die ich furchtbar vermisste.

    Mein Leben lang war ich wunderbar allein zurechtgekommen, genügte mir meistens selbst, brauchte niemanden, im Gegenteil. Dann kam Mike. Von der ersten Sekunde an waren wir eins gewesen, so als hätte sich zusammengefügt, was zusammengehört.

    Er war mir nie zu viel, nie zu nah. Man nannte uns die Unzertrennlichen. Dieser Unfall hatte uns getrennt, uns in zwei verschiedene Welten geworfen, wo zumindest er mich nicht erreichen konnte und, dass ich ihn erreichte, konnte ich nur hoffen.

    Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Dr. Simpsons Anruf und die Hoffnung, die er in mir hochgeschossen hatte, schien mich den letzten Rest Kraft gekostet zu haben.

    In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass alles in mir zusammenbrach, ich war nur noch eine leere, verbrauchte Hülle und ich wollte nicht mehr, dass Mike so dalag. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Gary legte mir sanft seine Hand auf die Schulter, ich schluckte hart, kniff die Lider zusammen, was die Tränen wegpresste.

    Nicht schlapp machen! Zart streichelte ich Mikes stoppelige Wange.

    „Dr. Simpson hat gesagt, dass du heute die Augen öffnest, Mike, murmelte ich leise. „Wir sind bei dir. Wir warten auf dich. Wir vermissen dich so sehr.

    Ich genierte mich, mit ihm zu reden, während Gary hinter mir stand.

    „Hi Bro." Gary trat um das Bett herum und setzte sich auf die andere Seite. Vorsichtig griff auch er nach Mikes Hand. Sie lag dünn und zerbrechlich in Garys. Die beiden waren immer echte Freunde gewesen. Gary war für Mike da, hielt ihn, wenn er den Boden unter den Füßen verlor, ordnete das Chaos, wenn Mike mit sich selbst haderte. Gary war der Brandungsfels unserer Familie.

    Es war richtig, dass er jetzt bei uns war. Gary gab auch mir Kraft.

    Also saßen wir gemeinsam auf diesem Krankenbett und warteten auf einen Blick in Mikes blaue Augen. Genau genommen tat ich das seit jener Nacht, in der er den Unfall hatte. Ich wartete auf sein Strahlen, diesen liebevollen Spott in ihnen, seine Wärme und sehnte mich danach, in ihnen zu ertrinken, so wie seit fast neun Jahren.

    „Hast du eigentlich gemerkt, wie schön die Sonne draußen scheint, Mike?, sagte Gary mit seiner tiefen Stimme. „Du liegst hier und verpasst den Herbst deines Lebens. Das war ein wunderschöner, goldener Oktober.

    Ich glotzte ihn verdutzt an. Merkte er eigentlich, was er da sagte? Wahrscheinlich nicht. Wenn ich mit Mike allein war, redete ich auch immer nur so drauflos. Am liebsten hätte ich ihn mit meinen Gedanken her befohlen. Ebenfalls etwas, was ich seit Wochen versuchte und kläglich scheiterte.

    Behutsam schob ich meine andere Hand unter die Bettdecke.

    Es war nicht sehr warm darunter. Tatsächlich hatte ich immer den Eindruck, dass Mike eigentlich frieren müsste. Das war schon mehrfach ein Thema für ein Arztgespräch gewesen, doch der meinte, es sei gut so, mehr sei nicht gesund.

    Also versuchte ich ihm ein wenig Wärme von mir abzugeben. Wenn ich nur gewusst hätte, wie ich ihm auch von meiner Kraft und Hoffnung geben konnte. Aber vielleicht brauchte er die gar nicht. Ich hätte so gern gewusst, was in ihm vorging.

    Wie viele Stunden hatte ich hier gesessen und mich gefragt, was er fühlte, hörte, spürte und womit ich ihm helfen konnte? Aber ich hatte es nie endgültig herausgefunden. Ganz sacht massierte ich seine Brust, er hatte das immer gern gehabt. Gary hielt weiterhin seine Hand.

    „Was denkst du, Susan?, fragte er halblaut. „Hat sich etwas geändert?

    Ausweichend bewegte ich die Schultern. „Ich weiß es nicht, Gary. Was sollte ich antworten? „Sehr nah ist er uns nicht.

