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Naher Osten - Reisen im Morgenland von gestern: Türkei, Israel, Jordanien, Emirate, Iran, Ägypten
Naher Osten - Reisen im Morgenland von gestern: Türkei, Israel, Jordanien, Emirate, Iran, Ägypten
Naher Osten - Reisen im Morgenland von gestern: Türkei, Israel, Jordanien, Emirate, Iran, Ägypten
eBook373 Seiten4 Stunden

Naher Osten - Reisen im Morgenland von gestern: Türkei, Israel, Jordanien, Emirate, Iran, Ägypten

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Über dieses E-Book

Der Nahe Osten reizt die Neugier. Er ist alt und  bewahrt, was immer galt. Er ist auch jung, öffnet sich und lässt das Neue ein. In den Wasserpfeifenbars qualmen und dösen die Männer vor sich hin – wie schon ihre Vorfahren. Ihre Smartphones liegen griffbereit neben ihnen auf  dicken Kissen.

Volker Kellers Liebe zum Orient begann mit seiner ersten Reise in die Türkei. In Istanbul nahm er auf europäischer Seite ein Fährschiff, überquerte den Bosporus und stieg im asiatischen Üsküdar aus. In einem Teegarten in Camlica Tepesi, ganz oben auf einem der sieben Hügel der Stadt, wird ihm klar, dass er große Lust hat, noch viele andere schöne Plätze und Landschaften zu entdecken. Und vor allem mit Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. In Israel und Palästina bekommt er einen Eindruck von der Auseinandersetzung ums Heilige Land: Auf einmal knallen Schüsse auf dem Tempelberg in Jerusalem. In Jordanien macht ein Beduine ihn auf die Stille der Wüste aufmerksam: „Es ist so still, dass du deinen Herzschlag hören kannst.“ Im Iran schlagen sich Männer auf die Brust und brüllen eine Parole in die Nacht – es ist der Monat Muharram, die Schiiten betrauern den Tod ihres Märtyrers  Hussein. Im Labyrinth der  Dubai Mall begreift jeder, was der Name des Emirats Dubai bedeutet: “Do buy!“ Schließlich beobachtet der Autor, wie im Golf von Aden ein Piratenangriff abgewehrt wird und fährt mit  MS Amadea in den ägyptischen Suez Kanal ein.

Jede Reisereportage wird durch landeskundliches Basiswissen kurz gefasst ergänzt. Das Vorwort zum Buch stammt von Jürgen Trittin, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages.

Mit zahlreichen, teils ganzseitigen Farbfotos!

Volker Keller arbeitet als Dozent im Evangelischen Bildungswerk in Bremen. Über seine weltweiten Reisen berichtet er als ständiger freier Mitarbeiter im Reisemagazin „Unterwegs“. Für die Evangelische Kirche in Deutschland betreut er als Bordgeistlicher die Passagiere der Kreuzfahrtschiffe MS Europa und MS Amadea.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum12. Aug. 2023
ISBN9783989115590
Naher Osten - Reisen im Morgenland von gestern: Türkei, Israel, Jordanien, Emirate, Iran, Ägypten

