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Meine Reise von Jena nach Jerusalem - aus Gold ..?: Reportage - Tagebuch  - Reflexionen
Meine Reise von Jena nach Jerusalem - aus Gold ..?: Reportage - Tagebuch  - Reflexionen
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eBook735 Seiten10 Stunden

Meine Reise von Jena nach Jerusalem - aus Gold ..?: Reportage - Tagebuch - Reflexionen

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Über dieses E-Book

Es gibt so viele Berichte, Analysen und Dokumentationen über Israel, den Holocaust und natürlich den aktuellen Nahostkonflikt, dass wir uns manchmal ratlos fragen, wo man anfangen oder fortfahren soll, sich zu informieren. Hinzu kommt, dass der ganze Wissenskomplex nicht einfach zu bewältigen ist und wir uns ihm entweder mit einer gewissen Scheu oder auch Müdigkeit nähern - schon wieder der Nahe Osten...
Mich bewegen ähnliche, oft auch ambivalente Gefühle, und daher (oder dennoch!) hoffe ich, dass meine persönlichen Erlebnisse und Eindrücke von Israel, diesem spannenden, schwierigen Land, mitteilenswert sind. Es ist mein Ziel, ein farbiges, wenn auch nicht immer harmonisches Bild von dem Heiligen Land und ihren Menschen zu skizzieren, Menschen, die sich durch eine beeindruckende Lebensfreude, Herzlichkeit und Humor auszeichnen.
Die eingeflochtenen Reflexionen über aktuelle Politik, Geschichte und Religion vermitteln dem Leser vielleicht etwas von der "geistigen Akrobatik", die jedem in Israel lebenden Menschen täglich abverlangt wird, nicht so sehr, um physisch, sondern eher um seelisch heil zu überleben. Es versteht sich von selbst, dass meine Rolle als Deutsche dabei stets mitspielt. Zudem spiegeln die von mir eine Dekade später eingestreuten Kommentare innere und äußere Wandlungen wider - wie hat sich mein Blickwinkel, wie hat sich Israel verändert?
Schließlich werden in einem Anhang Zeitdokumente und Artikel präsentiert, die einen objektiven Informationshintergrund bzw. ein divergierendes Meinungsspektrum zu meinen persönlichen Aufzeichnungen liefern.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. März 2014
ISBN9783849577797
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    Buchvorschau

    Meine Reise von Jena nach Jerusalem - aus Gold ..? - Heidrun Weidemann

    Nach einem Kongress in Jerusalem im September 1999 hatte ich ersten schriftlichen Kontakt mit David Lichtstein, Vorsitzender des Institute of Medical Sciences der Hebräischen Universität Jerusalem, aufgenommen. Im März 2000 reiste ich nach Israel, um mit ihm die Chancen und Inhalte eines gemeinsamen Forschungsprojektes in einem persönlichen Gespräch zu klären. Auf dem Rückflug, ein halbes Jahr vor meiner eigentlichen „Reise nach Jerusalem", versuchte ich, mit einer gedanklichen Umarmung von einem Land Abschied zu nehmen, das mich so freundlich empfangen hatte und mir dennoch so fremd geblieben ist, von הארץ Ha Aretz*, Israel.

    Die menschlichen Begegnungen waren das Wichtigste für mich gewesen und daher ließ ich jetzt noch einmal die verschiedenen Begegnungen und Gesichter an mir vorüberziehen – z. B. die ernsten Gesichter der ultraorthodoxen Juden in מאה שערים Mea Shearim*, dem ghettoähnlichen orthodoxen Viertel in Jerusalem. Diese streng-gläubigen Juden nennen sich selbst חרדים Haredim (die Gottesfürchtigen). Sie machten auf mich einen seltsam altehrwürdigen Eindruck, unabhängig von ihrem oft undefinierbaren biologischen Alter, das nicht in die normale Zeitrechnung zu passen schien. Wenn sie geradlinig über die Straßen hasteten, schwarz kostümiert in ihren langen, schweren Mänteln und „Zauberhüten", wirkten diese orthodoxen Juden wie Darsteller in einem Film: Schauspieler, die eine alte Bedeutung in oder über sich hinaus trugen - für wen? Manchmal glaubte ich, ein leises Lächeln um ihre Lippen spielen zu sehen und wache, neugierige Blicke in unsere Gegenwart. Auch in die Zukunft? Ich war mir nicht sicher, ob Zukunft für die ultraorthodoxen Juden existiert bzw. welche Bedeutung sie für sie hat.

    Seit langem fasziniert mich der Gedanke, dass zumindest im alten Judentum keine Zeit im objektiven und chronologischen Sinn existiert. In dem Artikel eines amerikanischen Psychiaters ist zu lesen: „Periodicity, recurrence of phases, a pulse or rhythm: This is the fundamental characteristic of Hebrew time." [1]

    Zeit (זמן zman wurde in rabbinischen Schriften nur im Sinne von „Punkten in der Zeit verstanden, d.h. „Zeitpunkte, die nicht in einer eindeutigen Richtung miteinander verknüpft sind. Jeder dieser Zeitpunkte korreliert mit einem Ereignis, wird durch dieses Ereignis gefüllt bzw. erschaffen. Und erst, wenn ein Individuum eines dieser Ereignisse erlebt und beschreibt, wird ein „Augenblick in der Gegenwart definiert. Zitat: „It is the content of time as it affects such an involved observer that constitutes time as we know it subjectively. [1]

    Zeit existiert nur als bzw. durch eine subjektive Erfahrung. Erinnert dieses Konzept nicht an die moderne Physik, wo auch erst durch den Prozess der Beobachtung, der Teilhabe an einem Ereignis, subjektiv erfahrbare Wirklichkeit in einem Raum-Zeit-Kontinuum kreiert wird? Hier wäre ein Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Quantenphysiker aufschlussreich. Tatsächlich findet ein derartiger Gedankenaustausch statt, z. B. in dem Artikel: „The Role of the Observer in Halakhah and Quantum Physics" von Dr. A. Rabinowitz and Prof. H. Branover. [2]

    Zurück nach Jerusalem. Beim Gedanken an die Vielfalt gläubiger Juden, denen man auf den Straßen von Jerusalem begegnete, musste ich unwillkürlich lächeln - ihnen gemeinsam war das Tragen einer Kippa. Die כיפה Kippa*, Ausdruck der Ehrfurcht vor Gott, mochte gewissenhaft mit einer kleinen, wichtigen Nadel auf dem Kopf befestigt sein - das männliche Wesen darunter war unverkennbar ein Individuum: mal lässig-schlampig, mal männlich-markant (Typ: „Macho mediterrané) oder, in Israel eher selten, gepflegt-elegant. Manchmal schien die Kippa eine wahrhaft königliche Eigenexistenz zu führen; während sie wie selbstverständlich und für alle Ewigkeit auf dem ihr bestimmten Platz thronte, lief „Mann ruhelos durch die Straßen von Jerusalem, hörte Walkman, hupte als Busfahrer, stritt sich mit dem Gemüsehändler, trug als Banker eine hypermoderne Sonnenbrille oder versuchte, als kleiner Junge, am Shabbatabend mit Gebetbuch unter dem Arm über einen Pfosten Bocksprung zu machen … Durch das Hüpfen und einen Windstoß segelte die Kippa zu Boden. Unvermittelt sammelte der kleine Junge seine Kippa aus schwarzem Samt auf und setzte sie sorgfältig wieder auf den Kopf – wahrhaft ein Teil seines Selbst? Oder die Krönung seines Selbst? Den Jungen beobachtete ich während meines ersten Shabbatabends an der Klagemauer, der neben einer ungewohnten rituellen Monotonie der Gebete auch einen sehr familiären Charakter hatte. Offenbar vertrieb sich der Junge die Langeweile, während sich seine Eltern in einiger Entfernung von der Mauer mit Freunden unterhielten.

    Unerwartet und somit unvorbereitet machte ich an diesem Abend eine symbolische Erfahrung der Geradlinigkeit und Unbeirrbarkeit, die einzelne gläubige Juden auszeichnet. Ich hatte mich auf die Treppe zum Vorplatz der Klagemauer, nahe an das Geländer, gesetzt, um von dieser Höhe einen guten Überblick zu haben und nicht aus Versehen bei den Feierlichkeiten einem Juden zu nahe zu treten, physisch und ideell. Von der Klagemauer her kam mir ein uralt wirkender Mann langsam entgegen, jeder Schritt schien ihn enorm viel Kraft zu kosten. Bisher hatte ich meinen Platz bewahrt, in der Annahme, jeder, der die Treppe hochgehe, könne einen kleinen Bogen um mich herum machen. Beim Anblick des alten Mannes, eine ehrwürdige Gestalt mit langem, weißen Bart, zuckte ich unwillkürlich zusammen und stand auf: Diesem Menschen musste ich unbedingt das ganze Geländer überlassen, ihm durfte ich keinen Millimeter Umweg, noch dazu ohne Geländer, zumuten.

