Altes Handwerk - weite Wege: Wanderjahre einer jungen Buchbinderin
Von Carmen Schmidt
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Über dieses E-Book
Nach ihrer Ausbildung ging die junge Frau auf dreijährige Wanderschaft durch den deutschsprachigen Raum, Skandinavien und Schottland. Sie wollte ihre Kenntnisse im Handwerk erweitern. Unterwegs war sie abwechselnd mit dem Fahrrad, zu Fuß und dem Rucksack oder auch mal mit dem Kajak. Wo sie abends übernachten würde, wusste sie oft nicht, aber mit einem Zelt, einer Isomatte und einem Schlafsack im Gepäck fand sich immer ein Plätzchen für die Nacht.
Überall besuchte Carmen Buchbindereien und arbeitete für einige Tage oder Wochen mit, wo es sich ergab. Auch Einsätze in anderen Arbeitsbereichen wie in der Gastronomie und der Landwirtschaft taten sich auf.
Was sie außerdem unterwegs erlebte, hielt sie in einem „Wanderbuch“ fest, woraus dieses Buch entstand:
Wildnispädagogik im Allgäu
Märchen in Appenzell
Kellnern im Bregenzerwald
Kanufahren auf dem Hochrhein
Anthroposophen in Basel
Fachsimpeln in Ascona
Farmleben in Dänemark
Radeln durch Schweden
Lebenshof im Chiemgau
Winter in Vorarlberg
Alp-Zeit in der Schweiz
Goldschnitt in Weimar
Findhorn in Schottland
Carmen lebt heute in Norddeutschland in Ostseenähe und widmet sich weiter dem Buchbinden. In ihren Kursen tauchen Menschen unterschiedlichen Alters bei ihr in die Welt des Buchbindens ein.
Das Schreiben von Geschichten begann sie schon während der Grundschule. Die Liebe zum Reisen entdeckte sie erst später. Mit ihren selbst gebundenen Büchern lässt sich beides gut kombinieren.
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Buchvorschau
Altes Handwerk - weite Wege - Carmen Schmidt
1. Wie ich aufs Buchbinden kam
Ich besuchte die 9. Klasse eines Gymnasiums, da ließ mein Vater das Thema ›Berufswahl‹ immer mal wieder anklingen und meinte: »Mach dir doch mal konkrete Gedanken, was du nach der Schule machen möchtest.« Kreuz und quer begann ich zu recherchieren und versuchte, einen Überblick über die bunte Berufslandschaft zu bekommen. Ich staunte bei über 2000 Studiengängen in alle möglichen Richtungen und nochmals bei den über 300 Ausbildungsberufen, die ich in Feldern wie Soziales, Kaufmännisches, Technisches oder Handwerkliches absolvieren könnte. Für mich stand schnell fest, dass ich gern mit den Händen arbeiten möchte. Ich hatte langsam genug von dem Rumgesitze in der Schule und spürte das Verlangen, etwas Handfestes machen zu wollen. Nur was? Ich fand nichts Passendes und beschloss, die Sucherei vorerst ruhen zu lassen.
Einige Monate später bekam ich ein Buch in die Hände, das den Titel ›Tintenherz‹ trug und aus der Feder von Cornelia Funke stammte. Ich las in der Zeit sehr gern und manchmal den ganzen Tag hindurch. Die Geschichte packte mich sofort, und ich hatte schnell das Gefühl, in eine andere Welt und eine andere Zeit abzutauchen. In der Geschichte spielt der Beruf eines der Protagonisten eine große Rolle. Sein Name ist Mo und sein Beruf ist das Handbuchbinden. Auf liebevolle Art werden seine Werkstatt beschrieben, das Werkzeug und das Material, was er verwendet und seine Arbeit. Ich war sofort begeistert davon und dachte: »Das möchte ich auch machen!« Als ich das Buch zuklappte, stellte ich fest, wieder in meiner Alltagswelt gelandet zu sein, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es den Beruf des Handbuchbinders überhaupt noch gab! Jedenfalls hatte ich noch nie von ihm gehört, bis ich dieses Buch las, das nun auf meinem Schoß lag. Ich befragte das Internet und stellte überrascht fest, dass es diesen Beruf tatsächlich noch gibt! Und es war auch möglich, eine Ausbildung darin zu machen! Das musste ich mir auf jeden Fall genauer anschauen, und ich fand schnell heraus, wo die nächste Handbuchbinderei war: in Hamburg! Da fuhr ich voller Erwartungen hin. Und sie wurden weit übertroffen. Ich fühlte mich vom ersten Augenblick an in den Räumlichkeiten der Buchbinderei Erdmann wohl. Sie ist in einem kleinen Hinterhof-Häuschen in einem Hamburger Vorort beheimatet.