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    Buchvorschau

    Naher Osten - Reisen im Morgenland von gestern - Volker Keller

    Türkei

    Mehmet träumt vom Bosporus

    Die Türkei scheut sich nicht, ihre vielen Gesichter zu zeigen

    Das kleine Glas sieht aus wie die Blüte einer Tulpe: Unten ist es bauchig, verengt sich in der Mitte etwas, um sich oben wieder zu weiten. Die braune Flüssigkeit im „Tulpenglas, so sagen Türken, dampft aus dem Glas heraus. Mein Begleiter nimmt sich zwei Stücke Würfelzucker, zerkleinert sie auf dem Boden des Glases mit einem Löffelchen aus dem Reich der Zwerge, bis sie sich ganz aufgelöst haben. Ich fasse das Glas mit spitzen Fingern am Rand, es ist heiß, führe es in aller Ruhe zum Mund und schlürfe den bitteren Tee ohne Zucker von der Oberfläche, dort hat er sich schon etwas abgekühlt. Tee brauchen Türken täglich wie Kranke ihre lebenswichtigen Medikamente. Mehmet und ich sitzen vor einem türkischen Café, der Besitzer stellt bei gutem Wetter Plastikstühle auf den Gehweg. Wenige Meter weiter gehen ältere Männer in einem größeren Haus ein und aus, sie alle gehören wie auch Mehmet der Mevlana Moschee an. Mehmet fragt mich, wo für mich der schönste Ort der Welt sei, wo es mich immer wieder hinziehe. Während ich (zu lange) nachdenke, nennt er mir seinen: den Camlica Tepesi (Camlica Hügel) im Stadtteil Üsküdar auf der asiatischen Seite Istanbuls. Wenn die Sonne sinkt und knapp über dem Horizont steht, sucht er sich einen guten Platz, breitet eine Decke auf dem Boden aus, setzt sich in den Schneidersitz und ist bereit, das Schauspiel mitzuerleben. Der Tag verabschiedet sich, und die Bosporusbrücke kündigt die Nacht an: Ihre tausend Lichter gehen in einem Moment an und werfen ihren Schein aufs Wasser unter ihr. Bald schon erhält sie vom Mond Unterstützung. Ein fliegender Händler bringt Tee im Tulpenglas. Mehmet schaut dann auf den Bosporus und auf die Hügel des europäischen Istanbuls und vergisst völlig, was Zeit ist. „Ich habe mein Herz verloren: Plötzlich überfällt ihn Traurigkeit. Wir beide trinken nicht in seiner Heimat Tee, sondern im „kleinen Istanbul", wie ich die Lindenhofstraße in Bremen-Gröpelingen gerne nenne. Der Bosporus ist 2500 Kilometer oder 25 Stunden mit dem Auto entfernt. 

    Mehmet kam in den 1960er Jahren als „Gastarbeiter nach Bremen. Er wollte Geld verdienen und wieder zurück in seine Heimat. Er verdiente Geld, gründete eine Familie, seine Kinder wuchsen in die deutsche Gesellschaft hinein und dachten überhaupt nicht daran, mit dem Vater und der Mutter in die Türkei zurückzukehren. Mehmet bleibt bei seinen Kindern und verzichtet auch auf ein Grab auf dem Friedhof im Stadtteil Eyüp. Wer sollte es dort pflegen? Mehmet ist Bremer. Aber auch Istanbuler. In bestimmten Augenblicken ein trauriger Istanbuler, einer, dessen Herz sich manchmal an einen anderen Ort wünscht. „Wenn du dort bist, schaue dir Camlica Tepesi und Eyüp an und schaue auf den Bosporus. Ein Sprichwort sagt: ‚Der Blick auf den Bosporus bringt Männern Kraft und Frauen Schönheit.‘  

    Nichts lieber als das.

    Wie Mehmet geht es vielen Türken in Deutschland – sie sehnen sich nach ihrer alten Heimat. Die Dichterin Zehra Cirak wuchs in Deutschland auf, mit dem Gedicht „Istanbul" gibt sie einen Einblick in ihre wehmütige Migrantenseele:

    „… bosporus fließt in mir… 

    wie sonnenblumenfelder sich der sonne zuwenden 

    drehe ich mich im kreise herum 

    und suche istanbul…".

    Istanbul: Die hemmungslose Lust auf den Bosporus

    Mehmet gab mir keinen Geheimtipp. Die Sonne geht unter, und ich sitze im Schneidersitz auf Rasen unter lauter türkischen Familien. Alle sind auffallend ruhig, selbst die Kinder machen kein Spektakel. Die Beleuchtung der Bosporus-Brücke geht an, die angestrahlten Moscheen auf der europäischen Seite geben sich in der Dunkelheit zu erkennen, und die Hochhäuser der Neustadt setzten ihre Lichtpunkte in die Nacht. Wäre Mehmet doch jetzt hier. Ein Teeverkäufer reicht mir ein Tulpenglas. Da unten und da drüben liegt Istanbul, hier oben im asiatischen Üsküdar ist auch Istanbul. Keine andere Stadt der Welt liegt auf zwei Kontinenten. Nur wenige können eine große Geschichte vorweisen wie diese. Weltstadt Istanbul. Stolz der Türken. Schon die transkontinentale Hängebrücke ist mit ihrer Länge einzigartig, zwei weitere queren die Meerenge, und zudem verbindet der Tunnel Eurasien: Üsküdar mit dem europäischen Stadtteil Fatih. Istanbul will zeigen, was es kann. Auch mit dem neuen Megaprojekt: Mit einem 45 Kilometer langen Kanal vom Marmarameer bis ins Schwarze Meer soll die bisher einzige Verbindung, der Bosporus, entlastet werden. Istanbul demonstriert aller Welt Stärke: Der böse Europäer-Spruch vom „kranken Mann am Bosporus" soll ein für alle Mal ausgemerzt werden. Istanbul strotzt nur so vor Gesundheit und Willen.