    Für ihn gab es nur diesen einen Weg, entlang am Geländer. Spielte der unbewusste Wunsch mit, keinem Juden im Weg zu stehen und keinen jüdischen Mitmenschen mehr der Schutz- und Haltlosigkeit zu überlassen? Wahrscheinlich? Vielleicht. Es lag eine hohe Autorität, etwas Absolutes in dieser menschlichen Begegnung, die mir Respekt und beinahe Angst einjagte.

    Kurz bevor ich den Platz der Klagemauer an diesem Abend verließ, prägte sich mir ein Anblick tief ein: Der kleine Junge lief schnell auf seine weiter vorn stehenden Eltern zu. Im Dunkeln sah ich nur seinen Rücken im weißen Hemd und seine sich emsig bewegenden Füße. Hatte ich dieses Bild heute nicht schon einmal gesehen?

    Es war in יד ושם Yad Vashem*, der Holocaustgedenkstätte im Süden von Jerusalem, wo ich mir die Ausstellung über Kinder im und nach dem Holocaust angeschaut hatte „No Child’s Play: Children in the Holocaust - Creativity and Play". Die Ausstellung versuchte zu vermitteln, wie jüdische Kinder sich unter den unerträglichen Bedingungen eines KZ-Lagers durch ihre Kraft des Spielens, Malens und Träumens manchmal ein Stück ihrer Kindheit, ja, ihres Lebens bewahren konnten. Die von Kinderhand gemalten Bilder sprachen für sich. Eines hatte mich besonders berührt: Ein Engel wacht oder wartet an einem Tor, das zur Hälfte geöffnet ist. Das große, gusseiserne Tor wirkte ambivalent, war es ein Tor zum Himmel oder zur Hölle?! Wachte oder wartete dort der Schutz- oder Todesengel des Kindes? Meine Traurigkeit wuchs, als mir bewusst wurde, dass mein hilfloser, vergeblicher Impuls, dieses Kind trösten zu wollen, immer zu spät sein würde.

    Und dann dieses Foto! Das Schwarz-Weiß-Foto, auf dem ein kleiner Junge im weißen Hemd einsam einer ungewissen Zukunft entgegenläuft; wahrscheinlich waren beide Eltern in einem Konzentrationslager ermordet worden. Dennoch lief er der Zukunft unverdrossen entgegen, oder wollte er vor der ihn einholenden Vergangenheit davonlaufen? Mir kam hier, in Yad Vashem, zum ersten Mal klar in den Sinn, wie stark die jüdische Mentalität, die jüdische Seele, von dieser ungeheuren Dynamik geprägt sein muss: Oft, zu oft gab es für jüdische Menschen in ihrer langen Geschichte weder ein hoffnungsvolles Wohin noch ein beruhigendes Woher. Hier ein Auszug aus der Geschichte eines Holocaustüberlebenden:

    My Bear and Me – A Dual Experience by Fred Lessing

    „My little Bear was my only possession and friend during the terrorfilled years of my early childhood in Holland. … I speak about the miracle and preciousness of childhood, and I celebrate the innocence, the intelligence and the vitality of children. Mostly, I tell my story, as honestly as I can. And who helps me the most? It is my Bear. For when I hold him in my hands, I am once again 6 years old and I feel the submerged terror and … I remember." [3]

    Beginn der Reise nach Jerusalem

    Samstag, 21.10.2000

    Nun war es soweit: Ein halbes Jahr nach meiner ersten Vorstellung in Israel, im März 2000, stand der Aufbruch in dieses faszinierende Land unmittelbar bevor. Monate hoffnungsvoller Erwartung und nüchterner Enttäuschung lagen hinter mir: Auf politischer Ebene war im Mai Camp David gescheitert, auf persönlicher Ebene ein Minervastipendium abgelehnt worden. Daher kam es mir wie ein Wunder vor, d.h. wie ein außerhalb von Logik und menschlicher Vernunft stattfindendes Ereignis: Die Hebräische Universität Jerusalem hatte mir ein Postdoc-Stipendium gewährt! Endlich konnte ich aufbrechen - in das Land, das außerhalb jeder Logik liegt, und manchmal fern jeglicher Vernunft.

    Der letzte Tag in Jena wird mir als Vorbereitung auf meine Reise nach Jerusalem immer in Erinnerung bleiben, als ein Erlebnis, wie lange sich der Aufbruch zu neuen Ufern hinziehen und gestalten kann. Es gab noch viel zu erledigen, u.a. schien der Erwerb eines Handys lebensnotwendig, eine Vermutung, die sich zwei Wochen später bestätigen sollte.

    Ein besonderes Anliegen war mir, einen schönen Blumenstrauß für Ben S. zu finden, für die letzte Ruhestatt dieses knapp 20-jährigen krebskranken Mannes, den ich vor einem Jahr an der Uniklinik Jena begleitet hatte, auf dem schwierigen Weg in den Tod. Hatte ich mich nicht tatsächlich öfter an das Leben von Ben geklammert als er sich selbst? Er blickte seiner Krankheit so gelassen in die Augen. Ja, und jetzt wollte ich Ben in Gedanken, morgen, vor Beginn meiner Reise nach Jerusalem, an seinem Grab besuchen. Ich wollte ihn fragen, ob die Reise Sinn bringt, eine Reise zu einer der verheißungsvollsten und zugleich gefährlichsten Stätten unserer Zeit, mit welchem Ziel? Um Krebsforschung zu betreiben? Ausgerechnet an einem Ort, wo Leben und Tod heute greifbar nah zusammenliegen, ähnlich, wie bei der Krebserkrankung, die Ben durchlitten hat? Aber entsteht nicht gerade aus dieser unerträglichen Ambivalenz das große Dennoch, aus dem sowohl für krebskranke Menschen als auch die Menschen im Nahen Osten ein starker Wille und eine tiefe Liebe zum Leben wächst? Ben hat diese Haltung in unvergesslicher Klarheit vorgelebt und, am Ende seines jungen Lebens, vorgestorben.

    Zurück zu den Blumen: Was ist ein „schöner Blumenstrauß" für einen Toten, der eine andere Wirklichkeit mit anderen Augen erblickt? Diese Frage ließ mich im Blumenladen nicht los, als ich versuchte, Farben und Formen einzelner Blumen zu finden, die dem Wesen von Ben entsprachen. Zum Schluss hatte ich tatsächlich einen schönen Strauß, da er in meinen Augen besondere Eigenschaften von Ben S. widerspiegelte: blaue Lilien, die sein gerades Wesen ausdrückten, gelbe Astern, die seinem sonnigen Gemüt entsprachen (das Strahlen in seinen Augen war wirklich sonnig!) und weiße Rosen, die seine gute Seele ehrten.

    Abends ging ich zu einem Abschiedskonzert in die Stadtkirche Jena, es wurde „Ein Deutsches Requiem" von Johannes Brahms aufgeführt. Ich war froh, allein zu sein an diesem Abend, beim Hören dieses Chorwerkes. Waren es meine überspannten Nerven oder war die Kirche von einer unwirklichen Feierlichkeit beim Ertönen der ersten Klänge erfüllt? Ich stellte erschüttert fest, was für eine tiefe Wirkung „Das Deutsche Requiem" immer wieder, und besonders heute, in mir auslöste. Vielleicht war dieses Chorwerk eine Art Wegbegleiter, der an jedem Wendepunkt in meinem Leben auftauchte? Vor gut fünfzehn Jahren, ich wirkte als Studentin im Hamburger Unichor bei einer Aufführung im Michel mit, bin ich einem sympathischen Menschen, einem jungen Arzt, der im Uniorchester mitspielte, vergegnet (Wortschöpfung von Martin Buber). Welche Be- oder Vergegnungen mochten jetzt auf mich warten? Ein nicht nur hoffnungsvoller Gedanke …

    Sonntag, 22.10.2000

    Ein schöner, heller Sonntagmorgen – vor allem die klare Herbstluft blieb mir deutlich in Erinnerung. Ich begab mich auf meinen letzten Spaziergang in Jena, zu Bärbel und Peter, lieben Freunden, die ich erst vor kurzem kennengelernt hatte, auf der Suche nach einer Bleibe für mein Klavier, das ich nicht in einem Lager unterstellen wollte. Beide sind engagierte Psychologen an der Uni Jena und haben zwei liebenswerte, bisweilen wilde Töchter, Lotte (2) und Marlene (4).