    Er starrte Mike ins Gesicht. „Mike!, rief er leise. „Du musst bald mein Trauzeuge sein. Ich will Ginger heiraten. Sie weiß zwar noch nichts von ihrem Glück, aber Susan hast du ja auch herumbekommen. Ich brauche deine Hilfe.

    Überrascht blickte ich zu ihm hinüber. „Wann hast du denn diese Entscheidung getroffen?"

    „Gerade eben."

    Er grinste verschämt. „Ich will endlich eine so schöne Ehe führen, wie ihr das seit Jahren tut. Es scheint ja doch zu gehen. Und dieser Unfall hat mir nachhaltig deutlich gemacht, dass man zu keiner Zeit sein Leben aufschieben sollte, denn es kann jederzeit plötzlich alles anders sein und vorbei."

    Ich lachte, fühlte aber seltsame Trauer in mir. „Das stimmt, so erschreckend es auch klingt. – Ausnahme bestätigt die Regel, Gary. Mike und ich sind sicher nicht das klassische Ehepaar. Wie auch? Mike ist besonders."

    „Da hast du wiederum recht. Er berührte mich am Arm. „Aber das liegt nicht nur an Mike. Du bist eine wundervolle Frau. Und …, er wendete sich schmunzelnd an Mike, „du weißt ja, Bro, wenn du Susan nicht mit deinen blauen Augen ausgeknockt hättest, dann hätte ich sie mir geschnappt. Na ja, jetzt habe ich ja Ginger."

    „Du bist auch so ein Clown, Gary, entgegnete ich verunsichert. „Diesen Unsinn hast du schon so oft erzählt, eines Tages glaubst du das noch selbst.

    „Das tue ich jetzt schon, Sissy."

    Die Tür ging leise auf und der Arzt kam herein. Gary erhob sich.

    „Guten Tag zusammen, grüßte Dr. Simpson freundlich, „schön, dass Sie beide da sind.

    Er reichte mir die Hand und ich wuchtete mich ebenfalls auf die Füße. „Hallo, Herr Dr. Simpson. Ich hoffe, es ist okay, dass Mr. White mich begleitet."

    „Natürlich, Mrs. Hamond." Die beiden schüttelten sich die Hände.

    „Alle Menschen, die Ihr Mann liebt, sind in diesem Zimmer willkommen, egal wann."

    „Danke, Dr. Simpson, erwiderte Gary, „es ist mir sehr wichtig bei Susan und Mike zu sein, wenn er aus dem Koma aufwacht.

    „Ich bin ziemlich überzeugt, dass das im Laufe des Tages geschehen wird. Mr. Hamond wird heute für einige Momente die Augen öffnen."

    Gary und ich sahen ihn skeptisch an. Für uns war nicht ersichtlich, wie Dr. Simpson davon so überzeugt sein konnte.

    „Seit Wochen sehne ich mich danach, murmelte ich ungeschickt, „bete jeden Tag dafür. Aber, darf ich fragen, wieso Sie meinen, dass er genau heute aufwacht?

    Es war mir fast peinlich, das zu fragen. Ich wollte nicht, dass der Arzt annahm, ich vertraute ihm nicht. Aber er lächelte.

    „Es gibt dafür ein paar fast untrügliche Zeichen. Ich will sie Ihnen zeigen. Ich atmete auf, zurückzulächeln wagte ich allerdings nicht. Gary nickte. „Bitte setzen Sie sich doch. Er braucht Sie.

    Wir setzten uns wieder auf den Bettrand, während Dr. Simpson sich ans Fußende stellte. Mit ruhiger Stimme erklärte er, dass sich Mikes Hirnströme verändert und der Hirndruck sich gesenkt hatte, er deutete auf die Anzeige am Monitor.

    Krampfhaft hielt ich seine Hand und hatte plötzlich das Gefühl, als könnte ich ihm jeden Moment in seine unendlich blauen Augen schauen. Fast fürchtete ich den richtigen Augenblick zu verpassen, wenn ich dabei auch nur eine Sekunde blinzelte.

