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eBook341 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Charlottes Leben ist in Schieflage geraten. Ihr sonst so langweiliger Ehemann Theodor ist auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung nach Bora-Bora ausgewandert und ihr droht in ihren besten Jahren das Klimakterium. Zu allem Überfluss braucht sie auch noch einen neuen Job. Dann ist da noch der attraktive neue Nachbar mit den dunklen Tiramisu-Augen, der Charlottes Gefühlsleben in Aufruhr bringt.
Arbeitssuche und Liebesleben gestalten sich turbulent, bis ein Aushilfsjob im Dackelmuseum und die Kittelschürze ihrer verstorbenen Tante Uschi eine unerwartete Wendung bringen.
SpracheDeutsch
HerausgeberWOLFSTEIN
Erscheinungsdatum15. Sept. 2023
ISBN9783954521210
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    Buchvorschau

    Wackeldackel - Marion Wagner

    Inahltsverzeichnis

    Am Rande des Klimakteriums 

    Eine tickende Zeitbombe 

    Einhörner in Echtzeit 

    Bunte Zeltblusen 

    Frau Lüttich und das Zölibat 

    Betty Boobs und ihre Freunde 

    Schweinkram 

    Dann lieber Modern Talking 

    Problemzonen einer Ehe 

    Männerfreundschaft 

    Königsjodler 

    Der Nackedei-Laufsteg 

    Ein altersschwacher Luftballon 

    Herabstürzende Bauteile und holländische Muffins 

    Mental instabil 

    Manövergrüne Hässlichkeiten 

    Meine innere Event-Managerin 

    Glatzköpfe mit Nelkensträußchen 

    Verfröhlichung 

    Ein Kindörspiel 

    Schleimige Horden 

    Eine Reise zurück in der Zeit 

    Der Ameisen-Marschbefehl 

    Französische Schimpfwörter 

    Arme Josefine 

    Der Hühnerdieb 

    Hauptsache, Bambi war glücklich 

    Kernschmelze 

    Penelope, der Mond und ich 

    Sangria für den Frauenbund 

    Der entlaufene Pudel 

    Hereingedackelt 

    Der Höllenschlund ist aufgetan 

    Alles bestens 

    Das süßeste Mädchen der Schule 

    Säbelzahntiger 

    Die Bedeutung von Tiramisu 

    Die virale Kittelschürze 

    Zwei tundrische Schafhirten 

    Die Gründung der Kittelschürzen-Republik 

    Satanische Gesänge 

    Liebevolle Schwingungen 

    Marion Wagner wurde im niederbayerischen Passau geboren. Sie lebt mit ihrer Familie sowie zwei Katzen und vier Hühnern in einem kleinen Dorf in der Nähe der Dreiflüssestadt. Ihren Beruf als Assistentin der Personalleitung in einem Industriebetrieb übt sie in Teilzeit aus.

    Vollständige e-Book-Ausgabe 2023 

    Copyright © 2023 WOLFSTEIN 

    ein Imprint der Spielberg Verlagsgruppe, Neumarkt 

    Lektorat: Kati Auerswald 

    Umschlaggestaltung: © Ria Raven, www.riaraven.de

    Bildmaterial: © shutterstock.com 

    Alle Rechte vorbehalten. 

    Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

    (e-Book) ISBN: 978-3-95452-121-0 

    www.spielberg-verlag.de

    Am Rande des Klimakteriums 

    Mein Gynäkologe heißt Herr Dr. Steinmeier, wie unser Bundespräsident, und er sieht auch ein bisschen so aus. Er ist ein netter älterer Herr mit weißem Haar und runder Brille, der erfreulich wenige Worte über sein Tun verliert, dieses ohne unnötige Verzögerung erledigt und jederzeit geneigt ist, mit seinem Kopf zwischen meinen Oberschenkeln den Klimawandel zu diskutieren. Ich habe im Laufe der Jahre eine sehr professionelle Routine entwickelt, den Gynäkologen während der Untersuchung in ein anregendes Gespräch über das Tagesgeschehen zu verwickeln, oder notfalls auch über das Wetter. Es gibt reichlich Themen, die sich ganz wunderbar zwischen Abstrich und Brustultraschall besprechen lassen. Wichtig dabei ist, dass er nicht auf die Idee kommt, die Beschaffenheit meiner Eierstöcke mit mir zu diskutieren. Das hat bislang immer prima funktioniert.