    Vom asiatischen Istanbul in Üsküdar geht der Blick über den Bosporus zum europäischen Teil der Stadt

    Die Geschichte der „Stadt der sieben Hügel begann auf der Halbinsel zwischen Goldenem Horn, Marmarameer und Bosporus, dem heutigen Stadtteil Sultanahmet. Die griechischen Herrscher erbauten vor 2500 Jahren eine Akropolis, eine Burg auf dem Hügel, und gründeten Byzanz. Handel machte die Stadt reich. Durch den römischen Kaiser Konstantin der Große stieg sie im Jahre 330 zur „Nova Roma auf, zu einem neuen Rom. Der Kaiser benannte die Hauptstadt nach sich selbst: Stadt des Konstantin – Konstantinopel. Er ließ sich zum Christentum bekehren, sein Nachfolger Theodosius machte das Christentum zur Staatsreligion. Nachdem Theodosius das römische Reich unter seine beiden Söhne aufgeteilt hatte, war Konstantinopel nur noch die Hauptstadt des oströmischen Reiches. Als das Westreich aber unter die Herrschaft der Goten geriet, erlangte die Stadt am Bosporus ihre alte Stellung als alleinige Hauptstadt zurück. Kaiser Justinian hielt es für ein gutes Zeichen, mit einem besonderen Sakralbau die unvergängliche Macht des Reiches zu demonstrieren - mit dem gewaltigen Kuppelbau, der Hagia Sophia am Goldenen Horn. In den folgenden Jahrhunderten drohte die unvergängliche Macht zu vergehen: Nur mit größer Anstrengung behauptete sich das Oströmische Reich vorerst gegen seine Feinde, gegen Bulgaren, Perser, Türken, Araber und Venezianer. Nachdem die Venezianer die Stadt auf dem vierten Kreuzzug geplündert hatten, konnten die Griechen sie nur mit Hilfe der Genueser zurückerobern. Dafür erhielten die Italiener den Stadtteil Galata als eigenes Staatsgebiet. Schon drohte eine neue Gefahr – die Osmanen. Im Jahr 1453 durchbrachen die Türken die theodosianische Stadtmauer und eroberten Konstantinopel. Die erste Amtshandlung des neuen muslimischen Herrschers Sultan Mehmet II. ließ keinen Zweifel daran, dass dem machtvollen Christentum seine letzte Stunde geschlagen hatte: Er wandelte die Hagia Sophia in eine Moschee um. Doch im Gegensatz zur politischen Unfreiheit in Europa gewährte das Osmanische Reich Christen und Juden Religionsfreiheit und Menschen fremder Völker Bürgerrechte. Im 16. Jahrhundert erblühte die Stadt unter Sultan Süleyman zu einer kulturell vielfältigen und reichen Weltstadt - der Rest der Welt schaute zu ihr auf - und die Osmanen fühlten sich stark genug, militärisch bis nach Wien vorzurücken und Europa zu bedrohen. Ihrer Hauptstadt gaben sie einen neuen Namen: Istanbul. 