Es duftete nach Leder und Leim. Bunte Materialien in Holzregalen schauten mir fröhlich entgegen, und überall gab es kleine, gemütliche Arbeitsecken, wo verschiedene Buchbinde-Arbeiten vorgenommen wurden. Auf meinen ersten Besuch folgte ein Praktikum und darauf die Ausbildung nach dem Abitur.
2. Der Ruf der Wanderschaft
Während meiner dreijährigen Ausbildungszeit an der Universitätsbibliothek in Göttingen, begegnete mir zum ersten Mal das Thema Wanderschaft. Eine Kollegin war auf traditioneller Wanderschaft und hatte davon berichtet. Beim Zuhören bekam ich warme Ohren und fühlte mich auf wundersame Weise von der Ferne und dem Unterwegssein gerufen.
In dieser Zeit begann ich, mein Fahrrad mit Zelt & Co zu bepacken und übers Wochenende auf Tour zu gehen. Ich tauchte in die hügelige Landschaft rund um Göttingen ein und machte meine ersten Erfahrungen mit längeren Distanzen, Draußensein und Outdoor-Ausrüstung. Nach der ersten Tour stellte sich mein Fahrrad als völlig ungeeignet heraus, das Zelt als viel zu schwer und zu groß, und das Kochen bescherte mir die eine oder andere angebrannte Mahlzeit. So überdachte ich mein Vorgehen: Mein Fahrrad wich einem neuen, ebenso das Zelt, und zum Thema Kochen recherchierte ich, wie andere damit zurechtkamen. Jede Tour brachte mir neue Erkenntnisse, Verbesserungen und den einen oder anderen Lacher. So startete ich meine erste einwöchige Tour an einem sommerlich heißen Tag, nachdem es schon viele Tage in Folge heiß gewesen war. Dementsprechend packte ich meine Fahrradtaschen mit Sommersachen. Pulli und warme Jacke ließ ich zuhause, aber Wollsocken packte ich ein - nachts könnte es ja kalt werden! Was passierte dann? Das Wetter schlug um: es wurde kalt und windig. Ich fror untertags. Nachts hatte ich meine Wollsocken!
Bei einem sechsmonatigen Auslandsaufenthalt in London nach meiner Ausbildung schnupperte ich zum ersten Mal den Duft der großen, weiten Welt. Mir begegneten Menschen aus vielen Ländern der Erde, und ich begann die englische Sprache zu schätzen, nachdem ich sie in der Schule jahrelang als Quälerei empfunden hatte. Ich begriff, dass Sprache ein Schlüssel zu Menschen ist und ungeahntes Erleben aufschließt. Plötzlich konnte ich mit Menschen aus Südamerika und Asien sprechen, und erfuhr etwas über ihre Lebensweise und Kultur. Daran hatte ich unglaublich viel Freude, und der Wunsch, noch mal länger auf Reisen zu gehen, festigte sich weiter.
Nach London wohnte ich ein Jahr lang in München und entdeckte das Wandern in den Bergen. Die Bergwelt war so ruhig, anmutig und wunderschön. Ich konnte mir gar nicht mehr vorstellen, wie es war, als ich es öde und doof fand, zu Fuß unterwegs zu sein! Ich klapperte alle Berge ab, die südlich von München mit dem Zug erreichbar waren. Freude fand ich auch am Biwakieren, und ich erfuhr, wie erholsam und friedlich eine Nacht unter dem klaren Sternenhimmel sein kann. Das ging nicht etwa von einer Nacht auf die andere. Es war ein Prozess. In meinen ersten Nächten draußen allein fand ich kaum Schlaf. Die Geräusche um mich herum waren mir fremd, und ich konnte sie nicht zuordnen. So schien es mir einmal, als hörte ich Schritte, so als würde jemand durchs Gras über die Wiese streifen, aber ich konnte niemanden sehen. Eine Nacht später entpuppte sich die Quelle des Geräusches als ein Igel!
Schließlich hatte ich alles, was ich für meine Wanderschaft brauchte. Die eine oder andere Begegnung kam noch dazu, die mir eine Technik, einen Ausrüstungsgegenstand oder menschlichen Beistand mit auf den Weg gab.