    Nun, heute ist alles anders. Mein überaus geschätzter Herr Dr. Steinmeier ist durch einen Bandscheibenvorfall außer Gefecht gesetzt (wie ich vermute war hier die berufsbedingt stets leicht vorwärts geneigte Körperhaltung nicht gerade hilfreich, womöglich sogar ursächlich). Seine Vertretung hat ein recht junger und offenbar noch völlig unverbrauchter Arzt mit einem Doppelnamen übernommen. Ich war von der Nachricht, dass heute ein vollkommen Fremder das Spekulum in mein Innerstes führen würde, derart überfahren, dass ich mir den Namen nicht gemerkt habe.

    Schon die Vorbesprechung, die sich bei Herrn Dr. Steinmeier normalerweise auf den Dialog: «Passt alles, Frau Kiebitz?» – «Alles bestens» – «Na, dann wollen wir mal» beschränkt, hat einen zweistelligen Minutenwert beansprucht, wobei der Jüngling intensiv mit zusammengekniffenen Augen in der Akte mit meiner gynäkologischen Historie forschte und gelegentlich mit dem Zeigefinger auf offensichtlich interessante Passagen klopfte. Zum Glück hatte ich niemals irgendwelche peinlichen Geschlechtskrankheiten.

    Die Untersuchung gestaltet sich nun ebenfalls weniger unterhaltsam als ich es von Herrn Dr. Steinmeier gewohnt bin. Ich habe den Stuhl erklommen. Als der Jüngling die Latexhandschuhe überstreift, starte ich den Versuch einer launigen Konversation.

    «Wie wunderbar, dass heute mal wieder die Sonne scheint, nach all dem Regen, nicht wahr?»

    Nachdem ich die politische und religiöse Einstellung des jungen Mannes nicht kenne und man bei den jungen Leuten nicht zwingend Kenntnisse über die aktuellen Vorgänge in den europäischen Adelshäusern voraussetzen kann, scheint mir dies ein gelungener, unverfänglicher Einstieg. Der junge Arzt reagiert jedoch nur mit einem zustimmenden Brummen. Meine Unterleibsinspektion erfordert volle Konzentration. Jedes verwendete Instrument, jeder Untersuchungsschritt und jede seiner Feststellungen werden mir nun wortreich erläutert. Es erscheint mir unhöflich, ihn zur Eile anzutreiben und darauf hinzuweisen, dass es mir grundsätzlich vollkommen egal ist, in welchem Zyklusstadium meine Eierstöcke sich gerade befinden, solange sie sich technisch einwandfrei präsentieren. Ich lasse die Beschau mit allerlei grusligem Gerät und vielsilbigen Fachausdrücken über mich ergehen und mache hin und wieder höflich «Hm-hm». Der Junge meint es nur gut. Mit ein paar Jahren Praxiserfahrung werden ihm die ausschweifenden Vorträge aus dem Gynäkologen-Lehrbuch schon noch vergehen.

    Ich werde ohne sichtbare Mängel und mit einem energischen Händedruck nach Hause geschickt. Nun beschäftigt mich aber eine Bemerkung, die während des Gesprächs mehrfach fiel. Der junge Mann war zwar medizinisch enorm kompetent, aber im Fach «Das einfühlsame Patientengespräch» hat er während seines Studiums offensichtlich geschwänzt. Oder es hat ihn einfach niemand darauf hingewiesen, dass es nicht ratsam ist, seine Patientinnen auf ihr ALTER anzusprechen. Mehr als einmal wurden seine Erklärungen von der beiläufig hingeworfenen Wort-Granate «in Ihrem Alter» begleitet. Auch der Begriff «Klimakterium» ist gefallen. Wie bitte??

    Ich hab´s gegoogelt: es bedeutet Wechseljahre.