    Die sorgfältig vorbereitete Reise nach Jerusalem sollte in meinem neuen Auto, einem eisblauen Mazda Demio, stattfinden, das ich bis zum letzten Zentimeter vollgepackt hatte: Kleidung, Bettzeug, Fotos, Bücher, Musikanlage, meine komplette CD-Sammlung und … mein E-Piano, das gerade eben auf den Rücksitz passte! Die Ruhe und Heiterkeit der Freunde milderten meine Abschiedsstimmung.

    Es gab ein idyllisches Sonntagsfrühstück, duftende Brötchen und Kaffee – im Hintergrund spielte eine CD leichte Jazzmusik … Zum unvermeidbaren Gesprächsthema wurde meine Expedition nach Israel, u.a. brachte Peter den halb ironisch, halb ernst gemeinten Gedanken der „Kumulation von Gefahren" in die Runde ein:

    1. Passage der Alpenpässe, nach der Überschwemmung in Norditalien, ohne im Schlamm steckenzubleiben,

    2. Passage des Autoliebhaberlandes Italien, ohne das eigene Auto zu verlieren,

    3. Passage der stürmischen Ägäis mit einer griechischen Fähre, ohne unterzugehen und, last but not least,

    4. Passage des Heiligen Landes bis Jerusalem, ohne Bekanntschaft mit einer Bombe zu machen …

    Wir berieten ernsthaft die Vor- und Nachteile, die das Tragen eines Palästinensertuches hervorrufen könnte: Die Kunst bestehe darin, es im richtigen Moment und am richtigen Ort um- bzw. wieder ab(!)zubinden. Das alles klang so fantastisch, dass mir selbst bei der Vorstellung aller genannten Katastrophen nicht schlecht wurde. Es beruhigte mich, dass die anderen Gesprächsteilnehmer herzlich lachten – somit bestand Hoffnung auf ein Gelingen meines Abenteuers? Zum Abschied und zur Einstimmung auf Israel schenkten mir Bärbel und Peter eine CD mit Klezmer-Musik. Es war eine nette Geste und ich bedankte mich mit den Worten: „Ich werde die CD dann während der ersten Autofahrt in Israel hören …"

    Relativ spät kehrte ich heute in die Beethovenstraße zurück, wo ich die letzten Tage vor meinem Aufbruch bei Liv und Stefan gewohnt hatte. Diese unkonventionellen, herzlichen Freunde, beide Ärzte, waren einige der wenigen Menschen, die meine ungewöhnliche Reise an diesen ungewöhnlichen Ort, Jerusalem, enthusiastisch mittrugen. Es waren noch letzte Handgriffe zu erledigen, die naturgemäß kein Ende nehmen und einem seltsam klar im Gedächtnis bleiben, vielleicht gerade aufgrund ihrer Banalität? Wäsche aus der Maschine holen, Kaffeetassen abwaschen, Dinge an ihren Platz räumen …

    Meine letzte Amtshandlung war das Telefonat mit N., einem netten, Ende 20-jährigen Krankenpfleger aus der Hämatologie, seit einer Woche stolzer Vater seines ersten Sohnes. Durch die Telefonleitung merkte ich, wie N. sich verändert hatte: Er war ganz von dem Wunder der Existenz seines Kindes absorbiert. Leider konnte ich leisen Neid nicht unterdrücken und mir wurde die Relativität meines dramatisch inszenierten „endgültigen Abschieds" bewusst.

    Beim Schließen des Garagentors, es war später Mittag, blieb die Zeit kurz stehen. Es war das Schließen meines 1993 begonnenen Lebenskapitels in Jena, es führte kein Weg daran vorbei – oder eher, zurück. Als ich dann in meinem voll beladenen Mazda das Kopfsteinpflaster der Beethovenstraße hinunter schaukelte, hatte ich für einen kurzen Moment dieses „Filmgefühl, das u.U. typisch für extreme Situationen ist: Du beobachtest dich selbst, stehst neben dir, zugleich bist du aber auch durch hochgradige Konzentration vollständig auf dich begrenzt, in dir gefangen. Ich versuchte, mich zu beruhigen: „Zunächst fährst du nur zum Kaffeetrinken nach Blankenberg … Es folgte ein letztes Aufsuchen meiner Tankstelle, Ecke Talstraße, wo ich gewissenhaft meinen Reifendruck kontrollierte, und es ging los: in Richtung Israel!

    Als ich durch die mir vertraute Gegend Jenas fuhr, bemühte ich mich, keine Sentimentalität aufkommen zu lassen. Die Strecke nach Blankenberg führte durch einsame, bunt leuchtende Wälder des Vogtlandes, es war tatsächlich wie ein spätsommerlicher Ausflug …

    Leider traf ich mit über einer Stunde Verspätung in Blankenberg ein. Bens Eltern empfingen mich herzlich, und bewunderten meinen blinkenden Mazda. Beim Eintreten in die Wohnung erwartete ich sekundenlang, Ben zu sehen. Tod bedeutete die totale Abwesenheit eines Menschen, dies wurde mir jetzt schmerzhaft bewusst. Wie habe ich Ben gern gehabt! Zunächst herrschte Schweigen, dann fielen erste vorsichtige Worte über Ben: An seinem Fenster stehend, hat er einmal gesagt: „Wenn ich sterben muss, will ich neben Großvater in der Sonne liegen."

    Als die Eltern und ich am späten Nachmittag zu seinem Grab gingen, wurde es von mildem Sonnenlicht beschienen. Ich legte meinen Blumenstrauß nieder und fragte ihn im Stillen, ob ich mit dem eigenen Auto nach Israel fahren sollte … Die Antwort meinte ich klar zu hören und ich sah Ben vor mir, sein feines Lächeln im Gesicht: Ja! Der folgende Satz mag pathetisch klingen, aber ich möchte ihn hier, im Andenken an Ben S., dennoch äußern: Diesen Moment an seinem Grab, im herbstlichen Nachmittagslicht, werde ich nie vergessen.

    Anschließend machten wir einen Spaziergang durch den Ort und an die alte Grenze zu Bayern; dabei kamen wir an den alten Spielstätten von Ben vorbei. Noch heute erinnere ich mich an diesen quälenden Eindruck von Irrationalität und Sinnlosigkeit: Mauern, Stacheldrahtzäune und Grenzen fallen, doch wozu, wenn Menschen zu früh sterben?! Später zeigten mir Bens Eltern die letzten Videoaufnahmen von Ben: Sein Lachen, seine Zuversicht, die er im Dezember 1998 ausstrahlte, wirkten so lebendig! Selten habe ich derart tief empfunden, dass ein Film nur scheinbar, aber wirkungsvoll, Vergangenes wiederholen kann. Freude, Trauer und Verwirrung wechselten in mir ab. Zum Abschied gab mir Frau S. Fotos von Ben. Ich denke, sein Bild wird auch in meinem Herzen nicht verblassen.

    Auf der Weiterfahrt hörte ich Chopin und konnte zum ersten Mal heulen. Gegen 21 Uhr kam ich an Fulda vorbei und musste unwillkürlich an P. H. denken: Hier wohnte er, der Arzt, dem ich bei der gemeinsamen Brahmsaufführung be- und „vergegnet" bin. Warum nur müssen wir an wesentlichen Ereignissen in unserem Leben häufig vorbeifahren?

    Schließlich gelangte ich nach einer Irrfahrt in Dunkelheit und Nebel nach Eggenstein bei Karlsruhe. Meine zwei Jahre ältere Schwester H., Physikerin und Ärztin, wohnt hier seit sechs Jahren; ihr Mann, Chemiker, bekam damals eine Stelle am hiesigen Fraunhofer Institut. In Eggenstein verfuhr ich mich gründlich, rief meine Schwester an und sank gegen 2 Uhr morgens erschöpft in ihre Arme.

    Montag, 23.10.2000

    Nach der rastlosen Herfahrt folgten ein paar gemütliche Tage in Familie. Am meisten freute ich mich über die innige Beziehung zu F., meinem 2 1/2-jährigen Neffen! Blonder Wuschelkopf, blaue wache Augen …

    Ein unvergessliches Erlebnis in Eggenstein: F. und ich tanzten übermütig nach Klezmer-Musik. Mein kleiner Neffe tobte und sprang wild herum und immer, wenn ich die Arme hob, streckte er sie auch, schwupps, in die Höhe …

    Die Nachmittagssonne schien auf sein lachendes Gesicht und ich dachte leicht wehmütig: „Wann und wo können wir wieder nach Klezmer-Musik tanzen?" Eher in Deutschland oder Israel?

