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Unpassende Fragen: Ein  27-er zwischen  den  Frieden, 1927  bis  1949
Unpassende Fragen: Ein  27-er zwischen  den  Frieden, 1927  bis  1949
Unpassende Fragen: Ein  27-er zwischen  den  Frieden, 1927  bis  1949
eBook352 Seiten3 Stunden

Unpassende Fragen: Ein 27-er zwischen den Frieden, 1927 bis 1949

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Über dieses E-Book

Wie war es, in den Vorkriegsjahren Kind und im Krieg Jugendlicher zu sein? Widersprüche, Annahmen, Gepflogenheiten - Wilhelm hat viel nachgedacht und schildert die Jahre zwischen etwa 1933 (er ist 1927 geboren) und 1948 aus seiner Sicht als Kind und Heranwachsender, als Abiturient und Student. In der Zwischenzeit hat Helmut Binder alias Wilhelm Debrin viel gelesen und flicht Erkenntnisse und Einschätzungen in den Text, die er in 95 Lebensjahren gewonnen hat.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Apr. 2023
ISBN9783347991330
Unpassende Fragen: Ein  27-er zwischen  den  Frieden, 1927  bis  1949
Autor

Helmut Binder

Helmut Binder ist am 12. 6. 1927 in Göppingen als drittes von fünf Kindern geboren . Der Vater gründet 1933 einen eigenen Betrieb im neu erbauten Wohnhaus. Die Familie war zu größter Sparsamkeit gezwungen. Die Schulzeit war normal bis 1943. Einberufung als Luftwaffenhelfer. 1944 Ausbildung in Hochfrequenztechnologie für die Luftwaffe. 1945 Soldat im Infanterieeinsatz. 500 Kilometer zu Fuß nach Hause, Arbeit als Elektriker. Ab November 1945 wieder Schulbesuch, im Juni 1946 Abitur, ab September 1946 Studium der Wirtschaftswissenschaften. 1949 Diplomarbeit über die marktkonforme Beeinflussung der Preise durch das „Jedermann-Programm in der Textilindustrie“. (Beurteilung: Mustergültig angelegt, 1 -2). Ab 1949 Reisetätigkeit für den väterlichen Betrieb. 1952 und 1953 neben beruflicher Tätigkeit Abfassung einer Dissertation über das damals in der Politik diskutierte Problem der Planung von Produktionskapazitäten. 1953 Promotion an der Universität Tübingen zum Dr.rer.pol. Note „Sehr gut“. 1954 Heirat, 4 Kinder. 1956 Gründung einer eigenen Strickwarenfabrik unter aktiver Beteiligung seiner Frau. Sehr erfolgreich im gehobenen modischen Bereich. Ausstellungen auf Modemessen in Düsseldorf, München, Paris, New York, Tokio u.a. Ab 1989, nach Aufgabe des eigenen Betriebes, hat er viele Reisen unternommen und war schriftstellerisch tätig. Neben Zeitungsartikeln hat er einige der von ihm verfasste Bücher veröffentlicht: „Der Jungfraufels“. Humorvoll erzählte Geschichten nach alten Sagen. - „Fallstrick“. Roman aus der Modebranche. Beide Silberburg-Verlag.. „Ein Schwäbisches Wörterbuch“. Theiss-Verlag. Drei Auflagen..„Das Paradies im Ländle“. Tredition.. Am 16. Januar 2023 starb Helmut Binder. Das Manuskript zu Unpassende Fragen ist seit einigen Jahren fertig, doch nie zur völligen Zufriedenheit des Autors. Zuletzt hat er es am 5. Januar 2023 bearbeitet.

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    Buchvorschau

    Unpassende Fragen - Helmut Binder

    Zwischen den Frieden

    Der New Yorker Börsenkrach von 1929 hat den Wirtschaftsaufschwung in Deutschland und Europa beendet.

    Die neue Not hat den Boden bereitet für alles was danach gefolgt ist.

    Die Kriegseröffnung am 1. und 3. September 1939 hat den Frieden beendet.

    Der Kriegsbeginn mit Amerika im Dezember 1941 hat den Krieg zum Weltkrieg gemacht.

    Der Tod Hitlers am 30. April 1945 hat die Diktatur in Deutschland beendet.