Ich spielte auch mit dem Gedanken, auf traditionelle Wanderschaft zu gehen. Bei einer Zugfahrt traf ich eine Truppe aus zwei Männern und einer Frau, die ich anhand ihrer Kluft als Wandergesellen erkannte, und fragte sie über ihre Tippelei aus, wie sie ihr Unterwegssein nennen. Ich hörte von einem Bannkreis, der sich in einem Radius von 50 km um ihren Heimatort erstreckt. Dieser darf während ihrer Wanderschaft nicht betreten werden. Es gibt auch ein Handyverbot. Die volle Kluft, eine Wander-Uniform sozusagen, ist in der Öffentlichkeit stets zu tragen und hat die Angewohnheit, im Sommer zu warm und im Winter zu kalt zu sein. Das Fortbewegen an sich darf nichts kosten. Deshalb ist das bevorzugte Fortbewegungsmittel das Trampen, öffentliche Verkehrsmittel sind eigentlich verpönt und sind die Ausnahme.
Das alles sprach mich nicht so recht an und löste Unbehagen in mir aus. Ich wollte, wann immer mir danach sein sollte, in meine Kindheitsheimat, das Wendland fahren können und ein Handy dabeihaben, um erreichbar zu sein und Kontakte aufrechterhalten zu können. Auch wollte ich mein Fortbewegungsmittel und meine Ausrüstung sowie meine Kleidung je nach Lage und Selbsteinschätzung frei wählen können.
Ein gutes Gefühl hatte ich zu Fahrrad- und Rucksackreiserei. Darin hatte ich bereits Vertrauen, und so kam eines zum anderen.
3. Mein Start in München
Ein Schuljahr lang besuchte ich in München eine Meisterschule fürs Buchbinden. In meiner Zeit dort pflegte ich zu betonen, aus dem Norden zu kommen. Denn während ich in Bayern lebte, merkte ich, dass ich doch sehr nordische Züge habe. Nicht nur mein hellblondes Haar deutet darauf hin, auch meine Direktheit ist nordischen Charakters und kam bei den Bayern nicht immer gut an. So machte ich das ein oder andere Mal Bekanntschaft mit dem Begriff ›Saupreuß‹ und wurde von einer Mitschülerin als Ostdeutsche bezeichnet. Als ich sagte, dass ich eigentlich nicht aus den neuen Bundesländern käme, sagte sie: »Alles, was außerhalb von Bayern liegt, ist Ostdeutschland.« Die Bayern sind schon etwas eigen.
Nach einem Jahr bei den Bayern und nach Abschluss der Meisterschule steht für mich fest, ein Jahr lang auf Reisen zu gehen. Auf meiner ersten Etappe werde ich auf meinem Fahrrad durch Deutschland ins Wendland radeln. Das ist die Gegend, in der ich aufwuchs. Ich fuhr diese Strecke von über 700 km oft mit dem ICE in knapp 6 Stunden und möchte jetzt wissen, wo ich da eigentlich überall durchdüste. So kam Idee, dies mit dem Beginn meiner Wanderschaft zu kombinieren.
Den letzten Abend vor Beginn meines Unterwegsseins verbringe ich in meinem beinahe leeren Wohnheimzimmer. Nur noch die Möbel aus dem Wohnheim stehen darin: ein Bett, ein Schrank, ein Regal und ein Tisch mit Stuhl. Ja und natürlich meine gepackten Fahrradtaschen. Ich freue mich, bin aber auch sehr aufgeregt. Ich beginne, die ersten Zeilen in mein Wanderbuch zu schreiben.
Im kommenden Jahr lasse ich
mir den Wind um die Nase wehen.
Das bedeutet für mich
Freiheit & Orientierung.
Was treibt die Buchbinder-Welt
da draußen?
Und was tut sich sonst so?
Wie leben andere Menschen?
Nach dem Motto ›Frei wie der Wind‹,
bewege ich mich
frei & ungezwungen.
Jeder hat seinen Weg.
31. Juli 2017
Mit einem guten Gefühl starte ich in München, an einem wunderbaren sonnigen, warmen Montag.
Es geht hinaus aus der Stadt, die mir vertraut geworden ist. Menschen, die Freunde geworden sind und mich berührten, lasse ich zurück und nehme einen Sack voller Erinnerungen mit. Mein Fahrrad, ein neues Trekkingrad, ist hinten mit zwei Radtaschen und einer Packrolle mit Zelt und so weiter bepackt. Es geht los. Mir wird etwas schwer ums Herz. Was wird kommen?
Meine erste Station ist das Münchener Rathaus. Ich möchte Stadtstempel in meinem Wanderbuch sammeln. Zünftig reisende Wandergesellen machen das so, und es gibt dort eine zünftige, geheime Vorgehensweise, nach diesen zu fragen. Ich kenne sie nicht und bewege mich da auf dünnem Eis, aber ich finde, es passt gut, als Buchbinderin mit selbstgemachtem Wanderbuch, Stadtstempel zu sammeln. Fragen, so meine Devise, kostet höchstens ein Nein. Also wage ich es und habe Erfolg. Ich bekomme einen Stempel, voilá!