    Mittwoch, 25.10.2000

    Nachmittags erwartete mich ein traumatisches Ereignis. Als ich bei Suzi W. in Haifa anrief, um von meinem Kommen zu berichten und mich v.a. nach dem aktuellen Risiko der Situation zu erkundigen, reagierte sie kurz und abweisend. Fassungslos legte ich den Hörer auf. Mein kleiner Neffe, der neben mir stand, schaute mich mit großen Augen an, lief zu H. und sagte tief bestürzt: „Heidi traurig!" Er gab keine Ruhe, bis sie im Bilde war. So sehr mich diese Episode berührte, letztlich überwog das schlechte Gewissen, dass ich ein Kind durch mangelnde Beherrschung aus der Bahn geworfen hatte.

    Und was war mit Suzi W.? Gut erinnerte ich mich daran, dass ich diese über 80-jährige Frau, eine jüdische Grande Dame, damals im September 1999, sehr aufgeregt hatte, als ich sie nach dem Kongress in Jerusalem durch ein zeitliches Missverständnis zwölf Stunden warten ließ. Aber die Wogen hatten sich mit einem Scherz über den „IQ einer Ärztin" glätten lassen, das dachte ich zumindest. Doch jetzt gab Suzi W. eindeutig zu verstehen, dass sie keinen Kontakt mehr wünschte. Ich werde nie erfahren, warum.

    Nachdem ich bei Stuttgart noch etwas mit dem Auto erledigt hatte, überkam mich auf der Rückfahrt nach Eggenstein das Gefühl, dass es u. U. der letzte Abend in meiner nächsten Zukunft war, an dem ich nach Hause kam: Sentimentalität oder Hellsichtigkeit?! Bei meiner Schwester tagte der Hauskreis, ich setzte mich, leicht befangen, mit in die Runde. Als die Gruppe am Schluss für meine Israelreise betete, wurde mir vor Dankbarkeit warm ums Herz. Natürlich konnte ich nicht ahnen, wie dringend ich eine Woche später den Schutz vom Himmel benötigte!

    Donnerstag, 26.10.2000

    Er war nicht mehr aufzuschieben, der Abschied von meiner Familie. Beim Einsteigen in das Auto, am späten Vormittag, flossen Tränen – vor lauter Schreck vergaßen wir das Abschiedsfoto. Ich schenkte meinem kleinen Neffen einen Klammeraffen, ein kleines Maskottchen, an das er sich festklammerte. Sein Gesicht war von kindlicher Unschuld und ergreifender Traurigkeit gezeichnet, ein unvergesslicher Eindruck!

    Pünktlich zum Mittagessen gelangte ich nach Freiburg, Munzingen, zu Rolf und Catherine, meinem 50-jährigen Cousin und seiner Partnerin, einer Schweizerin aus Genf. Sie ist eine warme und ruhige Frau, Musikerin. Es tat gut, mit ihr zu sprechen. Vor meiner Weiterfahrt am frühen Nachmittag zeigte sie mir das Video ihrer ersten Gemeinschaftsproduktion über das Leben und Wirken der Clara von Assisi. Es schien mir wie eine Offenbarung: „Eine Frau geht unbeirrbar ihren Weg …"

    Es befielen mich Zweifel, ob ich jemals einen stimmigen Weg in meinem Leben finden werde. Hier fiel mir ein Zitat von Václav Havel ein, das auf realistische Weise ermutigt:

    Hoffnung ist eben nicht Optimismus, ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht."

    In der Altstadt von Basel, am späten Nachmittag, schien jeglicher Weg vorerst ein Ende zu haben – in einem Geflecht von engen Einbahnstraßen. Dank eines älteren, netten Ehepaars fand ich aus der Altstadt heraus. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hatte ich noch einige überwältigende Eindrücke vom Jura, bei der Fahrt durch raue, bewaldete Schluchten.

    Es war schon spät, als ich in Lausanne eintraf, meiner Wahlheimat vor zehn Jahren, als ich an der Uniklinik meine AiP-Zeit absolvierte. Ich stellte meinen Mazda zunächst auf dem Parkplatz der Klinik Cécile ab, um Annelise, meine ehemalige Vermieterin, jetzt Ende fünfzig, nicht noch länger warten zu lassen. Sie begrüßte mich mit überschwänglicher Herzlichkeit und trotz der veränderten Wohnung hatte ich das Gefühl, hier auch noch einmal zu Hause sein zu dürfen, im Chemin du Noirmont 17. Mein Schlaf war entsprechend friedlich.

    Freitag, 27.10.2000

    Annelise nahm sich den ganzen Morgen Zeit, um beim Touring-Club die Passierbarkeit der Alpenpässe zu erkunden. Ich spürte echte Besorgnis in dieser jugendlich wirkenden, sportlich-lebhaften Frau, deren dunkle Augen mal warm, mal unternehmungslustig funkelten. Wie lieb sie sich bemühte, zum Gelingen meiner Israelreise beizutragen! Wir waren beide erleichtert, als wir erfuhren, dass der Große St. Bernhard Pass schnee- und eisfrei war.

    Gegen 10 Uhr brach ich auf, heute noch einmal zu bekannten Ufern. Beschwingt ging ich durch den Park Valency, die Rue Echallens entlang, alles wirkte so vertraut: Waren wirklich schon zehn Jahre vergangen, seit ich am CHUV (der Uniklinik) arbeitete?

    Komisch, selbst über Kitsch, der ein Jahrzehnt überdauert hat, wie z.B. die Pferdestatuen im Park, freute ich mich – Kontinuität scheint das Menschenherz manchmal mehr zu beglücken als Qualität.

    Am Nachmittag wanderte ich zum Lac Leman, zunächst zum Touring-Club. Dort hatte man bereits eine exakte Streckenführung durch Italien ausgearbeitet. Dann war ich endlich an meinem geliebten Lac Leman, der mich bei jedem Besuch in Lausanne magisch anzieht. Ich glaube, es sind die wie eine Sinuswelle ausschwingenden Bergrücken auf der französischen Seite, die mich immer wieder in eine „oszillierende" Ruhe versetzen. Auf der Promenade von Vichy nach Ouchy herrschte noch sommerliche Betriebsamkeit.

    Ich setzte mich in ein Strandcafé mit herrlichem Blick auf den See, trank die zünftige Schweizer Schokolade, breitete meine Karten aus und begann meine erste Etappe zu planen. Die Gestaltung eines Weges, ja, buchstäblich darum ging es in den folgenden Tagen, Wochen und vielleicht Jahren? Plötzlich spürte ich ein ungewohntes Gefühl der Freiheit in mir – manchmal taucht ein neues Lebensgefühl so befremdend in uns auf, dass wir es verlegen in uns herumtragen, ratlos, wie und wozu wir es einsetzen können. Leider bleibt dieses Lebensgefühl in den meisten Situationen nicht bei uns, sondern streift uns nur wie eine kurze Heimsuchung …

    Abends saßen wir drei Frauenzimmer (Annelise, Sigrun und ich) wie in alten Zeiten bei Käsefondue und Wein zusammen. Sigrun ist eine Cousine, Ende fünfzig, aus der Fehmarner Mackeprang-Familie stammend, eine stattliche, humorvolle Frau, die vor zwanzig Jahren die Insel verließ, um an den Genfer See zu ziehen. Über Sigrun bekam ich damals mein Zimmer bei Annelise; die beiden sind gut befreundete Nachbarinnen. Die warme Atmosphäre des heutigen Abends hätte ich am liebsten eingepackt und mitgenommen, als seelischen Proviant. Denn jetzt war unabwendbar die Zeit des Abschieds von mir vertrauten Menschen gekommen. Die folgenden Abende würde ich in Ungewissheit verbringen – gewiss blieb nur, dass ich von nun an allein war. Kläglich spürte ich, dass ein „heroischer Aufbruch" auch ein trauriger Abschied sein kann.

    Samstag, 28.10.2000

    Annelise hatte rasch ein Frühstück improvisiert, bevor ich gegen 10 Uhr aufbrach, heute endgültig zu unbekannten Ufern. Annelise und Sigrun standen neben meinem Mazda, bewunderten ihn gebührend, entfernten fürsorglich die Lausanner Herbstblätter, die sich auf die Windschutzscheibe gelegt hatten und winkten mir lange hinterher. Nach einer unfreiwilligen Ehrenrunde fand ich den Weg zum See und durfte eine herrliche Strecke bei sonnigem Herbstwetter genießen. Rechts der in mildem Blau blinkende See, links die in goldrot grüßenden Weinberge.

    In Montreux geriet ich auf den engen Uferstraßen in lebhaften Samstagvormittagsverkehr; ich ließ mir Zeit, versuchte, nicht nervös zu werden, sondern lieber noch einen letzten Blick zurück auf Lausanne zu erhaschen.