    Die Kapitulation Großdeutschlands am 8. Mai 1945 hat die Kriegshandlungen beendet.

    Die Währungsreform vom 20. Juni 1948 hat die Kriegswirtschaft beende

    Am 22. Januar 1963 unterzeichneten Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle den Élysée-Vertrag

    Der Elysée-Vertrag von 1963 begründete den Frieden im Herzen Europas.

    Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 beendete den Kalten Krieg und sicherte den Frieden in Europa für weitere drei Jahrzehnte.

    Wir waren in Verdun und haben Mehr als 300 000 Gräber gesehen Und wir haben geweint.

    Wir haben das Grab von De Gaulle besucht Und wir haben uns verneigt

    Usch und Helmut Binder, 25. Juli 1996

    Nie wieder Krieg

    Es war eine der ersten politischen Parolen, an die ich mich erinnere: Nie wieder Krieg! Von wem ich sie zuerst gehört habe, weiß ich nicht mehr so richtig. Halt jemand von „den Älteren. Damals, als es mit meiner Schreibkunst noch nicht weit her war, waren „die Älteren solche, die etwa so alt waren wie meine Eltern, also Onkel und Tanten, die Nachbarn und wer sonst noch gelegentlich von „damals" erzählte, als die Leute nichts zu essen hatten und frieren mussten, weil es auch keine Kohlen gab zum Heizen.

    Ich war fünf Jahre alt und konnte schon ein bisschen lesen. Eben das, was so auf den Plakaten stand, die wegen der Wahlen an den Litfaßsäulen klebten. Mein Vater war im Krieg gewesen. So viel wusste ich. Auch die Väter der Nachbarskinder, der Herr Schmid, der Herr Schaile, oder wie sie sonst noch hießen. Die Häuser auf unserer Straßenseite waren von Handwerkern aus der Bauwirtschaft erbaut worden, die sich zusammengeschlossen haben, um sich selbst Aufträge zu geben, als das Geld zum Bauen knapp war. Die Häuser auf der anderen Seite soll die Stadt gebaut haben für Kriegsinvaliden und Hinterbliebene.

    In der Nachbarschaft gab es auch einige Frauen, von denen ich hörte, dass ihre Männer im Krieg gefallen seien. Gefallen sind wir Kinder ja auch oft, aber das war gar nicht schlimm. Man stand wieder auf und lief weiter. Aber die im Krieg gefallen waren, die gab es gar nicht mehr. Die waren tot, erschossen von den Feinden. Und irgendwo begraben, in Frankreich, wo die Feinde wohnten. Die hatten jahrhundertelang immer wieder Deutschland überfallen, weil ihre Könige bei uns herrschen wollten. Napoleon und ein König Ludwig waren die Namen, die man in diesem Zusammenhang so hörte. Früher, also lange bevor es mich überhaupt gab, hatten die Franzosen auch unser Land besetzt. Manche Worte aus der schwäbischen Alltagssprache erinnerten daran: Plafo, Suttrai oder Waschlavor. Wie man die schreibt, habe ich später in der Schule nicht gelernt. Denn dort sagte man dazu korrekt Zimmerdecke, Untergeschoss oder Waschbecken.

    Wann man das gehört hat, also wann ich das gehört habe, also vom Krieg, von den Franzosen und von deren Wörtern, kann ich nicht mehr sagen. Wohl so im Lauf der Jahre, immer mal wieder in einem anderen Zusammenhang und immer wieder von anderen Leuten. Als ich dann fünf Jahre alt war, sechs und noch älter, war ich sicher, dass Krieg etwas Böses ist, das von den Franzosen kam. Irgendwann konnte ich die Zeitung lesen und sogar Bücher. Und irgendwie hatte ich auch erfahren, dass jetzt auch diese Franzosen keinen Krieg wollten. Das sagten die Erwachsenen, die zur gleichen Zeit lebten wie ich, also die Leute, die so alt waren wie meine Eltern oder wie meine Großmutter. Also jene, die auch im Krieg gewesen waren und wussten, wie schlimm so etwas ist.

    Krieg bedeutete nicht nur Tote und Verwundete. Krieg brachte auch Hunger mit, von dem die Älteren manchmal erzählten. In diesen Erzählungen kam immer wieder das Wort Rübenwinter vor. Der muss schrecklich gewesen sein. Ein Jahrhundert später hat ein großes Nachschlagewerk noch darüber berichtet.