    Gut, es ist nicht zu leugnen: Ich, Charlotte Elvira Kiebitz, geborene Wullinger, bewege mich altersmäßig in einem Bereich, in dem ich die 50 erschreckend klar am Horizont erblicke. Er rückt mit jedem Tag näher, der Meilenstein auf dem Weg zum Greisentum. Machen wir uns nichts vor: mit 50 ist die Jugend vorbei. Würde ein 50-Jähriger eine Bank überfallen, kein Augenzeuge würde von einem «jungen Mann» als Täter berichten. Mitunter bekommt man in diesem Alter auch mal einen Sitzplatz im überfüllten Linienbus angeboten, vor allem, wenn man beigefarbene Leinenhosen trägt. Trotzdem widerstrebt mir erheblich, was Google an Informationen zum Suchbegriff «Wechseljahre» liefert. Hitzewallungen, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Konzentrationsprobleme, ja sogar Zahnausfall … alles hervorgerufen durch die hormonelle Umstellung des Körpers. Verdrossen rühre ich in dem Cappuccino, den ich mir nach dem verstörenden Arztbesuch in meinem Lieblings-Café bestellt habe. Der hübsche junge Kellner hat mir freundlich zugezwinkert, als er die Tasse mit dem lustigen Kakao-Smiley auf dem Milchschaum vor mir auf den Tisch stellte. Vermutlich erinnere ich ihn an seine Oma.

    Wechseljahre! Empört schnaubend reiße ich die Plastikverpackung mit dem lächerlich kleinen Keks auf, die neben der Tasse liegt. Nelli regt sich über derartig unsinnigen Plastikmüll immer fürchterlich auf. Nun, ich sehe aufregende Zeiten in unserem Haushalt auf uns zukommen, nachdem auch bei Töchterlein Nelli die Hormon-Kameraden wahrscheinlich schon die Ärmel hochkrempeln und sich startklar machen für die Pubertät. Womöglich hat Theodor gerade noch rechtzeitig seine Koffer gepackt, ehe hier die Hormonhölle losbricht.

    Eine tickende Zeitbombe 

    Nelli ist dreizehn und damit eine tickende Zeitbombe. Jeden Moment kann es passieren, dass sie morgens die Augen aufmacht und lospubertiert. Ich beäuge sie täglich kritisch, aber im Moment scheint noch alles ruhig an der Hormonfront. Sie ist freundlich, lustig und ausgeglichen. Es hat sogar den Anschein, sie kann mich leiden. Also noch keine pubertären Anzeichen - aber es kann jeden Tag losgehen. Ich habe mir daher überlegt, ihr vorsorglich ein Tagebuch zu schenken. Es mag ein wenig altmodisch anmuten, aber vielleicht findet meine Tochter es hilfreich, ebenso wie ich in ihrem Alter, die inneren Gewitterstürme durch das schriftliche Formulieren zu zähmen. Auf Papier gebannt verliert so manches Drama an Dimension.

    Ich erinnere mich noch genau an mein allererstes Tagebuch: es war wunderschön, hellblau satiniert, und besaß ein ausgesprochen praktisches Accessoire: ein kleines Vorhängeschloss. Ich war über diese Extravaganz entzückt, kam es doch gerade zu der Zeit, da sich mein minderjähriges Herz erstmals für das andere Geschlecht erwärmte. Ich war zwölf, also ungefähr so alt wie Nelli. Meine Einträge beschäftigen sich in erster Linie mit der Analyse der Worte und Taten meiner großen Liebe Franzi. Er lebte in der Nachbarschaft und war der mit Abstand schönste Vierzehnjährige auf Erden. Mein hellblaues Büchlein erfuhr bis ins kleinste Detail, wie wunderschön seine dunklen Schokoladen-Augen glänzten, und dass ich die blöde Dörthe nicht leiden konnte, weil mein Franzi ihr in meinem Beisein ein Kompliment über ihre neue Frisur gemacht hatte. Ich fand ja, der Wischmopp meiner Mutter war besser frisiert und konnte in diesem Moment nicht umhin, an Franzis Urteilsvermögen zu zweifeln. Nachdem ich meine zahlreichen Liebesleiden und -freuden mit rosaroter Tinte zu Papier gebracht hatte, klappte ich das Büchlein zu, drehte feierlich den winzigen Schlüssel in dem winzigen Schloss um, und verriegelte so meine romantischen Geheimnisse vor der Welt. Das Schlüsselchen ruhte an einer zarten Kette an meiner Brust. Oh ja, ich habe das Büchlein geliebt. Die Exklusiv-Berichterstattung darin wandte sich nach einer gewissen Zeit übrigens mangels befriedigender Ergebnisse von dem dunkelhaarigen Franzi ab und dem blonden, nicht minder schönen Peter zu. Zwölfjährige können so wankelmütig sein!