    Durch das Rhône Delta ging es in Richtung Martigny, der St. Bernhard Pass war schon ausgeschildert, die innere Aufregung nahm zu. In Martigny sah ich ein Hinweisschild auf eine van Gogh-Sonderausstellung in der Foundation Pierre Gianadda. Gern hätte ich einen Abstecher gemacht, ich liebte diese interessant konstruierte Anlage mit dem Skulpturengarten, aber die Vernunft mahnte mich zum Weiterfahren. Belohnt wurde ich durch eine wunderschöne Anfahrt zum St. Bernhard Pass durch ein Meer von malerischen Herbstfarben. Vor dem Tunnel lag in der Tiefe ein grüntürkiser Gletschersee – Adieu, meine geliebte Schweiz! Die Fahrt durch den Tunnel war beinahe gemütlich, kein Eis, kein Schnee, und … keine Gebühr.

    Bei der Abfahrt kam ich durch idyllische Bergdörfer – Italien empfing mich mit einem milden Nachmittag. Gegen 14 Uhr machte ich eine erste Pause zum Tanken und Geldtausch. Auf einer Bank sitzend, tankte ich ein paar Sonnenstrahlen und atmete tief die frische Luft ein: Die erste Hürde war geschafft! Ich fühlte mich locker und erleichtert, fast wie im Skiurlaub. Doch das erste Problem ließ nicht lange auf sich warten: Die Autobahn war gesperrt, wegen der Hochwasserfolgen …

    Ich geriet auf die Umleitung, dann auf Abwege, in eine staubige Gegend, hielt schließlich in einem Dorf, auf einem Parkplatz. Eine Frau mit Schulkind lotste mich auf die richtige Autostrada. Zunächst war der Himmel noch klar, dann zog plötzlich Nebel auf, die hohen Berge wirkten hinter dem dichten Schleier bedrohlich wie Riesen, deren Größe man nicht abschätzen kann. Allmählich wurde die Landschaft, in Richtung Parma, immer gleichförmiger und flacher.

    Bei Dämmerung traf ich in Parma ein und stieß erneut auf eine helfende Seele, einen netten Tankwart, der mir den Weg zum Campingplatz in der Zitadelle zeigte. Inmitten der Zitadelle empfing mich im Dämmerlicht eine merkwürdige Stimmung: War die Zitadelle Gefängnis, Schutzburg, Heiligtum oder alles zusammen? Wie ich später nachlas, diente eine Zitadelle tatsächlich nicht nur als Rückzugsort der Garnison bei Angriff durch feindliche Truppen, sondern auch als Heiligtum. Beklemmung wechselte mit Erleichterung.

    Am Ende war ich froh, durch den Zaun des Campingplatzes und die Mauern der Zitadelle doppelt eingeschlossen, doppelt befriedet zu sein.

    Mit neuer Unternehmungslust machte ich mich auf den Weg in die Altstadt, fand eine nette Pizzeria, gönnte mir ein stilechtes italienisches Essen mit Rotwein, und als ich mein Handy stolz neben meinen Teller legte, war ich glücklich über den Verlauf meiner bisherigen Reise nach Jerusalem. Nach einem Telefonat mit Annelise folgte eine meiner Premieren: meine erste Nacht im Auto!

    Sonntag, 29.10.2000

    Morgens war Pfadfindergeist angesagt, um aus der alten, verwinkelten Stadt Parma herauszufinden. Das nächste Spinnennetz war Bologna; diese Großstadt wollte ich umfahren, aber der italienische Kreisverkehr enthielt einige Tücken …

    Schließlich rettete mich ein alter Herr an einer Tankstelle, der nobel wie ein echter Römer aussah und sprach. Seine Wegbeschreibung wurde somit zu einer philologischen Abhandlung.

    Die Strecke führte zunächst durch eine flache, Nebel verhangene Ebene, in der ich vereinzelt, wie ausgestreut, Schatten von alten Herrenhäusern wahrnahm, von hohen, schwarzen Pinien umgeben. Ich überlegte, ob ich mich gerade über ein klassisch italienisches Klischee freute …

    Gegen Mittag tauchten zunehmend die Umrisse des Appeningebirges (Umbrien) vor mir auf, mit Blick in enorme Schluchten und Täler. Die bewaldeten Bergrücken vermittelten einen sanften, edlen Eindruck, als ob die schroffe Wildheit der Natur durch das Grün abgedeckt würde. Bei meiner Mittagspause nahm ich einen Rundblick über die grandiose, ruhige Landschaft in mir auf und es meldete sich leise Trauer, dass ich nicht länger verweilen konnte.

    Doch von nun an fesselten wild-romantische Bergdörfer meine Aufmerksamkeit; einsam thronten sie auf spitzen Bergkuppen. Besonders eindrucksvoll blieb mir die Anfahrt nach Rengia in Erinnerung: Eine Basilika schimmerte hell aus der Ferne, als wolle sie einem ewigen Frieden verheißen … Atemberaubende Strecken, eng und kurvenreich, dicht begrünt mit Weiden und Buschwerk, zogen sich bis Terni hin.

    Bald dämmerte es und die Fahrt bis L’Aquila wurde zu einem Albtraum. Es herrschte dichter Verkehr, die Fahrer drängelten, hoch konzentriert versuchte ich, die Kurven richtig zu nehmen. Neben mir fühlte ich hohe, dunkle Felsen, die tagsüber bestimmt das Auge beeindruckten, jetzt aber nur meine Nerven.

    Ab Pescara suchte ich nach meinem zweiten Campingplatz, Roseta, an der Adriaküste. Die Küstenstraße zog sich „unheimlich" lang hin, und im Dunkeln beschlich mich das Gefühl, in einem Krimi mitzuwirken.

    Als ich den gottverlassenen Campingplatz endlich gefunden hatte, suchte ich mir wie ein „Verbrecher" einen Stellplatz im Dunkeln, traute mich nicht mehr auf die Straße, sondern aß in meinem Auto nur noch den letzten Schweizer Käse mit Apfel. Und es ging mir durch den Sinn, dass ich tatsächlich auch ideellen Proviant eingepackt hatte …

    Nachtrag Sommer 2010

    Als Haim und ich zehn Jahre später eine ähnliche Strecke, von Verona nach Perugia, fuhren, benutzten wir die Autobahn, die wenig romantische Kurven aufwies. Zu meinem Kummer waren (nach Angaben der Karte) viele der alten, kurvenreichen Straßen verschwunden und durch neue, sterile Schnellstraßen ersetzt worden. Die Erkenntnis, dass das Einzigartige einer Landschaft unwiederbringlich verschwinden kann, hat mich selten so hart getroffen.

    Montag, 30.10.2000

    Eigentlich wollte ich heute extra früh starten, da die erste Fähre zu erreichen war! Aber der Campingplatz war noch geschlossen. Geduld, Geduld … in Italien keine leichte Übung.

    Mein Frühstück nahm ich in einem Strandcafé ein, es war menschenleer und von einer eigenartigen Gemütlichkeit. Ich erledigte professionell die wichtigsten Telefonate per Handy, wodurch wiederum die Illusion, alles im Griff zu haben, vermittelt wurde. Wäre ich ohne diese Illusion weiter gefahren?!

    Diesmal fand ich schnell meinen Weg zur alten Küstenstraße, der Via Adriatica – so romantisch der Name, so romantisch die Strecke. Ich fühlte mich wie in einem Film, in alte Zeiten zurückversetzt. Lag es an den z.T. holprigen, von Schilf umsäumten Straßen, an den charmant heruntergekommenen Häusern oder irgendwelchen alten, kaum mehr lesbaren Aufschriften? Ich wusste es nicht, konnte mich jedoch diesem leicht maroden Reiz nicht entziehen.

    Gegen Mittag bot die jetzt kurvige Via Adriatica weite Aussichten auf das azurblaue Meer. „Diese Farbe passt", dachte ich bewundernd. Die sich in die Kurven schmiegenden kleinen Dörfer wirkten nicht mehr zurückgeblieben, etwas schien aufzuwachen … Auf der Weiterfahrt in Richtung Foggia eröffneten sich neue Bilder. Die Vegetation wurde spärlicher, statt Nadel- gab es jetzt mehr Olivenbäume, die Landschaft erhielt ein südliches Flair.

    Nach Osten bot sich eine schöne Fernsicht auf die Gegend Pontorio del Gorgamo: Eine kleine weiße Stadt, Monte Sant‘ Angelo, blinkte hoch oben auf einer Bergkante. Wie alle auf Bergen thronenden Städte rief sie dem Vorbeiziehenden ein leises Versprechen zu … Warum trug ich dieses Bild in mir, hing es u.U. mit dem Ziel meiner Reise, der Heiligen Stadt Jerusalem, zusammen? Ein Bild, das mich wie aus einer goldenen Zukunft anschaute und anzog.