    Doch die Frauen weinten

    Wie ich darauf gekommen bin, mit 95 Jahren – in Worten: fünfundneunzig – also weit nach der Pensionsgrenze und keiner weiß, wie viele oder wenige Monate vor dem Tod – ein Buch über meine Jugend zu veröffentlichen, ein Buch, das vor vielen Jahrzehnten begonnen worden ist.

    Gute Frage. Ich habe eine gute Antwort dazu:

    Als Zwölfjähriger war ich dabei, als man aus dem Radio hörte, es sei jetzt Krieg. Minutengenau hatte es Hitler angegeben:

    „Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird zurückgeschossen".

    Tag für Tag, Stunde um Stunde, war man seit Wochen gespannt, was die Zeitung oder das Radio als neue Nachrichten bringen würden. Die Namen von Ministern in Frankreich und England waren so oft genannt worden, dass ich ein paar davon noch heute weiß: Churchill, Daladier, Henderson, Mister Chamberlain, der mit dem Regenschirm, und Antony Eden, der Schöne. Dann auch der deutsche Außenminister von Ribbentrop und eines Tages ganz überraschend, der schnauzbärtige Molotow aus Russland. Dem sein Chef, der Stalin, von dem und seinen Bolschewiken uns Kindern schon in einer der ersten Volksschulklassen ganz böse Sachen erzählt worden waren, war plötzlich Partner eines Freundschaftsvertrages mit unserem Führer geworden.

    Sie hatten alle ihren Friedenswillen beteuert. So wie zweiundzwanzig Jahre später Ulbricht versichert hat: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten", während er schon das Baumaterial dafür bereitlegen ließ.

    Nach allem, was ich in den Jahrzehnten danach erlebt, gehört, geglaubt habe oder gleich als Lüge ansehen musste, neige ich heute der Ansicht zu, dass fast alle tatsächlich den Frieden wollten – falls die Anderen taten, was man man von ihnen verlangte.

    Heute versichern wieder alle, selbst ganz friedenswillig zu sein, aber die Anderen seien unberechenbar, mal ist es Putin, mal Kim in Korea oder Erdogan in der Türkei, der Herrscher im Iran oder sein Gegenspieler in Tel Aviv.

    Gorbatschow, dessen besonnenes Handeln vor drei Jahrzehnten Schlimmes verhütet und Gutes bewirkt hat, ist heute sehr besorgt und warnt vor einem Atomkrieg. Und Israels Netanjahu sieht einen Atomkrieg heraufziehen, falls der Westen Frieden mit dem „Gottesstaat" Iran schließt. Er muss es ja wissen, denn er hat sie schon, die Bombe.

    Ganz ehrlich – ich habe Angst. Nicht als Einziger, wie die Inhalte mancher Marginalien in diesem Buch beweisen. Doch einer meiner zwölf Enkel wies einst solche Bedenken beruhigend zurück mit den Worten: „Bis die ersten Bomben fallen, hast Du ein mehr als nur stattliches Alter erreicht. Eigentlich wollte er wohl sagen „… bist du sowieso schon tot.

    1939 hatte auch ich so eine fröhliche Meinung meinem Vater gegenüber, der damals allerdings gerade 42 Jahre alt war. Er hatte als junger Soldat in den verschlammten Schützengräben an der Somme seine Kameraden sterben sehen. Einen nach dem anderen.

    Als ein Gesetz vorschrieb, dass er als Reservist Wehrübungen machen müsse, wählte er den Dienst beim Wehrmeldeamt seiner Stadt, in der Meinung, dass er dort geborgen sei. Er hatte Pech. Dort brauchte man ihn lange vor allen anderen. Er wusste damals mehr als andere. Doch im Krieg ersetzte man ihn dort, und er musste fern der Heimat Soldat sein.

    Unpassende Fragen

    Vorlaut?

    „Binder, seien Sie vorsichtig, dass Sie nicht eines Tages im Zuchthaus landen. Der das sagte, war ein mir durchaus wohl gesonnener Lehrer, Parteigenosse mit dem runden Parteiabzeichen am Revers, wie viele meiner Lehrer, von denen einer sogar die Meinung vertrat, der Führer sei ein Prophet. Andere sagten dazu gar nichts. Stramme Parteigenossen oder Hundertfünfzigprozentige nannte man die einen. „Der muss halt dabei sein, hieß es von anderen. Von denen, die weder

    „dabei" sein wollten, noch mussten, sprach man nicht in diesem Zusammenhang. So wie von den vielen Onkeln und Tanten in meiner Familie.