    Wenig später, als die Pubertätshormone in meiner Gefühlswelt für den ein oder anderen emotionalen Tsunami und diverse Kontinentalverschiebungen sorgten, brachte mich die Problembewältigung mittels Tagebuchs durch die wildesten Stürme meiner Jugend und half mir, die Depressionsgräben meiner Pubertät zu überwinden. Der Eintrag anlässlich der Auflösung von Modern Talking zum Beispiel war an ehrlich empfundener Dramatik nicht zu überbieten.

    Ich habe für Nelli ein Buch gewählt, das durch seinen abgenutzt wirkenden Ledereinband ein wenig an die Zauberbücher von Harry Potter erinnert. Nelli liebt die Geschichten von dem Zauberschüler, hat alle Bücher gelesen und Filme gesehen, trägt in den Wintermonaten einen gestreiften Hogwarts-Schal in den Farben von Gryffindor und hat zuletzt wiederholt den Wunsch nach einer eigenen Schnee-Eule geäußert. Nachdem sie allerdings im Internet nachgelesen hat, dass Eulen mehrmals täglich Lebendfutter in Form von putzigen, knopfäugigen Mäusen verlangen, begrub sie diesen Wunsch schaudernd.

    Nelli beißt gerade in ihr Erdbeermarmeladenbrot, als ich ihr das Buch auf den Tisch lege. «Hier, für dich.»

    «Boah, cool! Ein Zauberbuch! Verteidigung gegen die dunklen Künste oder Zaubertränke?», fragt Nelli mampfend.

    «Das entscheidest du. Bisher steht noch nichts drin. Aber vielleicht magst du ja mal irgendwas aufschreiben. Es ist ein Tagebuch», bewerbe ich mein Geschenk. «Und sprich bitte nicht mit vollem Mund», füge ich hinzu. Man hat schließlich einen Erziehungsauftrag.

    Nelli guckt ein wenig ratlos und blättert in den leeren Seiten.

    «Hmpflt», äußert sie schließlich diplomatisch. Mehr ginge gerade auch nicht, denn sie hat immer noch den Mund voller Brotkrümel. Ich nehme an, das heißt «Vielleicht.»

    Einhörner in Echtzeit 

    Theodor ist am Telefon. Noch vor ein paar Jahren hätte ihn der Anruf ein Vermögen gekostet, aber ein Whats-App-Telefonat ist auch aus Französisch-Polynesien kostenlos. Bora-Bora, um genau zu sein.

    «Hallo Charlotte, na wie geht es euch?», begrüßt mich mein Noch-Ehemann im Plauderton.

    «Alles okay», nuschle ich an den Müsliriegelkrümeln vorbei, die sich in meinem Mund gerade auf die Suche nach einem bequemen Plätzchen zum Überwintern in den Zahnzwischenräumen machen. «Ich backe gerade supergesunde, ballaststoffreiche Müsliriegel für Nellis Klassenfrühstück. Seltsamerweise stehen die Kids da drauf, obwohl keinerlei Schokolade enthalten ist. Und bei dir?»

    «Oh, es ist wunderbar. Das Meer hat eine so unglaubliche Kraft und eine … transportierende Wirkung.»

    Ich verkneife mir eine launige Bemerkung, denn ich weiß, Theodor meint etwas Spirituelles. Vermutlich schickt er schlechte Schwingungen hinaus aufs Meer und erhält sie frisch gewaschen zurück. Im Hintergrund ist Wellenrauschen zu hören.

    «Du, ist Nelli in der Nähe? Ich kann sie nicht erreichen.»