    An die Autobahnfahrt von Foggia über Bari nach Brindisi habe ich nur verschwommene Erinnerungen. In Brindisi konnte ich mir gleich am Eingang der Stadt ein Fährticket besorgen. Probeweise fuhr ich die Strecke zur Mole, wo ich mich später zum Einschiffen melden sollte. Zurück in der Altstadt, gönnte ich mir in einem Restaurant am Hafen ein letztes italienisches Mahl, Pasta mit Fisch. Es herrschte eine sommerliche Atmosphäre und meine einzige Sorge war, ob mein Auto in einer Stunde noch auf dem mühsam errungenen Parkplatz stehen würde? Es stand, Gott sei gedankt, und ich drehte wohlgemut eine Runde in der Fußgängerzone mit z.T. herrschaftlichen Patrizierhäusern.

    Anschließend begann das ermüdende Spiel „Warten aufs Einschiffen… Ich stand mit meinem Mazda einsam am Kai, es war kalt, die Autofenster beschlagen, ich wurde unruhig, ob ich genug für die Auffahrt sehen würde. Als die Rampe elegant gemeistert war, erfüllte mich Stolz: Eine weitere Hürde auf der Reise war genommen! Doch unvermittelt stiegen auch dunklere Gedanken auf: „Jetzt hast du schwankenden Boden unter den Füßen, und, als ich an der Reling stand und zurückblickte: „Nun lässt du ein weiteres Land hinter dir zurück." Wann werde ich, wenn überhaupt, heimkehren?! Nach einem Bier und lebhaften Gespräch mit einem Holländer über den Nahen Osten versuchte ich, auf den harten Stühlen im Vortragsraum des Schiffes ein wenig Schlaf zu finden.

    Dienstag, 31.10.2000

    Die Einfahrt nach Patra glich einem ruhigen Gleiten in heller Morgensonne, vorbei an einem rötlichen Felsen, der gespalten schien oder hatte er zwei Flügel? Sprechende Formen ziehen mich in Bann! An der Strandpromenade suchte ich ein nettes Café bzw. zunächst einen Parkplatz. Es war noch sommerlich heiß, so dass sich unvermeidlich Urlaubsgefühle einstellten und ich mir ein entsprechend teures Frühstück leistete. Im Fernsehen wurde zur Erinnerung, dass ich nicht auf Urlaubsreise war, über den Nahen Osten berichtet. Anschließend machte ich mich auf die Suche nach einer Schiffsagentur, die während der Intifada* noch (!) Israel ansteuert.

    Wie durch ein Wunder geriet ich in ein kleines, sonniges Büro, in dem eine mürrisch wirkende Frau bediente. Während sie mir das heiß ersehnte Ticket Athen – Haifa ausstellte (für mich einen Deck- und für mein Auto einen Stellplatz), wurde sie zunehmend freundlicher. Erst viel später schwante mir, dass sie mich mitleidig, wie eine „Geisteskranke" behandelte, vermutlich wegen meines ungewöhnlichen Fahrtzieles … Sie nahm sich viel Zeit, mir die Strecke nach Piräus, zum Hafen zu beschreiben, es sei nicht so einfach, und zu meiner Beruhigung kopierte sie mir extra einen Plan von Piräus. Ich verließ dieses unscheinbare Büro mit dem Gefühl, gut und sicher ausgestattet zu sein, für die in Europa letzte Etappe meiner Reise nach Jerusalem.

    Spät brach ich an diesem Tag in Richtung Tripolis auf. Bei Olympos eröffnete sich eine einmalig schöne, klassisch griechische Landschaft: Grün bewaldete Berge, Zypressen, Orangenhaine, die kurvigen Straßen von alten Bäumen, z.T. Eichen gesäumt, manchmal ein sanft plätschernder Wasserfall … Ist das Idyll (gr. είδύλλιον eidullion – „kurzes Gedicht") nicht in Griechenland, vielleicht just hier entstanden? Kurze Glücksmomente können den Eindruck vermitteln, dem Ursprung näher als gewöhnlich zu sein …

    Auf der Strecke Tripolis – Sparta wurde es leider rasch dämmrig; sie führte durch einsame, felsige Landschaften, im Westen von dem wild zerklüfteten Taygetos Gebirge begleitet.

    „Dort müssen noch Götter wohnen", dachte ich unwillkürlich; die bizarren, majestätischen Bergkonturen wirkten wie ein göttliches Ausdrucksmittel, wie ein streng formuliertes Urteil Gottes.

    In Sparta herrschte dichter, chaotischer Verkehr … Griechenland! Als ich endlich das Schild Mystras sah, kam es mir wie eine Erlösung vor. Der familiäre Campingplatz an der Tankstelle hatte etwas Beschützendes, das ich nach dem Verkehrschaos der letzten Tage zu schätzen wusste. Ich stellte mein Auto in einem Orangenhain ab und bestellte mir zu meiner Ankunft in Griechenland einen Ouzo.

    An diesem Abend hörte ich in meinem Auto, unter den Orangen, erstmals Musik, die „Wanderer Fantasie" von Franz Schubert. Frieden breitete sich in mir aus und große Müdigkeit.

    Mittwoch, 01.11.2000

    Mit dem freudigen Gefühl, Zeit zu haben, stand ich auf bzw. wälzte mich von meinem Autositz. Nach einem guten Frühstück auf dem Campingplatz wurde ich aktiv, lüftete meinen Schlafsack, hängte Handtuch und Socken an die frische Luft, wusch erstmals mein Auto (die mühsame Entfernung des Fliegendrecks kam mir wie eine Opferhandlung vor) und setzte mich zur Belohnung auf eine Bank unter einen Orangenbaum. Ein wahrhaft paradiesischer Morgen!

    Auch die kleine Wanderung nach Sparta, durch Paleologico, entlang einer Eukalyptusallee, war herrlich; der Kontakt mit der Sonne hatte mir in den letzten Tagen gefehlt. Um 12 Uhr nahm ich Abschied von dem netten Inhaber des Campingplatzes.

    Auf der Fahrt in Richtung Süden begleiteten mich die imposanten Bergketten Taygetos und Mani. Eines meiner wenigen Fotos: ein schmaler, von Olivenbäumen gerahmter Seitenweg, der sich in einem mächtigen, tiefen Tal verlor – symbolisch und ästhetisch sehr ansprechend … War es vernünftig, einen Umweg über Monemvassia zu fahren? Die Sehnsucht, den südlichsten Punkt der Peleponnes zu sehen, war zu groß!

    Auf der letzten bergigen Strecke gab es einige schwierige Serpentinen zu bewältigen. Noch war ich übermütig und leicht genervt, als ein Laster vor mir eine Steigung hochschlich. Angeregt durch die surreale Landschaft, schien ich mich in einem „leichten" Seelenzustand zu befinden, wie von der Wirklichkeit dekonnektiert.

    Relativ spät traf ich in Monemvassia ein. In einem Café, das eigentlich schon geschlossen hatte, trank ich einen Kaffee und spürte, Wehmut bewusst unterdrückend, das Hinwegschwinden des Sommers, verklungene Heiterkeit …

    Gegen 16 Uhr, eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit, ging ich kurz entschlossen zur äußersten Halbinsel von Lakonien. Zu meiner großen Überraschung tauchte hinter der Festungsmauer ein altes byzantinisches Dorf auf. Im Dämmerlicht entfaltete sich eine wunderbare, unwirkliche Stimmung, die mich gefangen nahm. Von den alten, einfallenden, z.T. noch bewohnten Häusern und Gemäuern strömte eine irritierende Mischung aus Morbidität und Lebendigkeit, die oft beschrieben, von mir jedoch selten so berührend erlebt worden war.

    Erfüllt mit Bildern ging ich zurück und suchte außerhalb des Ortes im Dunkeln meinen Campingplatz, Paradiso. Es war ein wahrhaft paradiesischer Platz an der Küste, warm und trocken, und in Ferienstimmung beschloss ich, mein Zelt aufzubauen. Ich wählte einen Platz direkt oberhalb des Steilhangs, neben einer kleinen Kiefer, mit Wellenrauschen unter mir …

    Danach wollte ich von Griechenland, dem dritten Land auf meinem Weg nach Israel, Abschied nehmen und entschied mich für ein „dionysisches" Festmahl im Dorf. Ich fand ein am Wasser liegendes Fischrestaurant, wo ich der einzige Gast war. Die frisch gefangenen Fische wurden mir buchstäblich auf einem silbernen Tablett präsentiert. Drei Katzen teilten mit mir den Fisch und meine Einsamkeit.

    Beim Blick auf die sich im Wasser spiegelnden Lichtreflexe wurde ich leicht melancholisch – in solchen Momenten fehlt mir die zweite Hälfte, an die ich mich anlehnen kann. Sonst war ich rundherum glücklich: Morgen um diese Zeit werde ich auf der Fähre in Richtung Israel unterwegs sein!