    Gary legte seine Hand beruhigend über unsere beiden. Es tat wohl, ihn bei uns zu haben. Unbewusst hörte ich Dr. Simpson gar nicht mehr richtig zu. Ich wollte bei Mike sein.

    Der Arzt verließ uns kurz darauf und ich wusste weiterhin nicht wirklich, was sich bei Mike geändert hatte.

    Am frühen Nachmittag sorgte Dr. Simpson für Kaffee, Schwester Annie brachte uns Kuchen. Sie war eines der vielen Lichter der vergangenen finsteren Wochen, hatte mich mehr als einmal wieder aufgerichtet, wenn mich der Mut verlassen wollte, die Hoffnungslosigkeit mich schredderte.

    Der Kaffee war zweifellos keiner aus dem Automaten, ich trank in kleinen Schlucken. Gary und ich hatten die ganze Zeit über kaum ein Wort gewechselt.

    „Meinst du, dass du mit Ginger glücklich wirst?", fragte ich gedankenverloren in die Stille hinein.

    „Ich bin es bereits", antwortete er, grinste schief. „Sie ist auf den ersten Blick nicht die Ausgeburt an Empathie, wenn sie jedoch Vertrauen fasst, ist sie treuer als ein Hund. Ich war selbst erstaunt, als ich plötzlich feststellte, dass ich in sie verliebt bin.

    Schon komisch, sie ist gar nicht mein Typ, obwohl sie ja eine echte Augenweide ist. Diese rostroten Haare sind der Hammer. Aber ich liebe sie. Und ich möchte mit ihr zusammenbleiben, ich will sie heiraten und mit ihr alt werden. Vielleicht kann ich sie ja sogar dazu überreden, eine Familie zu gründen."

    „Das freut mich, Gary, ernsthaft. Ich hielt seine Hand bei unseren, wischte kurz mit meinem Blick zu ihm. „Aber ich will endlich ehrlich sein. Wir konnten doch früher immer offen miteinander reden.

    Er linste argwöhnisch zur Seite. „Ja?"

    „Mike und ich und eigentlich alle anderen auch …, wir hatten, nachdem das mit dir und Monika schiefgegangen war, irgendwie den Eindruck, dass du eine erbärmliche Torschlusspanik schiebst. Und als dann Ginger im Old Drum auftauchte, da dachten wir alle, dass du jetzt die erstbeste nimmst, damit das wieder aufhört. Sie ist wirklich eine Augenweide. Für die Haare und das Gesicht würde manche Frau morden."

    „Sensationell, entgegnete er patzig, „jetzt wird mir so einiges klar. Warum hat nie jemand ein Wort darüber verloren? War das zu dem Zeitpunkt mit der Ehrlichkeit schon rum?

    Ich zuckte die Schultern, verzog schuldbewusst das Gesicht. „Nein, oder doch, ja …, vielleicht. Es war schwierig. Wir wollten alle nur, dass es dir gut geht. Und nachdem du mit Monika Schluss gemacht hattest, ging es dir gar nicht gut."

    „Stimmt. Da ging es mir beschissen. Moni ging es vermutlich noch mieser. Ich bin echt nicht fein mit ihr umgegangen. Weißt du eigentlich, ob sie mir verziehen hat?"

    „Ich denke schon, ich zuckte wieder die Schultern, „obwohl sie lang sehr gelitten hat. Du warst ihr Traummann von Anfang an, so wie Mike meiner. Kannst du dich noch an jenen ersten Abend erinnern? Als Monika nach dem Konzert in Köln unbedingt ein Autogramm wollte? Da fand sie dich schon rasend. Ich lachte leise. Es war so unvorstellbar lange her. Alles hatte sich seitdem verändert.

    „Klar weiß ich das noch. Ein einmaliger Abend. Du bist permanent rot geworden und Mike konnte überhaupt nicht aufhören, dich anzustarren. Dabei hat er sich kaum getraut, mit dir zu reden. So kannten wir ihn gar nicht. Mir war direkt klar, dass Mike dir völlig verfallen ist."

    Ich lachte und streichelte sanft Mikes Hand. Gary hatte seine unter Mikes gelegt und ich berührte ihn mit meinen Fingerspitzen. Ein wunderbar geborgenes Gefühl.