    Ich versuche, nicht neidisch zu sein, als ich mein Handy an Nelli weiterreiche, denn auf meiner – meteorologisch weniger begünstigten – Erdhalbkugel ist das einzige Rauschen das des Regens, der schon den ganzen Tag gegen die Fensterscheiben prasselt.

    Ich kann das grundsätzlich nur ganz schlecht verkraften: Urlaubsgrüße aus exotischen Ländern mit enthusiastischen Beschreibungen von traumhaften Stränden, luxuriösen Hotelanlagen und permanent schönem Wetter. Sie dienen meiner Meinung nach nur dazu, den Daheimgebliebenen ihr eigenes Elend vor Augen zu führen. Ich muss dem Absender einer solchen Nachricht schon sehr gewogen sein, um ihm die Taktlosigkeit zu vergeben, die eine ausschweifende Huldigung des Hotel-Pools und der unverdrossen vom Himmel lachenden Sonne darstellen, wenn ich zur gleichen Zeit allmorgendlich mit vereisten Windschutzscheiben kämpfe und meinen Schal bis zur Nasenspitze hochziehe, um keine Eiskristallbildung in meinen Mundwinkelfalten zu riskieren. Früher erhielt man Ansichtskarten, die wochenlang in Postsäcken unterwegs gewesen waren. Man konnte sich also damit trösten, dass die Urlaubsbräune des Absenders zwischenzeitlich längst verblasst war, und er/sie mittlerweile ebenfalls mit den Widrigkeiten des deutschen Winters zu kämpfen hatte, statt cocktail-schlürfend an einem Hotelpool zu fläzen. Dank der modernen Technik wie WhatsApp oder Facebook erfolgt der Gruß vom Pool heutzutage aber leider in Echtzeit. Das Selfie von dem Urlaubenden, der gerade unter Palmen auf einem aufblasbaren Einhorn in den Wellen dümpelt, ist nur wenige Sekunden entstanden, ehe die Daheimgebliebene – also ich – durch knietiefe Schneemassen stapft, um die Schneeschaufel aus dem Schuppen zu holen.

    Möglicherweise ist es eine Art Defekt, etwa ein fehlender Baustein in meiner DNA, der mir das Gefühl tiefer Freude über den Karibikschnorchelspaß meiner Mitmenschen verwehrt. Meine Akzeptanz gegenüber bunt bebilderten Urlaubsgrüßen steigt jedoch in direkter Relation zur Außentemperatur. Wenn ich Flip-Flops an den Füßen habe, kann ich Bilder von Pool-Einhörnern prima tolerieren. Ich bin im Grunde überhaupt ein sehr duldsamer Mensch und kann über vieles problemlos hinwegsehen. Naive Malerei, Enthaarungscremes, geblümte Bettwäsche, volkstümlichen Schlager … Mich stören noch nicht einmal Mitmenschen, die weiße Socken zu schwarzen Halbschuhen tragen. Das mag daran liegen, dass ich einst in jungen Jahren, nachdem Modern Talking sich getrennt hatten und ich somit orientierungslos und idolberaubt durch die Pubertät irrte, Michael Jackson und seine Glitzersocken ziemlich super fand.

    Ich akzeptiere sogar meinen in die Südsee ausgewanderten Ehemann. Was bleibt mir auch anderes übrig.

    Es ist noch gar nicht so lange her, da packte Theodor jeden Morgen seine gelbe Brotdose mit dem Hogwarts-Wappen (ein Geschenk von Nelli) in seine abgewetzte Ledertasche, küsste mich zum Abschied flüchtig auf die Wange und machte sich auf den Weg in sein Büro, um dort Bilanzen zu prüfen, oder was man als Bilanzbuchhalter bei einem Steuerprüfungsunternehmen halt so macht. Staubtrockene und hochkomplizierte Materie mit für mich nicht nachzuvollziehender Kalkulationsakrobatik. Mir fehlt jeder Bezug zu Zahlen. Wird beispielsweise in einer Fernsehsendung die Entfernung vom Mars zur Erde genannt, dann wird die genannte Zahl der Kilometer (die ich jetzt natürlich nicht parat habe) in meinem internen Speicher sofort durch den variablen Wert «sehr sehr viel» ersetzt. Alternativ, wenn die Superlative nicht ganz so extrem ist, gibt es noch die Kategorie «sehr viel» oder «relativ viel». Oder im umgekehrten Fall einer geringen Wertangabe «sehr wenig» oder «sehr sehr wenig». Theodor ist anders. Er hört eine Zahl und speichert sie im Langzeitgedächtnis, wo sie zu jeder Tages- und Nachtzeit abrufbar bereitsteht. Würde man ihn nachts um zwei Uhr wecken und nach der Population der Madegassischen Schnabelbrust-Schildkröte befragen, oder der Einwohnerzahl von Norwegen, er hätte die Angaben parat. Wir haben zu beiden Themen Fernsehbeiträge zusammen angeschaut. Ich weiß nur noch, es waren sehr sehr wenige Tiere und relativ wenige Norweger.