    Begleitet von leisem Meeresrauschen schlief ich diese Nacht ruhig und tief in meinem Zelt. Und nicht ein Traum erschien, der mich auf das drohende Unglück hingewiesen hätte – das nenne ich Gottes Güte …

    Donnerstag, 02.11.2000

    Aufwachen bei Sonnenschein, Blick aufs blaue, weite Meer … Urlaub! Ich lief im Nachthemd zur Dusche, atmete tief den frischen Wind ein und hatte zum ersten Mal seit langer Zeit ein Gefühl des Wohlbefindens. Trotz Sonnenschein, warum gestattete ich mir so großzügig, Zeit zu haben? Logisch war es nicht zu erklären und als ich dann noch ausgiebig mit einer Wasserflasche, die ich immer wieder auffüllen musste, mein Auto wusch, quälte mich das schlechte Gewissen: Ist diese Pingeligkeit der Autowäsche nicht beschämend „typisch deutsch"?! Doch ich wollte mein Auto gern sauber auf der Fähre abstellen – als ob mit dem Reinwaschen irgendein Kapitel gut abgeschlossen wird. Auf diese Weise lernte ich die Karosserie meines Autos noch einmal richtig kennen …

    Kurz vor Aufbruch fragte ich einen Campinggast, welche Route er nach Athen empfehlen würde: Warum fragte ich, wenn ich fest entschlossen war, die wilde Bergstrecke und nicht die schnellere Autobahn zu wählen? Wieder gab es keine logische Antwort, und um das Maß der Unvernunft heute Morgen zu steigern, ließ ich mir im Ort noch Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Danach überkam mich zwar Unruhe, weil es wirklich schon spät war, aber „Irgendwie hat die Zeit immer gereicht", dachte ich zuversichtlich. Um mich ruhiger zu stimmen, legte ich die CD mit dem jungen Geiger Joshua Bell ein, u.a. „Liebesleid", und fuhr die zunächst noch bekannte Serpentinenstrecke zurück.

    Da heute die Zeit ein entscheidender Faktor meiner Reise war, guckte ich häufig auf die Uhr. Beim Abbiegen auf meine auserkorene Bergstrecke Richtung Leonidion war es bereits 11:30 und jetzt wurde ich zum ersten Mal ernsthaft skeptisch: Konnte ich es überhaupt noch bis Athen, bis Piräus, schaffen oder war Piräus in diesem Moment ein schlicht unerreichbares Ziel geworden?

    Wie konnte ich es in Erfahrung bringen, ohne den Versuch zu wagen, ohne weiterzufahren? Die Straße war zum Glück noch (!) relativ breit, asphaltiert und trocken, und so fuhr ich anfangs flott, innerlich über einen VW-Bus lästernd, der vor mir die Straße hochkroch, „… vermutlich wegen der schönen Berglandschaft", dachte ich naiv. Es war tatsächlich eine großartige, weite, jedoch auch kahle und einsam-abweisende Bergregion! Schließlich kam ich nach Kosmas, das Bergdorf, das ich nie vergessen werde. So beschreibt es ein englischer Reiseführer: [4]

    VILLAGE: Kosmas Kynourias is a historical village in the province of Arcadia. It is built on top of the mountain Parnonas, 1150m above sea level. … It is built amphitheatrically amongst fir and chestnut trees, with an open horizon looking towards Argosaronikos Sea.

    HOUSES: The houses on the village are built from local special stones. … On the 29th and 30th of January 1944, 498 houses were burnt down by the Nazi invaders (more than 98% destruction). After the war and mainly the civil war, Kosmas has been rebuilt continuously, as a result today has 425 houses.

    KOSMAS‘ INHABITANTS: They are peaceful, hard working, with a special bond for mountain life, hospitable, and affable to everybody. These people had a special name „Giorgatzades and a specific dialect „Giorgatzeika.

    Die Straßen wurden immer enger und steiler, so dass ich zum ersten Mal bewusst mit mir zu reden anfing: „O je, es wird eng, hier musst du dich auf das Lenken konzentrieren, am besten, du bleibst die ganze Zeit im ersten Gang."

    Zwei Kilometer hinter Kosmas wartete dann die Kurve auf mich, im Grunde eine ganz normale Kurve, weder besonders eng, noch besonders steil. Bin ich daher mit einem verhältnismäßig hohen Tempo (30 – 40 km/h) hinein gefahren? Ich weiß es bis heute nicht, ich weiß nur, dass ich den Rollsplit am Außenrand der Kurve erst sah, als ich Bruchteile von Sekunden später seine Wirkung wahrnahm – das Auto schleuderte abrupt zur Straßenmitte, ich dachte: „Mist, jetzt gehorcht das Auto nicht mehr", dann sah ich plötzlich einen kleinen Felsbrocken vor mir, spürte den heftigen Ruck und wie in einem Film öffneten sich vor mir zwei riesige Airbags … Das war mein Unfall!!! Es war so unwirklich!

    Ich hatte keine Angst. Als ich den Dampf der Airbags sah, schoss mir bloß ein lapidarer Gedanke durch den Kopf: „Du musst jetzt den Motor abstellen und so schnell wie möglich aussteigen. Beim Aussteigen spürte ich nicht den geringsten Schmerz, mein Kopf war klar, nur ungewohnt, irgendwie „entgeistert, und ich hatte das deutliche Gefühl, dass gerade eben etwas Ungutes passiert war …

    Der Anblick meines auf der Straße liegenden E-Klaviers versetzte mich mehr in Schrecken als der meines Autos, das von vorn seit zwei Minuten einer Ziehharmonika glich.

    Menschen hielten an, zunächst rührende, fassungslose Griechen, dann kam auch der VW-Bus um die Kurve, aus dem jetzt zwei bestürzte „Engel aus Deutschland ausstiegen, das Ehepaar M. aus Frankfurt. Obwohl ich innerlich darauf wartete, bahnte sich keine Schocksymptomatik an, nur mein stereotyp mit lauter Stimme wiederholter Satz: „Ich muss heute Abend meine Fähre bekommen! wies u.U. auf einen beginnenden Schock hin. Der nette Herr M. versuchte mich zur Räson zu bringen: „Sind Sie sich im Klaren, dass Sie gerade einen schweren Unfall hatten? Sehen Sie, sehen Sie ruhig hinunter, glauben Sie, gerade eben sind Sie haarscharf dem Tod entkommen!"

    Ich sah lieber nicht in die Tiefe, wusste aber, dass Herr M. Recht hatte: Dieser kleine, jedoch unverrückbare Felsen hatte mich vor dem Fall, vor dem Fall in einen mehrere hundert Meter tiefen Abgrund bewahrt, der unmittelbar hinter dem Felsen begann.

    Der Felsen hatte standgehalten – heißt es nicht, es sei besser, seinen Glauben auf einen Felsen als auf Sand zu gründen? Sollte mein Glauben an einen Gott, der es gut mit einem meint, von nun an fest und unverrückbar wie mein Felsen werden? Felsenfest? Aber nicht steinhart! Festes gibt Halt, Hartes zerstört – selten habe ich den Unterschied so deutlich erfahren! Auch bei dieser Erkenntnis geriet ich nicht in Panik; meine schreckliche Nüchternheit erschien mir selbst unheimlich, wenn nicht pathologisch. Vielleicht war diese emotionale Gelähmtheit auch ein Schocksymptom? Als Erste-Hilfe-Maßnahme reichte mir Frau M. eine kleine Flasche Ouzo, dazu Wasser. Herr M. schleppte mein Auto von der Fahrbahn, danach fuhren wir gemeinsam in das Dorf Kosmas zurück. Wie hätte ich eine Stunde vorher ahnen können, dass dieser kleine Bergort sich ewig in meinem Gedächtnis festsetzen wird!

    Auf dem schattigen Dorfplatz versammelte sich sofort eine große Menschenmenge. Erstaunt blickte ich in die vielen besorgten Gesichter: Es ging mir doch gut, niemand brauchte sich zu beunruhigen! Mit Hilfe von Herrn M. – jetzt war ich etwas zittrig – rief ich den Mazda-Service in Deutschland an. Die kleine goldene Karte und mein Handy stellten in diesem Augenblick die wichtigste Verbindung zur Wirklichkeit dar; ich merkte, wie ich mich an diesen funktionierenden Gegenständen festhielt. Denn alles andere um mich herum wirkte traumhaft, geradezu traumhaft schön – der idyllische Dorfplatz mit den alten, Schatten spendenden Eichen und Feigenbäumen, die Terrasse, die zum friedlichen Nachmittagskaffee einlud, und die helle, aber nicht blendende Sonne. Eine traumhafte Wirklichkeit, die nicht zu meiner Wirklichkeit passte.