    Aber - ich hatte wieder einmal eine unpassende Frage gestellt. An einen, der „dazu gehörte". Ich wollte wissen, wie die Polen zu den deutschen Plänen stehen, ihr Land zu einer deutschen Kolonie zu machen und die früheren Besitzer zu Landarbeitern, zu Sklaven.

    Nach dem Vorbild großer europäischer Staaten, z. B. England, Frankreich, Italien und Belgien wollte Hitler im Osten Gebiete erobern, das Land an Deutsche verteilen und die ursprüngliche Bevölkerung dazu zwingen, dieses Land zu bearbeiten - als Sklaven, wie in Europas Mittelalter oder Amerikas ganz großer Zeit.

    Ich stellte ab und zu unpassende Fragen und brachte meine Umgebung in Verlegenheit. Denn manche Antwort konnte auch gefährlich sein. Oder unbequem. Nicht nur wegen der Partei. Auch die sich an die Bibel hielten, flüchteten sich gar zu leicht in die Antwort: „Das verstehst du noch nicht."

    Identität und Kritik

    „Jetzt send die emmer no net fertig." So lautete mein erster Satz, an den ich mich erinnern kann. Und zwar ganz genau. Ich saß im Sportwagen, den meine Mutter zum Neubau meiner Eltern geschoben hatte. Als wir ankamen, waren Arbeiter dabei, im Pfosten des Gartentors den Briefkasten zu montieren.

    Diese Szene hatte ich schon so oft vor Augen, dass ich sicher bin: sie stimmt. Damals war ich zwei Jahre alt. Vor einiger Zeit habe ich nachgeprüft, was zu prüfen war, fand auf Fotos den Briefkasten im Pfosten des Tores und den Gang zur Haustüre des Gebäudes, das seit mehr als fünfzig Jahren in fremden Händen ist. Und ich bin hingefahren und habe mir jenen Pfosten angesehen. Der Briefkasten ist darin auch heute noch so eingebaut wie damals.

    „Du nimmst den Leser mit in die Gedankenwelt eines kleinen Jungen, eines Halbwüchsigen, eines an Erfahrung gereiften jungen Mannes. Dabei sieht man die Welt mit den Augen eines damals lebenden Menschen."

    So schrieb mir eine belesene Freundin, der ich das erste Manuskript zum Lesen gegeben hatte.

    Wilhelm Debrin

    Mehr als hundert Briefe aus jener Zeit sind es, und manches lässt sich an Hand von Belegen und Nachschlagewerken oft auf die Stunde genau zuordnen. Denken und Fühlen jedoch haben sich langsam entwickelt. Der „Ich" von vor siebzig, achtzig oder gar neunzig Jahren ist der Selbe wie der Erzähler und doch nicht der Gleiche, der Mann im Greisenalter ist nicht mehr der plappernde Zweijährige, nicht mehr der stolze ABC-Schütze und nicht mehr der Schüler und Pimpf, der gleichermaßen pflicht- wie selbstbewusste Soldat, auch nicht der Achtzehnjährige, der nach zwei Jahren Soldatenzeit wieder die Schulbank drückt und Schülerstreiche genießt, daneben aber politische Aufsätze schreibt, nicht mehr der unerfahrene Student. Doch die Neugier ist geblieben. Und die Selbstständigkeit im Denken, die in Schulzeugnissen erwähnt ist.

    Alles habe ich einem Alter Ego zugeordnet. Der ist ein junger Mensch von zwei bis zweiundzwanzig Jahren, ohne besondere Auffälligkeiten, und trägt darum einen Vornamen, wie er damals häufig war. Er hat das Wissen, das zu seinem jeweiligen Alter und Umgebung gehörte, das Denken und die Logik von damals und auch die Gefühle.

    Ab jetzt ist von Wilhelm Debrin die Rede.