    Der Galataturm im ehemaligen griechischen Stadtteil Istanbuls, heute im modernen Beyoglu

    Dieser geschichtliche Hintergrund lässt die Gegenwart verstehen. Was steckt dahinter, wenn Türken Hochzeiten in Deutschland als Gelegenheit nutzen, laut hupend durch Städte zu fahren mit Autos, über deren Dächer sie rote türkische Fahnen mit Halbmond gespannt haben und die sie auch vorne und hinten mit türkischen Flaggen dekoriert haben? Wollen sie ausdrücken, dass sie Nachfahren eines Imperiums sind? In Deutschland erfahren sie zwar manche Kränkung, aber sie halten sich daran fest, dass das Herrschaftsgebiet ihrer Vorfahren eine Größe einnahm, die Deutschland nie hatte. Ich bin noch nicht lange in Istanbul, aber ich habe schon mehr Nationalfahnen wehen sehen, als es deutsche Fahnen in Deutschland überhaupt gibt. Bei der Vorstellung eines imperialen Traumes und seiner Symbolisierung zuckt ein Deutscher unwillkürlich zusammen. Dagegen bejubeln nationalistische Türken in Europa und in der Türkei den neuen neoosmanischen Präsidentenpalast in Ankara. Mit seinen 1000 Zimmern knüpft der Großbau an osmanische Repräsentationsbauten an. Kritiker großtürkischer Phantasien urteilen, der Palast repräsentiere die vergangene Goldene Zeit und beschwöre ihre Wiederkunft. Für den Palastbau lag keine Baugenehmigung vor, ein Gericht stoppte dann auch die Bauarbeiten und verbot den Weiterbau. Präsident Recep Tayyip Erdogan setzte sich jedoch über das Verbot hinweg und ließ den Palast fertigstellen – wie ein osmanischer Sultan. Ein Gericht befasste sich auch mit der Klage des griechisch-orthodoxen Patriarchen Bartholomäus gegen die Entscheidung der Regierung, das Hagia-Sophia-Museum wieder zu einer Moschee zu machen. Wohl um den „Sultan" nicht zu provozieren, wies das Gericht die Klage ab. Wie Sultan Mehmet II. nach der Eroberung Konstantinopels die Kirche zu einer Moschee umwidmete, nahm Präsident Erdogan den Christen ihre Gleichberechtigung: Fortan sollte die Hagia Sophia kein Erinnerungsort christlicher Geschichte mehr sein, sondern ausschließlich der Demonstration islamischer Überlegenheit dienen. 

    Wem gehört die Hagia Sophia?

    Die ehemalige Palast - und Krönungskirche der römischen Kaiser liegt in der Altstadt auf einem Hügel, ihr hellroter Anstrich und ihre vier Minarette sind von weitem sichtbar. Für Touristen bleibt sie außerhalb der islamischen Gebetszeiten geöffnet. 

    Der Raum wirkt gewaltig, über mir ist viel Höhe bis zur Kuppel; die schwere, alles überwölbende Kuppel scheint zu schweben. Touristen stehen unter einer Nebenkuppel und bestaunen ein Bild: Jesus auf dem Schoß seiner Mutter Maria. Um das Bild herum dominieren arabische Kalligraphien – die Namen Gottes, Mohammeds und der ersten Kalifen des islamischen Weltreiches. Auch für Muslime ist Jesus heilig: Er gilt ihnen als Prophet, als Verkünder des Glaubens an den einen Gott. Muslime lehnen aber die christliche Vergöttlichung Jesu als Erlöser der Glaubenden strikt ab, seine Kreuzigung und Auferstehung halten sie für unwahr. Der Sakralbau könnte die Gemeinsamkeiten zwischen christlichem und muslimischem Glauben zum Ausdruck bringen, immerhin übernahm der Prophet des Islam, Mohammed, große Teile der Bibel wie die Erzählungen über Abraham, Noah, Mose, David, die Zehn Gebote, die Schöpfungserzählung, die Verehrung der Mutter Jesu… Islamisten verlangten dagegen die Übermalung der christlichen Kunst. Nach einem Protest der US-amerikanischen Regierung sah der Präsident davon ab, doch wenn Muslime sich zum Gebet einfinden, werden die Bilder abgedeckt. 

    Vom Bosporus aus fallen die Hagia Sophia und gleich daneben die größere, prunkvollere Sultan-Ahmet-Moschee ins Auge. Nicht zufällig überbietet die Moschee mit ihren sechs Minaretten die ehemalige Kirche mit ihren vier, nicht zufällig liegt sie auf einem höheren Hügel und auch nicht zufällig umrahmen die Hauptkuppel mehr Nebenkuppeln – mit dem Prachtbau wollte der osmanische Sultan Ahmet die Hagia Sophia übertreffen. Auch der Zugang ist schöner: In einem stillen Park wird der Besucher auf den Eintritt eingestimmt: „Vergiss nun alle deine Sorgen und Wünsche und stelle dich auf die Begegnung mit Allah, deinem Gott, ein!" 