    Theodor ist Superbrain. Theodor ist zuverlässig. Theodor ist korrekt. Ja, man könnte sagen, Theodor ist ein bisschen langweilig. Und jetzt ist er Klangschalentherapeut auf Bora-Bora.

    Bunte Zeltblusen 

    Den Umstand, in Scheidung von einem spätberufenen Hippie zu leben, der seine Chakren nur unter Palmen befriedigend einschwingen kann, darf man als Betroffene denke ich getrost als Widrigkeit bezeichnen. Wenn sich zu diesem Ärgernis auch noch der unerquickliche Zustand der Arbeitslosigkeit gesellt, ist es unvermeidlich – wenn keine Minderjährigen anwesend sind – hin und wieder mal ein paar Kraftausdrücke zu benutzen.

    Die zweite Hälfte des fünften Lebensjahrzehnts ist kein günstiger Zeitpunkt, sich auf dem Arbeitsmarkt zu werfen, wie ich feststellen musste. Insbesondere in meinem Beruf ist enorm viel attraktives Frischfleisch im Angebot. Oh, ich fürchte, das war sexistisch. Also nochmal politisch korrekt: es gibt viele junge Frauen, die sich für den Beruf der Assistentin interessieren und bedauerlicherweise auch noch hervorragende Qualifikationen mitbringen. Ich erkenne vollkommen neidlos an (okay, das ist gelogen), dass einige der jungen Damen, wie mir zu Ohren kam, nicht nur den schwankungsfreien Gang auf High Heels, sondern zudem die Anwendung von Pivot-Tabellen beherrschen. Ich könnte nicht mal genau sagen, was das eigentlich ist. Als ich in dem Beruf anfing, waren die meines Wissens noch gar nicht erfunden.

    Während ich damals, mit Mitte 20, noch als «Frischfleisch» durchging, hatte sich meine Vorgängerin, Frau Mömmlinger, im Laufe der Jahre den Status eines Cerberus erworben. Sie wogte in aufdringlich gemusterten Zeltblusen durch die Gänge der Firma und sparte weder an Make-Up noch an Haarspray für ihre beeindruckende Turmfrisur. Ihr Nerzmäntelchen ließ immerhin auf eine gewisse Lukrativität der Anstellung schließen, aus der sie sich nun aus Altersgründen verabschiedete. Mit viel Farbe im streng blickenden Gesicht wachte sie unerbittlich vor der Bürotür des Chefs. Große Loyalität zeichnete sie aus, jedoch gepaart mit einer Neigung zum Eingeschnapptsein, die sich chefseitig durch eine angemessen große Schachtel Pralinen aber mühelos wieder ausbügeln ließ. Das wirkte sich mit den Jahren unweigerlich auf den Taillenumfang aus, daher kamen irgendwann zwangsläufig die bunten Zeltblusen ins Spiel. Frau Mömmlinger war gefürchtet, aber sie hatte für diejenigen, die sie in ihr unter der üppigen Oberweite verborgenes Herz geschlossen hatte, stets Gummibärchen und im Notfall auch Hansaplast oder ein Blutdruckmessgerät in der Schublade.