    Und der alte Mann, der ich heute bin, erklärt manches aus der Zeit des Wilhelm Debrin etwas ausführlicher, um den Leser in die damalige Zeit vor und während des Krieges und die Zeit danach zu führen, und in ihm das Verständnis zu wecken für jene, die in diesen Verhältnissen zurecht kommen mussten. Und immer wieder war „eine neue Zeit" mit neuen Anforderungen an uns Menschen, die sich anpassen mussten, als säßen sie auf einem Uhrzeiger, der sie hoch führt und abstürzen lässt – und dazwischen eine Ebene bildet zum Ausruhen.

    Plötzlich „dabei"

    Onkel Willy war bereits über neunzig, als er mir eine Geschichte dazu erzählt hat. Und ich war gute siebzig. Dass vorher jemand in der Familie davon gewusst hat, halte ich für unwahrscheinlich. Falls ja, wurde diese Sache bestimmt nur nach der Warnung wegen „offener Ofentüren besprochen, In Uniform hat ihn jedenfalls nie jemand gesehen. Ob er überhaupt eine hatte? Es war nämlich so: Er brauchte verschiedene Genehmigungen und Stempel von den Behörden, und da haperte es aus ihm unerklärlichen Gründen an einer Stelle. Als er einmal einen Schulkameraden traf, der es unter der neuen Regierung zu einem Posten gebracht hatte, klagte er dem sein Leid. „Weißt du, Willy, sagte der, „wenn du mitmachen würdest, ginge die Sache besser voran. Ich gebe dir da einen Tipp. Und danach trat er dem harmlosesten „Verein bei, den es gab, dem NSKK – Nationalsozialistisches Deutsches Kraftfahrer Korps.. Und die Genehmigung kam.

    Hier konnte man auf unverfängliche Weise dem Druck ausweichen, „beizutreten, womit die Partei selbst oder ihre SA gemeint waren. Ähnlich waren auch Fliegergruppen und ganz besonders das NSKK, Sammelbecken derer, die nach außen hin „mitmachen mussten oder sollten, aber partout nicht wollten. Im NSKK versammelten sich, oft an Sonntag-Vormittagen, meist Geschäftsleute, auch solche, die gar kein Auto hatten.

    Erscheinungsfest

    Der sechste Januar war nicht nur als Endpunkt ein besonderes Fest, sondern auch im Wortsinne markant. Eigentlich heißt er ja so, weil da die Drei Könige erschienen seien. Bei den Debrin-Familien – nach und nach waren alle acht Geschwister verheiratet - erschienen die Verwandten aus Stuttgart. Und die aus Bad Cannstatt. Sie hatten ihre Touren rundum zu Mittagessen, zu Kaffee und Kuchen und zum Vesper. Alle freuten sich darauf, doch die Cannstätter Tante war ein bisschen gefürchtet. Vielleicht hatte sie nach dem frühen Tod ihres Halbbruders, dem Großvater Johannes, die Verpflichtung gefühlt, dessen Kindern das beizubringen, was sie, die Städterin aus Bad Cannstatt, deren Mutter vom Dorf wohl nicht zutraute. Noch ein Vierteljahrhundert später beurteilte sie Haushalt und Kochkünste von angeborenen und angeheirateten Nichten mit der Strenge einer Gutsherrin. Keine macht so guten Kartoffelsalat wie die Cannstatter Tante, war geflügelter Spott in der Familie, wenn einer zu kritisieren anfing. Ihr Mann, ein Schuhmacher, war ein liebenswerter ruhiger Mensch.

    Auch Vaters Onkel Friedrich kam regelmäßig während der Feiertage. Er war ein jovialer Mann, den alle gern mochten. Außer einigen Basen von Wilhelm. Die behaupteten, er wolle sie dauernd abküssen. Und dabei täte er auch noch fürchterlich sabbern. Wenn der kam, flüchteten sie. Als ich schon weit über achtzig war, hat mir ein Bäsle erzählt, dass sie sich aus Furcht vor ihm einmal eine halbe Stunde lang zu dritt ins Klo eingeschlossen haben.