    „Wir drei gehören zusammen, Susan, erklärte Gary leise, „auch wenn es vielleicht in letzter Zeit nicht so gut lief. Du, Mike, Jenny und ich. Eigentlich sind wir ja sogar zu viert.

    Vorsichtig drückte ich beider Hände, gab mir einen Ruck und schaute ihn offen an. „Und Ginger soll auch zu uns gehören."

    „Na, ob sie das wohl will?" Gary schnaubte sarkastisch.

    „Sie wird sich schon an uns gewöhnen und wir an sie. Jenny wird sie mögen, wenn sie erst einmal weiß, dass sie dich nicht wegnimmt."

    Mit einem Mal krümmten sich Mikes Finger in meiner Hand. Das Fiepen seines Pulses wurde schneller. Wir verstummten abrupt und unsere Blicke trafen sich sekundenlang, um dann ängstlich gespannt an Mikes Gesicht hängenzubleiben.

    Es war wie von Schmerzen verzerrt, er stöhnte. Er wand sich, als wollte er vor etwas ausweichen. Ich hielt seine Hand fester. Seit Wochen das erste Geräusch und die erste Bewegung. Aber es klang schrecklich, es sah noch schrecklicher aus. Mein Puls raste mit seinem um die Wette.

    Hastig beugte ich mich vor. Ich wollte nicht, dass er Angst und Schmerzen aushalten musste. Fahrig streichelte ich seine Wange, seine Stirn. Er durfte um alles in der Welt nicht wieder in diesen totenähnlichen Zustand zurückstürzen.

    „Mike!" Meine Stimme kippte, klang hysterisch spitz. Mir brach der kalte Schweiß aus. Er stöhnte wieder und schien mit einem Mal selbstständig zu atmen, ohne Hilfe dieser Maschine. Sein Brustkorb hob sich krampfhaft. Mein Puls dröhnte mir in den Ohren, dazu schrillte seiner aus dem Monitor. Beide waren deutlich zu schnell.

    „Mike!"

    „Sollten wir nicht besser den Arzt rufen?", fragte Gary betont ruhig. Ich nickte wild. Gary griff nach der Klingel, drückte sie, ließ sie nicht wieder los. In diesem Moment machte Mike die Augen einen Spalt weit auf. Sein Blau war schrecklich weit weg und furchtbar leer.

    „Mike!" Meine Stimme überschlug sich. Ich hoffte inständig, dass meine Hand auf seiner Wange ihm etwas vertraut war, vertrauter jedenfalls als meine überdrehte Stimme. Sein halb geöffneter Blick wanderte langsam von der Zimmerdecke auf mein Gesicht, wo er mit verstörender Verständnislosigkeit hängen blieb. Er erkannte mich nicht.

    Namenlose Panik schoss durch mich hindurch. Mit einer Hand wischte ich mir über meine schwarz flackernden Augen.

    „Mike, wir sind es, Gary und Susan. Ich bin deine Frau!"

    Seit Wochen sehnte ich mich nach diesem Moment, glaubte, dass er die Erlösung von allen Schrecken bringen würde und jetzt fühlte ich mich entsetzlich hilflos, verlassener denn je. Mike starrte mich mit flatternden Lidern an. Seine Augen fielen ihm immer wieder zu, als zerrte ihn etwas zurück in die andere Welt, in der ich ihn nie erreichen würde, in die ich ihm nicht folgen konnte, folgen durfte.

    Gary keuchte neben mir, rang um Fassung. Mikes Augen schwankten von mir zu ihm hinüber, verwirrt, verängstigt, so leer. Es war furchtbar.

    Doch dann fing Gary an zu singen, ganz leise und zaghaft, mit seiner schönen, tiefen Stimme, die wir alle liebten: „Sunrise, I don´t know how you found me, for so long I got lost in the dark …"

    Mike schloss die Augen, seine Züge entspannten sich, als er seinen Kopf leicht zur Seite drehte, sich in meine streichelnde Hand schmiegte. Ich atmete gepresst, sehnte mich nach Leben in seinem Blick, nach der Liebe, mit der er mich früher angeschaut hatte.

    Und Gary sang. Ich streichelte weiter seine Wange. Unendliche Minuten lag er da, schien wieder in seine Welt hinabgesunken zu sein.