    Die am höchsten gelegenen Orte  der Stadt sind  Moscheen vorbehalten 

    Der erste Eindruck im Inneren von Gottes Haus ist überwältigend. Auf vier Säulen wie Elefantenbeine ruht die Kuppel- und Galerienkonstruktion, hunderte Fenster in unterschiedlichen blauen Verglasungen werfen Licht herein, tausende blaue Kacheln reflektieren die Einstrahlungen. Ich mache es wie die einheimischen Männer: Lasse mich auf dem weichen Teppich nieder und gebe meinen Augen Freiheit – sollen sie umherwandern, wie es ihnen gefällt, sich anziehen lassen von einer gemalten hellblauen Tulpe, auf die ein Lichtstrahl fällt, oder von einem azurblauen Streifen mit goldenen arabischen Schriftzeichen in der Kuppel… Ein Mann, der sicher schon lange nicht mehr arbeitet und Zeit hat, er hat weiße längere Haare, ein schmales Gesicht mit weißem Vollbart und trägt einen weißen Gebetshut. Er sitzt auf dem Boden und lehnt sich an eine der Säulen, liest in einem abgegriffenen Buch, schaut dabei immer wieder auf und spricht leise etwas vor sich hin, manchmal hebt er eine Hand dazu, als ob er seine eigene Stimme in die richtige Tonlage dirigiert. Er rezitiert den Koran – auf Arabisch. Wie die Kacheln das Licht von den Fenstern spiegeln, spiegelt Arabisch die Erhabenheit, die Schönheit Gottes in der Welt. Nur eine Rezitation in Arabisch hebt den Beter in eine mystische Stimmung, keine Übersetzung vermag das. Der Mann sieht gebildet aus mit seiner dünnrandigen Brille und feinen Händen, die das Buch sanft halten. Mag sein, dass er sogar versteht, was er liest. Die meisten türkischen Muslime kommen zur Rezitation in die Moschee, ohne den heiligen Text übersetzen zu können. Das müssen sie auch nicht – Allah gefällt die Rezitation auch ohne Übersetzung, da sind sich Muslime ganz gewiss.

    Zurück zum Bosporus: Schaut man zur asiatischen Seite nach Üsküdar, erhebt sich dort das Haus eines Riesen zum Himmel: Die Blaue Moschee, bisher Wahrzeichen der Stadt, wird seit 2019 zwar nicht nach Glanz, aber nach Größe von einer anderen überboten. Die von der islamistischen Regierung erbaute Camlica Moschee auf dem höchsten Hügel bietet  beim Freitagsgebet über 60 000 Gläubigen Platz. Ihre sechs Minarette erreichen jeweils eine Höhe von 107,1 Meter und erinnern an den triumphalen Sieg der türkischen Seldschuken in der Schlacht bei Manzikert im Jahre 1071. Wer als Türke nach dem Gebet nicht stolz nach Hause geht, hat die Symbolik nicht begriffen. 

    Jammer-Musik am Hafen in Karaköy

    Nun reicht es mir erst einmal mit anstrengenden Themen, und ich schalte in den Modus Leichtigkeit. Eine Stadt entdecke ich am besten, wenn ich mich von ihr führen lasse, sie weiß viel besser als ich, was für mich wichtig ist, ich lasse mich also umher wehen wie eine Feder sich vom Wind. Doch die Ziellosigkeit endet schnell - meine Aufmerksamkeit wird erregt: Ich höre Singen und eine Sas, eine türkische Laute, auch eine Flöte. Woher die Musik kommt, kann ich ungefähr ausmachen. Die Stadt hat für mich entschieden, dass ich mich nicht länger treiben lassen soll, sondern dass sie mich zu einem Ziel führen wird. Ich muss dem Ziel nahe sein, denn auch meine Nase bekommt ihren Reiz. Es riecht nach gebratenem Fisch. Ich gehe um ein Haus herum und habe auf einmal freie Sicht auf den Hafen in Karaköy. 