An der Isar entlang, unter Autobahnbrücken hindurch und am ohrenbetäubenden Flughafen vorbei ziehe ich dahin gen Norden.
Bei einer Pause in Freising entdecke ich an einer Wand auf dem Weg zu einer Toilette ein Zitat, das jemand als Grundlage für eine wunderschöne Kalligraphie verwendet hat. Es gefällt mir, warum, kann ich nicht sagen. Ich schreibe es in mein Wanderbüchlein:
»Die Krähen schrein und schwirren flugs zur Stadt:
Bald wird es schneien. Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat.«
Friedrich Nietzsche
Abends finde ich ein hübsches Plätzchen eingebettet in die Natur. Die nahegelegene Autobahn schläft irgendwann ein, und friedlich geht der Tag zu Ende. Ich baue mein kleines Lager ganz im Freien auf unter einer prachtvollen Eiche in bester Gesellschaft vom Holder (auch Holunder genannt). Der Mond leuchtet am Himmel, und viele Sterne zeigen sich. Wie ein gewiegtes Kind schlafe ich ein.
4. Ankommen auf Reisen
Auf Reisen zu gehen, heißt für mich Rauskommen aus einem gewohnten, sehr eingefahrenen Alltag, in dem vieles durchgeplant war: Was habe ich heute alles zu machen? Was steht an? Welche Termine muss ich wahrnehmen? Wo muss ich hin? Was muss ich schaffen? Was ist vorzubereiten? Was zu planen? Diese Fragen beherrschten bis jetzt meinen Tag und gaben mir einen ziemlich festen Rahmen vor. Und jetzt halten sie mich fest und bauen Druck auf! Am 2. Tag radle ich an der Donau entlang und schaffe nicht die Strecke, die ich mir vorgenommen habe. Es ist heiß und schwül. Der Weg ist weiter und länger als gedacht. Ich kämpfe, bin unzufrieden, genervt und verzweifelt.
An einer Weggabelung steige ich kurz ab, um ausgiebig zu trinken. Da fährt ein Radler mit freiem Oberkörper an mir vorbei. An seinem Fahrrad sind vier Radtaschen befestigt, zwei am hinteren Reifen, zwei am vorderen. ›Der ist schon länger unterwegs!‹, schießt es mir durch den Kopf. In null Komma nix sitze ich wieder auf meinem Rad und fahre ihm hinterher. Wir kommen auf Englisch ins Gespräch. Er ist Franzose und für ein Jahr auf Reisen! Hey, genau das, was ich auch mache! Allerdings strahlt er Ruhe aus und ist tiefenentspannt - ganz anders, als ich mich gerade fühle! ›Wie macht der das?‹, frage ich mich und schließlich ihn. Er antwortet »I take time to take time! Ich möchte Land, Landschaft und Menschen erleben und mich wohlfühlen.« Dann stellen wir fest, dass er in die falsche Richtung fährt: er will flussabwärts in Richtung Rumänien, wir fahren aber gerade flussaufwärts! Er strahlt mich an, wir halten an, quatschen noch ein Weilchen und am Ende bedankt er sich für das schöne Gespräch. »All das ist Teil des Reisens!«, sagt er.
Meine schlechte Laune ist wie weggeblasen. Ich fühle mich gestärkt, setze meinen Weg zuversichtlich fort, und meine angepeilten Tageskilometer sind nicht mehr wichtig. Ich beginne langsam zu lernen, das schätzen, was ich gerade um mich habe und was möglich ist. Das ist ein langer Lernweg.
5. Wo soll ich heute Nacht schlafen?
Einige Tage später bin ich in der Nähe von Nürnberg am Rothsee angekommen. Der Abend bricht langsam herein. Es ist noch immer ziemlich warm, und ich bin müde und hungrig. Ich mag nicht mehr weiterradeln und schaue mich nach einem gemütlichen, beschützten Schlafplatz um. In Deutschland ist das so ein Thema mit Zelten und Übernachten im Freien. Jedes Bundesland hat da eine eigene Meinung, und ich meine: Es ist eines der schönsten Dinge, die ich kenne! Deshalb halte ich mich an ›Kannste machen, darfst dich nur nicht erwischen lassen.‹ Das heißt, ich bin Gast. Und als guter Gast mache ich nichts kaputt, verhalte mich respektvoll und nehme all meinen Krempel wieder mit, sodass der Platz anschließend so aussieht, als wäre ich gar nicht dagewesen.
Nun kann ich am Rothsee keinen Platz finden, wo ich mir vorstellen könnte zu übernachten. Überall parken bereits Camper und laufen Menschen rum, und da, wo dies nicht zutrifft, ist es zu steil oder ein Feld,