    Ohne uns. Verloren.

    Mit aller Kraft versuchte ich, meine Tränen zurückzuhalten. Es half alles nichts, denn meine Welt brach einmal mehr zusammen. Mike hatte mich nicht erkannt! Er war wieder weg. Fort. Alles umsonst. Wir hatten verloren.

    Gary sang unerschütterlich weiter. Sunrise, now I´m sure a brandnew day is dawning …"

    Wozu noch? Ich schluchzte wider Willen. Aus den Augenwinkeln sah ich Dr. Simpson am Fußende stehen. Aber er sagte nichts. Meine Hand lag auf Mikes Wange.

    Als Gary das Lied beendete, flatterten seine Lider und er schlug die Augen wieder auf. Und dieses Mal sah er mich ganz bewusst an. Sein Blau trug Leben, wie ein aufgewühltes Meer nach dem Sturm.

    „Mike? Ich beugte mich nah zu ihm hinunter, so als könnte ich ihn körperlich daran hindern wieder zu verschwinden. „Erkennst du mich? Ich liebe dich so sehr. Bleib bei uns, bitte.

    Seine Lider senkten sich einmal wie bejahend, er schaute mich intensiv, voll Liebe an, bis ihm die Augen zufielen.

    Und dann brach ich haltlos über ihm in Tränen aus.

    2

    Gary schoss um das Bett herum, zerrte mich hoch und schleppte mich aus dem Zimmer. Bitterlich weinend krallte ich mich an ihn. Etwas in mir löste sich in wilden Tränen auf. Ich konnte gar nicht aufhören, schluchzte Gary die Jacke nass. All die Ängste der vergangenen Wochen flossen aus mir heraus, ließen sich nicht mehr bändigen.

    Tief in mir drin war mir bewusst gewesen, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft eine Entscheidung über Mikes Leben hätte fällen müssen. Ganz sicher hätte er nicht an Maschinen angeschlossen dahinvegetieren wollen, auch nicht Jenny und mir zuliebe.

    Wie sollte ich das schaffen? Wie den Schalter umlegen? Aus. Ihn bewusst sterben lassen, wo er so gekämpft hatte. Daneben stehen? Zuschauen, wie in jener schrecklichen Nacht, als sein Herz aufhörte zu schlagen, der Puls wie ein Countdown abwärts ratterte.

    Wie könnte ich ihn gehen lassen?

    Ich hatte ihm versprochen, immer für Jenny zu leben. Es wäre kein Leben mehr gewesen. Ohne ihn war es nicht mehr als eine trostlose Existenz. From this day, forward to all eternity. Das war unser Ehegelöbnis gewesen.

    In zwei Wochen feierten wir unseren neunten Jahrestag, den sechsten Hochzeitstag. Wahrscheinlich wäre das meine Deadline geworden. Doch heute war er zu uns zurückgekehrt. Er war zu Bewusstsein gekommen, hatte die Augen aufgemacht. So blau.

    Ich war fassungslos und unfassbar glücklich.

    Als Dr. Simpson nach einer Weile aus dem Zimmer kam, hörte ich nur, wie er Gary fragte, ob ich ein Beruhigungsmittel bräuchte. Gary verneinte und hielt mich stattdessen fest im Arm, wiegte mich sanft. Ich spürte seine Lippen an meiner Stirn, seinen warmen Atem in meinem Haar, sein beruhigendes Murmeln.

    Wie lange wir dort im Flur standen, weiß ich nicht. Irgendwann versiegten meine Tränen. Ich war zum Umfallen müde, leer und spürte doch dieses ungläubige Glühen der Freude in mir. Mike war erwacht.

    „Wir sollten noch einmal zu Dr. Simpson hineingehen, Susan." Er drückte mich leicht.

    Ich nickte, schenkte ihm ein verquollenes, wirklich verschämtes Lächeln. So hatte ich noch nie die Nerven verloren.

    „Natürlich, entschuldige, dass ich so durchgedreht bin. Ich glaube, ich bin ziemlich durch, mehr als urlaubsreif, so irgendwie. Das war jetzt echt alles zu viel. Wahrscheinlich kann man wirklich vor Freude sterben."