    Am Kai liegen Fischerboote, auf denen die Fischer ihren Fang mundgerecht zubereiten. Ihre Pfannen sind groß genug für reichlich Hungrige, die am Kai auf frische Fischbrötchen warten. Unterhalten werden sie von jungen Männern, die sich in einem Halbkreis an die Hände fassen und gemeinsam bestimmte Schrittfolgen vor, zurück und zur Seite machen, geleitet vom Spiel eines Trios. Die Stadt gibt mir zu verstehen, dass ich mir ein Brötchen holen soll. Das tue ich folgsam. Dass ich mich auf eine Steintreppe setzen und die Makrele in einem Weißbrot mit grünem Salat und Zwiebel genießen soll und dass ich mir dabei Tanz und Musik gefallen lasse, dass ich verstehe: So ist Istanbul! Vergnügt. Ausgelassen. Voller Lebensfreude. Andere Männer und auch zwei Frauen reihen sich in die Riege ein, tanzen mit und lachen mit. Die Tänze sind offenbar Tradition – jeder kennt sie von klein auf. Wie schade, dass Deutsche nicht mehr singen, nicht mehr tanzen, eigentlich nur immer und überall essen und trinken. Zu gerne würde ich mich auch einreihen. Die Tänzer machen eine Pause. Sie setzen sich auf die Stufen und überlassen den Musikern die Bühne. Die langhalsige Sas und die Ney Flöte wechseln plötzlich die Stimmung zu Moll. Zu gerne wüsste ich, was der Sänger erzählt. Geht es um Liebeskummer, um Stress mit der Familie, um Not und Tod? In Europa kennen wir nur ganze und halbe Töne, arabisch-türkischer Gesang mit seinen schnellen Folgen von Viertel-Tönen erscheint uns wie Jammern oder Flehen. Keiner der Tänzer lacht mehr. Komisch! Was ist los mit euch? Jemand muss mir das erklären. Die Stadt ruft meinen Namen und teilt mir mit, dass es weitergeht. 

    Istanbul-Blues: Tränen fallen in den   Bosporus

    Karaköy, das frühere Galata, liegt im modernen Bezirk Beyoglu. Hier lebten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Italiener, Griechen, Armenier, Juden und gaben Istanbul seinen weltoffenen Charakter, Franzosen nannten Galata ihr „Paris des Orients". Ihr Geld steckten die Bewohner in edle mehrstöckige Wohnhäuser im verspielten europäischen Jugendstil – hier ein Erker, dort ein Türmchen und lieber eine Ziersäule an der Fassade zu viel als eine zu wenig. Ich folge einer steilen, engen, kurvigen Straße mit Kopfsteinpflaster bis zum Galataturm, einem Wachturm der Genueser - auffällig viele Geschäfte für Musikinstrumente befinden sich hier. Die Klappstühle an der Turmmauer sind bei Touristen heiß begehrt, der Turm wird täglich Zeuge aller großen Sprachen der Welt. Zentrum Beyoglus ist die Istiklal Caddesi, die Grand Rue im Ausländerviertel Pera, tagsüber lädt sie zum Einkaufen ein, nachts dröhnen Beat- und Hip-Hop-Rhythmen aus den Clubs nach draußen. Autos und Kopftücher sind in dieser Straße verboten, eine historische rote Straßenbahn bestaunen, und Chillen mit Wasserpfeife ist Pflicht. 

    Der Taksim Platz am Ende der Straße gibt Menschen der Gruppe „U 30 mit beginnendem Sonnenuntergang die Gelegenheit, herumzustehen und auf irgendetwas zu warten. Der Platz wirkt auf mich nicht anziehend, er ist nur groß und kreist um ein einsames Heldendenkmal, eigentlich steht er dem unablässig fließenden Verkehr im Weg, der muss ihn umkurven. Eine Galerie bewirbt eine Ausstellung des österreichischen Künstlers Eduard Angeli mit einem Titel, der mich gleich anspricht: „Melancholie. Die Räume beschränken sich auf weiße Wände, weiße Decken und einen grauen Fußboden, manche sind abgedunkelt, und bieten den schwarz-weißen Bildern des Wiener Zeichners ein angemessenes Ambiente. Sein Lieblingsthema muss „Geisterstadt sein – er verzichtet in seinen Werken auf Menschen. Wer wollte auch schon in dunklen Gassen ohne jedes Grün leben, in denen der Putz von dunkel ergrauten Hauswänden abbröckelt und Fensterläden verschlossen sind – für immer verschlossen, weil dort niemand mehr lebt oder nur nachts herauskommt. Angeli zeichnet mit Kohle, mit „armem Material – so arm und ausgelaugt wirken auch seine Stadtansichten. Ein gar nicht künstlerisch wirkender Herr im blauen westlichen Sakko und weißem Oberhemd, das silberne Haare trennt ein exakter Scheitel, fragt mich nach meinen Eindrücken. Er gibt sich als ein Mitarbeiter des Galeristen zu erkennen, der die Werke Angelis nach Istanbul geholt hat.