    Nachdem der Abschleppservice aus Sparta sich angekündigt hatte, verabschiedete sich das Ehepaar M. und ich saß zwei Stunden auf der Terrasse, eine Tasse Kaffee trinkend, mit Blick auf die grandiosen, schroffen Berge und versuchte, den Frieden dieses idyllischen Dorfes zu spüren. Aber er gelangte nicht in mein Innerstes, er gehörte nicht zu mir, vielleicht, weil ich noch keine Gefühle, nicht einmal Dankbarkeit, empfinden konnte?

    Eine große Leere war in mir, ein Gefühl der Eindimensionalität: Handelte es sich um einen psychischen Schutzmechanismus vor Gefühlsüberflutung? Das einzige, was jetzt in mein Bewusstsein vordrang, waren erste Schuldgefühle. Ich erinnerte mich plötzlich an die große Arroganz, mit der ich vor zwei Stunden auf einer der gefährlichsten Bergstrecken Griechenlands gefahren bin – wenn nicht den Tod, so hätte ich eine obere Querschnittslähmung erleiden können! Das Bewusstsein meiner Schuld, der Vermessenheit, erfüllte mich mit einer sonderbaren Zufriedenheit, und ist das nicht auch pathologisch?! Es schien, als hätte ich in der Folge des Schocks alle ethischen Bezüge in mir verloren – alles war wie auf den Kopf gestellt.

    Schließlich kam der Abschleppdienst (HELLAS Service) und zwang mich in die Realität zurück. Schweigend blickte ich dem Aufladen meines zerdrückten Autos zu, mein Maskottchen, ein Schutzengel („Fahr nicht schneller, als dein Schutzengel fliegt") war von dem Spiegel heruntergefallen und schaute mich nun durch die Windschutzscheibe an, vorwurfsvoll und traurig.

    Wir fuhren zu der Mazda-Werkstatt in Sparta, einem Familienbetrieb. Komisch, zu dem Inhaber, Níkos R., fasste ich sofort Vertauen wie zu einem Arzt; er hatte ein stilles Wesen und leicht melancholische Augen. Brauchte ich, ohne es mir einzugestehen, einen Arzt? Auf alle Fälle beruhigte es mich, dass ich mit meinem Autowrack hier gelandet war.

    Es gab jetzt viel zu organisieren, doch ich war gewiss, dass alles seinen richtigen Lauf nehmen werde. Als die ebenfalls bemühten Mitarbeiter vom Mazda-Service in Deutschland mir für die nächsten Nächte ein Hotel in Sparta anboten, fühlte ich erstmals Erleichterung und Dankbarkeit: Wildfremde Menschen kümmerten sich um mein Wohlergehen, es war zwar ihr Job, aber der Ton macht die Musik, und die Töne waren warm und freundlich.

    Ein Taxi brachte mich zu dem Hotel Cecil, einem alten Jugendstilgebäude. Der Hotelier, eine Seele von Mensch, schleppte meine fünfzehn Gepäckstücke in den ersten Stock. Mein E-Klavier lagerte er auf dem zweiten Bett ab, es war jetzt geborgen, so wie ich! Endlich konnte ich etwas weinen.

    Mein Bedürfnis, mit einem nahen Menschen zu sprechen, war groß, aber wen konnte ich in diesem Moment mit einem Ereignis belasten, das ich selbst noch nicht begriff? Ich rief Margret an, meine Kollegin und Freundin aus Jena; sie war lieb, Anteil nehmend, fragte dann jedoch direkt, ob der Unfall nicht ein Wink Gottes sei, meine Reise nach Israel, angesichts der Unruhen, abzubrechen.

    Wieder überkam mich große Scham, hatte ich das Schicksal tatsächlich zu sehr herausgefordert?! Oder wollte eine höhere Macht, die ich heute gern Gott nannte, mir eine besondere Wahrheit für mein weiteres Leben mitteilen? Mir fiel Viktor Frankl ein: „Auf jeden Menschen wartet eine Aufgabe oder ein Mensch." Mit anderen Worten, nicht ich soll auf eine Aufgabe oder einen Menschen warten, sondern soll offen sein für Aufgaben oder Menschen, die auf mich, meine Aufmerksamkeit und Zuwendung warten? Im Islam heißt es: „Gott nimmt, Gott gibt." Gott nahm mir heute das Auto, Sinnbild des Unwesentlichen und gab mir das Wesentliche, mein Leben, zurück. Es schien mir, als ob der Felsen nicht nur fest, im Sinne von unnachgiebig sein musste, um mein Leben zu bewahren, sondern zugleich auch hart, um mein Auto, etwas Unwesentliches, zu zerstören. Genau auf diese Weise hatte ein Guter Geist mich heute gerettet!

    Am Abend wartete eine erste Aufgabe auf mich, das Telefonat mit meinen Eltern. Ich fühlte mich ihnen gegenüber zu einer Notlüge verpflichtet, denn wie könnte ich ihnen heute alles erzählen? Und dank des anonymen Telefons gelang es mir tatsächlich, meinem Vater mit ruhiger Stimme zu sagen, dass die Fähre heute nicht fährt, erst am nächsten Montag …

    Im Hintergrund hörte ich die Stimme meiner ältesten Schwester, alle schienen mir zu glauben, ich war beschämt und erleichtert. Auf dem harten Bett des Hotelzimmers fand ich bald einen traumlosen Schlaf.

    Freitag, 03.11.2000

    Wenn ich daran zurückdenke, wie routiniert ich heute Morgen, nicht einmal 24 Stunden nach dem Unfall, die anstehenden Telefonate erledigte, staune ich: Hatte ich nicht bisher über nüchterne, rational funktionierende Menschen gespottet, als fehlte ihnen eine entscheidende menschliche Dimension? Und jetzt? Wie verhielt ich mich an diesem Morgen? Wie ein herzloser Roboter, der mechanisch einen Punkt nach dem anderen abhakt! Vielleicht war dieses reine mechanische Funktionieren ebenfalls eine Auswirkung des sonst nicht spürbaren Schocks? Tatsächlich fehlten alle typischen Symptome – Kopfschmerzen, Übelkeit – ich hatte nur das Gefühl, äußerst vorsichtig die Straßen überqueren zu müssen … Nach einem kleinen Frühstück, das ich auf dem Balkon in der Sonne einnahm, begab ich mich zur Polizei in Sparta, um den Unfallbericht zu erstatten. Ich traf dort auf unwirsche Polizisten, in einem Büro, das in seiner Unordentlichkeit einmalig war. Als ich den Unfallhergang schilderte, merkte ich, wie günstig es gewesen wäre, den Griechischkurs damals an der Uni abzuschließen – diese Beamten verstanden kaum ein Wort Englisch … Auf einem schäbigen Stuhl vor einem finster blickenden Polizisten sitzend, kam ich mir wie in einem Mafiafilm vor, als ich mühsam eine „konspirative" Skizze des Unfalls zeichnete. Doch beim Verlassen des Polizeibüros konnte ich nicht leugnen, dass dieses Chaos, über dem ein Hauch von Verwegenheit und Anarchie lag, mich auch rührte, denn verriet es nicht, wofür das Herz der Griechen in Wirklichkeit schlägt: ein freies, unbürokratisches Leben?

    Bis zum Mittag nahm mich Deutschlands Bürokratie in Anspruch – dann, nach Stunden der Ungewissheit, lehnte ich mich erleichtert zurück: Die Schadensmeldung per Hotel-Fax war geglückt! So lag ein Nachmittag der Muße vor mir; ich versuchte etwas zu lesen, später spielte ich auf meinem E-Piano. Zum ersten Mal, seit es gestern Mittag auf der Straße gelegen hatte, berührte ich die Tasten meines Klaviers und stellte ungläubig fest, dass es noch funktionierte! Als ich eine der „French Suites" von J. S. Bach anspielte, stiegen mir Tränen ins Auge – Gott hatte mir nichts genommen, was mir wirklich lieb und teuer ist!

    Abends versorgte mich der herzliche Hotelier vom Cecil mit Kaffe und Orangensaft. Spät am Abend lernte ich zwei urige, nette Amerikaner kennen, Shannon und Kim, und ich fragte mich verwundert, warum ich überall so herzliche Menschen traf?

    Nachtrag Sommer 2012

    Das Herz der Griechen scheint tatsächlich mehr ein großzügiges Leben als die bürokratischen Pflichten eines EU-Mitgliedsstaates zu lieben. Die schwere Finanzkrise lässt die Griechen heute zum schwarzen Schaf, zum Sündenbock Europas werden, doch mir ist die griechische Mentalität weiterhin sympathisch …

    Samstag, 04.11.2000

    Heute Vormittag machte ich einige Einkäufe in Sparta, ein nächster Schritt zur Routine. Als ich das Internet Café aufsuchte, stutzte ich kurz: Hier

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