    Er drückte mir einen Kuss auf die Wange. „So irgendwie, Sissy. Sein Blick war liebevoll. „Weißt du eigentlich, dass Mike dir zum neunten Jahrestag eine Reise in die Schweiz schenken wollte? Immerhin habt ihr ja nie eine richtige Hochzeitsreise gehabt. Und er dachte, dass dir Ramsö und die Elche sicher schon zum Hals raushängen.

    „Nein, davon weiß ich nichts", erwiderte ich ehrlich erstaunt und lachte halb schluchzend. Äußerst undamenhaft zog ich die Nase hoch. Mike hatte nicht ein Wort darüber verloren.

    „Dann weißt du auch jetzt noch nichts davon. Er reißt mir den Kopf ab, wenn er erfährt, dass ich geplaudert habe. Es sollte doch eine Überraschung sein."

    „Ich weiß von nichts, versprochen. Davon abgesehen wird das in den nächsten Wochen und Monaten sicher nichts. Wenn überhaupt je wieder. Dr. Simpson sagte, dass mindestens noch zwei oder drei Operationen nötig sein könnten, bis er halbwegs wieder laufen kann."

    „Ach, alles halb so wild. Er legte aufmunternd seinen Arm um mich und strahlte. „Weißt du noch, wie er damals zu Hause die Treppe hinuntergefallen ist und sich das Bein gebrochen hatte? Da war er auch fix wieder fit. Wart mal ab, jetzt geht es rasant aufwärts mit ihm.

    Darauf erwiderte ich nichts, wollte seine Hoffnung nicht sofort sterben lassen und war ihm dankbar für seine Ermutigung.

    Aber ich hatte in den vergangenen Wochen diverse Röntgenbilder von Mikes rechtem Bein gesehen und Dr. Simpson hatte mir die Schrauben und Nägel gezeigt, mit denen er in jener entsetzlich langen Nacht vor drei Wochen die zersplitterten Knochen seines Sprunggelenks zusammengestückelt hatte.

    Dass Mike wahrscheinlich trotzdem ein steifes Bein behalten würde, hatte ich nur Karin in einem ganz, ganz schwachen Moment am Telefon erzählt. Sie konnte schweigen, denn ich wollte keine Panik verbreiten, bevor wir Genaueres wussten. Und ich versuchte mir zu sagen, dass es weit Schlimmeres gab, als ein steifes Bein. Hoffentlich konnte Mike das auch so sehen.

    Ich schnäuzte mich noch einmal, wischte mir die letzten Tränen aus den Augen und atmete tief durch. Sicher sah ich noch verheerender aus als vorher. Hinter meiner Stirn arbeitete ein bohrender Kopfschmerz.

    Aber Mike war aufgewacht, allen Ängsten zum Trotz, das war alles, was zählte und ich war unendlich dankbar, unendlich glücklich. Einzig die dazugehörigen Gefühle hinkten noch den Ereignissen hinterher. Derzeit waren alle Systeme in mir mit den Eindrücken der letzten Stunden beschäftigt. Kein Raum für kräftezehrende Emotionen.

    „Dann lass uns mal zu Dr. Simpson gehen und hören, was er jetzt zu tun gedenkt." Zweifellos, ich klang nicht sehr euphorisch, ich war so furchtbar müde. Ich wendete mich ab, um zu Dr. Simpsons Büro zu gehen, doch Gary hielt mich an beiden Schultern fest.

    „Hey, Sissy, es ist eigentlich noch ein bisschen zu früh, um die Flügel hängenzulassen. Er schüttelte mich sacht. „Das, was ich eben sagte, habe ich ernst gemeint, du musst noch durchhalten und Mike benötigt in nächster Zeit all deine Kraft.

    Leise stöhnend, senkte ich den Kopf. „Ich muss mich zum zweiten Mal für heute bei dir entschuldigen, Gary, es tut mir leid. Manchmal ist alles zu viel, sogar Freude. Nie kann ich Luft ablassen. Und dazu all die Dinge, die nebenher noch geregelt werden müssen. Es gibt Momente, da schlägt alles über mir zusammen, da saufe ich gnadenlos ab. Dieser Moment gehört bei allem Glück dazu. Kannst du das verstehen?"

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