    „Die Stadt hat wohl mal bessere Zeiten erlebt", beziehe ich mich auf die Motive des Zeichners. Der Kunstverständige nimmt meine Bemerkung zum Anlass, den Künstler zu beschreiben: 

    „Agneli stammt aus Wien, einer ehemals mächtigen Welt- und Kaiserstadt. Heute assoziiert man mit Wien Cafés und Sacher Torte – was für ein Abstieg. Auch Istanbul und die heutige Türkei sind nur noch das Überbleibsel eines großen Reiches, Istanbul war bis 1918 die Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Wiener betrauern ihren Verlust genauso wie wir. Wir nennen die Melancholie `hüsün`, sie begleitet uns durchs Leben und drückt sich auf vielfache Weise aus." 

    „Wann taucht hüsün auf? Zum Beispiel, wenn junge Leute tanzen, und auf einmal wechselt die Stimmung der Musik auf Moll?"

    „Auf einmal ist sie da. Beim Tanzen, in der Kneipe beim Raki, bei der Hochzeit, wenn alle Frauen traurig werden, weil die Braut das elterliche Haus verlässt, wenn Freunde zusammensitzen und auf einmal die Kürze oder Schwere des Lebens beklagen: `Das Leben ist doch beschissen`".

    „Gibt es spezielle hüsün-Musik?"

    „Die gibt es – den Istanbul-Blues. Dann singt eine Sängerin `Ich lasse meine Tränen in den Bosporus fallen`. Der Anlass für die Tränen ist eigentlich egal – man ist eben traurig."

    „Dann macht das Leben ja keinen Spaß."

    „Oh doch, gerade dann. Wir lieben die Melancholie. Wir spüren uns dann intensiv. Wir sind gerne zusammen traurig – nicht jeder für sich. Genauso schnell wie hüsün gekommen ist, geht sie wieder. Und dann lachen wir und freuen uns unseres Lebens." 

    „Würden die jungen Istanbuler sagen, dass sie glücklich sind?"

    „Nein. Sie sind hin- und hergerissen zwischen ihrer Bewunderung für das Westliche und für Reformer Atatürk, der sich eine moderne Türkei vorstellte: ohne Religion, ohne Traditionen, auch ohne Wasserpfeife – das alles schien ihm rückständig, und der alten Kultur mit dem islamischen Glauben, der Bindung an die Familie, der Verherrlichung des Türkentums. Sie wollen modern sein, Frauen treffen, Sex vor der Ehe, wollen sich vor dem Wehrdienst drücken und fragen sich immerzu: Darf ich das und ist das gut für mich – oder nicht?" 

    „Kennen Istanbuler Stolz auf ihre Stadt?"

    „Stolz, ja: Istanbuls Zentrum ist schön. Aber gucke dir zum Beispiel ganz in der Nähe Tarlabasi an. Darauf kann man nicht stolz sein. Guck dir das an – aber nicht nachts."