    Und ich? Nun, mein Fürsorgetrieb ist leider arg unterentwickelt, zumindest wenn es um erwachsene Männer geht. (Bei unter Dreijährigen laufe ich dagegen zur Hochform auf. Meine Guguck-Dadaaa-Animation ist, in aller Bescheidenheit, legendär.) Nur einmal, als meinen Chef eine Dienstreise nach Finnland führte, verspürte ich ein wenig Anteilnahme. Ich sorgte mich bei der Vorstellung, wie mein dicklicher Chef dort, sich den Landesgepflogenheiten unterwerfend, in brüllheißen Dampfbädern mit gut gelaunten, weil dampfsauna-erprobten finnischen Geschäftspartnern ausharren musste. Ein weißes Frottee-Badetuch um die rundlichen Hüften geschlungen, über dem das Kugelbäuchlein sich schweißüberströmt wölbte; Sturzbäche salzigen, verzweifelten Schweißes auf dem spärlich behaarten Haupt; nach dem Dampfbad erschöpft auf einem Rentier zu der gemieteten Blockhütte reitend … so stellte ich ihn mir vor und hatte Mitleid.

    Außerdem wird jedes Gummibärchen, das in meine Reichweite gelangt, von mir persönlich vertilgt. Aufgrund einer höchst bedauerlichen Inkompatibilität meiner Füße mit schicken High Heels kriege ich noch nicht mal den Teil mit den Pumps richtig hin. Meine Füße sind leider so breit, dass jeder italienischer Edelschuhdesigner kapituliert. Nachdem mir jedoch nie Beschwerden zu Ohren gekommen sind, ging es für meinen Chef wohl in Ordnung, dass er all die Jahre ohne angemessene Gummibärchen-Grundversorgung und Pumps-Pirouetten auskommen musste. Dafür hat er mit mir im Vorzimmer viel Geld für Pralinen gespart, denn durch mein tendenziell eher positives Gemüt (wer über Jahre hinweg Guguck-Dadaaa im Dauerbetrieb aufgeführt hat, den bringt so schnell nichts mehr aus der Ruhe) ergab sich kaum je die Notwendigkeit, Schokolade zur Wahrung des Betriebsfriedens zu liefern. Das ist gut so, denn bunte Zeltblusen stehen mir nicht besonders.

    Mein Chef hieß … Ach nein, das klingt ja, als wäre er verstorben. Und das ist er ganz und gar nicht, im Gegenteil. Wie man hört, hält er sich im oberbayerischen Voralpenland auf und genießt sein Rentnerdasein mit ausgedehnten Bergwanderungen, Murmeltierbeobachtung sowie fröhlichem Enziankonsum. Der Schnaps, nicht die Pflanze. Also, der Mann, der mein Chef war, heißt Dr. Ludwig Kraut. Das würde ich nicht besonders betonen, wenn wir in Berlin oder Hamburg wären. Lebt man dagegen im südlichen Teil der Republik, ist der Name ein regelrechter Schenkelklopfer. Der schöne Name Ludwig wird hierzulande nämlich gerne zu «Wiggerl» verniedlicht. Zudem neigt der Bayer dazu, die Reihenfolge der Namen umzukehren. Man sagt also nicht, ich bin die Charlotte Kiebitz, sondern in Bayern muss es heißen: die Kiebitz Charlotte. Ja, und so wird aus dem Herrn Ludwig Kraut der Kraut Wiggerl. Was wiederum zugleich, wenn auch in anderer Schreibweise, der Name eines sehr leckeren bayerischen Traditionsgerichtes ist – nördlich der alt-bayerischen Kulturgrenze als Kohlroulade geläufig. Natürlich sprach die Belegschaft den Chef stets respektvoll mit «Herr Dr. Kraut» an. Diesem war durchaus bekannt, dass er in der Kaffeeküche und nach Feierabend als «Krautwiggerl» bezeichnet wurde. Da es jedoch viel schlimmere Pseudonyme für Vorgesetzte gibt – ich kenne Herren, die sind allgemein als «der blöde Doofkopf» oder «die alte Sackratte» geläufig – war das für ihn aber in Ordnung. Er war ein toller Chef. Nicht besonders groß, mollig und mit einem spitzbübischen Humor, weitgehend haar-, und leider auch kinderlos. Das war das Dilemma. Als er sich dem Rentenalter näherte, begann sich abzuzeichnen, dass sich kein Nachfolger für sein Architekturbüro finden lassen würde. Er legte daher allen Mitarbeitern frühzeitig ans Herz, sich nach einer neuen Arbeitsstelle umzusehen. Und so verwaiste ein Schreibtisch nach dem anderen in den Büroräumen. Ich verspeiste unzählige Abschieds-Muffins, trank flaschenweise Ausstands-Piccolöchen, sang mehrfach angeschickert Jolly Good Fellow – und blieb. Irgendwann kam der Tag, an dem ich nur noch ins Büro ging, um die letzten verstaubten Gummibärchen in meiner Schreibtisch-Schublade aufzuessen. Ich bekam meine Papiere und die erste, etwas ungelenke Umarmung vom Krautwiggerl in unserer Arbeitsbeziehung.