    Mehmet verstehe ich jetzt besser. Vordergründig stammt seine zeitweise Traurigkeit aus dem Verlust der Heimat, hintergründig aus dem Verlust der Würde seines Landes. Istanbul, „der kranke Mann am Bosporus, konnte ihm und anderen in der Familie in den 1950er Jahren keine Arbeit anbieten, man war arm. Galata war reich. Dort lebten die gut gebildeten, beruflich erfolgreichen Ausländer. Mehmet durfte in der Istiklal nur zu Gast sein, kaufen konnte er dort nichts und eine Wohnung konnte er dort nicht anmieten. Er, der Osmane, war zu arm – was für eine Schande! Als 1953 der 500. Jahrestag der Eroberung Konstantinopels in Istanbul gefeiert wurde, liefen viele Mehmets durch Galata und schrien die Griechen an: „Sprecht gefälligst Türkisch! Dann zertrümmerten die Wütenden die Fensterscheiben der Geschäfte und plünderten sie. Die Armen meinten, ihre türkische Würde entdeckt zu haben und nahmen sich einfach das Recht, Griechen, die sich ihnen in den Weg stellten, tot zu prügeln. Die Polizei griff nicht ein. Viele Griechen verließen fluchtartig die Stadt und gaben ihre Häuser auf. Ihre Flucht lockte Landflüchtige aus Anatolien an. Besitzlose, ungebildete Bauern strömten nach Istanbul und besetzten die leeren Häuser oder bauten sich über Nacht mitten in der Stadt eine Baracke (Gecekondu). Ein Gewohnheitsrecht aus osmanischer Zeit besagte, wer einmal ein Haus auf freiem Grund gebaut hat, darf nicht vertrieben werden. Die „schwarzen Türken vom Land, wie die Gebildeten sie nannten, blieben, sie „anatolisierten die mondäne Stadt – ein Unglück für das liberale, westlich- orientierte Bürgertum. Kopftücher, Gebetsketten und Verbotsschilder (haram!) füllten nun die Straßen – die „Barbaren" fluteten die religionsfreien Räume mit einem konservativen Islam. 

    Hinter dem Taksimplatz beginnt der Stadtteil Tarlabasi. Auf dem Tarlabasi Bulvari kaufe ich mir einen Sesamkringel und schlendere zwischen Türken die Straße mit Geschäften und Reklameschildern entlang. In einer Nebenstraße sehe ich über die Straße gespannte volle Wäscheleinen, zwischen all den Hosen und Hemden, Unterwäsche und Handtüchern ist für weitere Stücke kein Platz mehr frei geblieben. Die Stadt ruft mich in die Halepli-Bekir hinein – in eine andere Welt. Eine Welt, in der der Asphalt brüchig, löchrig und uneben ist. In der Hunde herumstreunen. In der Haustüren und Fenster von Ruinen zugemauert wurden. In der Steinschutt und Müll herumliegen. Ein Mann in schmutziger Kleidung schleppt einen großen Sack Plastikmüll. Kinder spielen vergnügt Fußball mit einem platten Ball. Ich falle einem Schwarzen auf, er kommt auf mich zu, verwickelt mich in eine lockere Unterhaltung und bietet mir bald an, mich in einen Club mit gutem Stoff zu bringen. Ich danke und gehe weiter. Es wird dunkel. In der Nacht will ich mich hier nicht herumtreiben. 

    In Tarlabasi werden Baustellen hochgezogen und Bagger rücken Tag für Tag an. Die Zeit der Gecekondus läuft ab. Schluss mit dem Jammer! Als das Großreich Ende des 19. Jahrhunderts durch Aufstände an der Peripherie politisch immer instabiler wurde, erlaubten sich Russen und Engländer, Sultan Abdülmecid I. als „kranken Mann vom Bosporus" zu bezeichnen und weiteten ihren Spott sogar auf das ganze Osmanische Reich aus. Sie sahen sein Ende kommen – und lagen richtig: Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Besetzung durch italienische, französische und griechische Truppen verblieb den Türken nur noch ein Reststaat. Sie kompensierten ihre imperiale Depression mit aggressiver Selbstüberhöhung. Die kulturelle Vielfalt und Toleranz des Osmanischen Reiches, Juden flüchteten aus Europa in die Arme des Sultans, strichen sie aus den Geschichtsbüchern. Tarlabasi soll glänzen – wie die Istiklal, Sultanahmet, Eminönü und Karaköy.

    Von Talarbasi aus liegt mein Hotel Manzara nur einen kurzen Fußmarsch entfernt. Die Stadt macht mir unmissverständlich klar, was ich jetzt zu tun habe: was Istanbuler lieben – manzara. Der richtige Ort dafür ist die Dachterrasse, die richtige Zeit der Abend, wenn das Tagewerk vollbracht ist und der Städter sich nun endlich alle

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