    «Liebe Frau Kiebitz, es tut mir in der Seele weh, Sie der Obhut der Agentur für Arbeit zu überantworten. Sie sind eine Spitzenkraft, man wird sicherlich in Bälde eine angemessene Position für Sie finden!» Bekräftigend ließ er seine Hosenträger schnalzen, tätschelte mir den Rücken und setzte seinen Hut auf. Der Gamsbart vibrierte ergriffen.

    Man möchte meinen, mit jahrzehntelanger Berufserfahrung wäre man so etwas wie ein Rolls Royce auf dem Arbeitsmarkt. Erfahrung, Zuverlässigkeit und erprobte Technik! Wie sich in den letzten Wochen herausgestellt hat, sind Oldtimer jedoch unabhängig von ihrer Laufleistung nur schwer vermittelbar. Es reißt zum Beispiel heute niemanden mehr vom Stuhl, dass ich Anfang der Neunziger bayerische Meisterin im Stenografieren war. Im Gegenteil, man muss Glück haben, jemanden zu finden, der das Wort noch kennt und es nicht für ein ausgefallenes Hobby wie das Bemalen von Tee-Untertassen hält. Auch Diktate vom Band waren für mich dank souveräner Beherrschung des Zehnfinger-Tippsystems stets eine Leichtigkeit. Zum Glück war mein Krautwiggerl der modernen Technik stets zugetan, und so verschwand die mechanische Schreibmaschine mit dem hängenden «s» und dem klemmenden «p» recht schnell und machte einem todschicken Computer Platz. Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Kollegen und ich uns begeistert vor dem Bildschirm versammelten, um verschiedene Schriftarten, -farben, -formatierungen und -größen unter begeistertem Jubel auszuprobieren. Was man mit der modernen Textverarbeitung alles anstellen konnte! Jeder Brief wurde zum Kunstwerk, und auch wenn mich der Krautwiggerl oft für meine Kreativität lobte, so bat er doch darum, ich möge mich innerhalb eines Textabschnitts auf nur eine Schriftart beschränken und von der Verwendung wild gemusterter Hintergrund-Designvorlagen absehen. Corporate Design war zwar damals noch nicht erfunden, trotzdem machte eine Schriftart mit lustigen Schneemützchen auf den Buchstaben in Geschäftsbriefen keinen professionellen Eindruck, das sah ich ein.

    Auch mein Diplom über den erfolgreichen Besuch eines Abendkurses in Textverarbeitung aus dem Jahr 1996 stieß bei der für mich zuständigen Sachbearbeiterin von der Arbeitsagentur, Frau Lüttich, auf eher geringes Interesse. Sie lächelte nachsichtig und legte es zur Seite. Ebenso das Zertifikat für den Kursbesuch «Internet für Einsteiger».

    Unser Chef hatte für unseren schicken PC irgendwann auch ein Modem angeschafft. Ein unscheinbares Kästchen, das unter beängstigendem Knattern, Pfeifen und Jaulen die Verbindung ins World Wide Web herstellen konnte. Ich wusste nicht so recht, was ich damit anfangen sollte, und so nahm mich unsere Auszubildende, die Jessica, zur Seite, um mir das Wesen und die Funktionsweise einer E-Mail zu erklären. Da stand ein Mädel vor mir, das noch mit

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