    Tante Berta, die Frau von Onkel Friedrich, sprach ein vornehmes „Frau-Oberlehrer-Schwäbisch mit einem ganz bestimmten Singsang, der Wilhelm vorkam wie ein abgespreizter Kleiner Finger an der Kaffeetasse, damals als „Stuttgarter Hochdeutsch bespöttelt. Das war sie ihrer Stellung schuldig. Ihr Gatte war nämlich ein hoher „Beampter in Stuttgart - mit dem Titel „Herr Präsident. Die Stuttgarter Tante war die Schwester von Tante Julie, der Frau von Vaters Freund Gustav, der auch ein Beamter war. Zu dieser Familie gehörte nicht nur Erich, der mit seiner Kanone die Christbaumkugel abgeschossen hatte, sondern auch der Vater von der Tante Julie, mit dem schönen Namen Schäpperle.

    Warum ist Abel tot?

    Bibel und Krippenspiele

    Über die Einleitung in den Krippenspielen musste Wilhelm immer wieder nachdenken. Denn alle diese Aufführungen begannen damit, dass ein hartherziger Wirt der hochschwangeren Maria Unterkunft und Hilfe verweigerte. Das stand aber gar nicht in der Bibel. Es kam ihm vor, als suchten fromme Pharisäer einen, auf den sie zeigen könnten mit den Worten: „Seht diesen geldgierigen Wirt - ich an seiner Stelle wäre ein viel besserer Mensch gewesen". Zum Glück fiel nie auf ihn das Los, diesen bösen Menschen zu spielen. Ohnehin drängte es ihn keineswegs auf die Bühne, und so blieb er ein ruhiger Zuschauer, der nicht einmal seine Kritik am Stück laut sagte, denn er hatte gelernt, dass man alles, was mit der Kirche zu tun hatte, als gottgegeben hinzunehmen habe. So musste er allein und ungeprüft vor sich hin grübeln. Stoff genug gab es.

    Zu der gängigen Behauptung, Josef und Maria seien arm gewesen, fiel ihm ein, dass doch Josef ein Zimmermann gewesen war, also ein Handwerker. Handwerker waren nie arm, denn es hieß doch immer, Handwerk habe einen goldenen Boden. Und in der Bibel stand sowieso kein Wort darüber, ob der Josef Geld hatte oder nicht. Und wenn ein Gasthaus belegt ist, ist eben kein Platz mehr da, ob der Wirt ein weiches oder ein hartes Herz hat. Und da „alle Welt" unterwegs war um sich schätzen zu lassen, wie es bei Lukas hieß und wohl begründet war, wäre das gar nicht ungewöhnlich gewesen.

    Außerdem wusste Wilhelm aus Geschichten von Missionaren, die in der Kirche von fernen Ländern erzählt hatten, aus Büchern, die Forschungsreisende geschrieben hatten, auch von Karl May, dass noch im neunzehnten Jahrhundert im Orient die Reisenden oft in Karawansereien übernachteten, wo sie im Freien, in Zelten oder in offenen Schuppen kampierten und für ihre Verpflegung oft selbst sorgten. Nach der Bibel waren Maria und Josef offensichtlich in einer solchen Herberge. Das muss damals ganz normal gewesen sein. Gleich daneben standen dann wohl die Reit- und Lasttiere der Gäste, falls sie beritten waren – auch Marias Esel. Für die Tiere gab es dann wohl Futterkrippen. So eine Krippe war doch ein geradezu ideales Kinderbettchen. Und auf Stroh schlief man ja sowieso. Auch in Europa noch zweitausend Jahre später. Was war daran schlimm?

    Der Vater erzählte gerne aus der Sonntagsschule. Als er einmal einen seiner kleinen Schüler bat, die Lektion von der vorigen Stunde zu wiederholen, sprach der vom Kindermord zu Bethlehem durch den König Rodes. Vater Debrin verbesserte: Herodes. „Nein, sagte der Bub trotzig, „zu dem Lumpen sage ich doch nicht Herr.

    Auch dieses Thema regt Fragen an: Die Weisen aus dem Morgenland hatten wertvolle Geschenke gebracht, vor allem Gold, mit dem sich die neugebackenen Eltern das Leben erleichtern sollten und das leicht einzutauschen war. Wieso also waren Maria und Josef in den Weihnachtsspielen als Flüchtlinge plötzlich arm, zogen zu Fuß und mit nur einem Esel nach Ägypten, stets in Angst vor den berittenen Schergen des Königs, der zu Bethlehem andere Kinder hatte umbringen lassen? Sie hätten sich doch einen zweiten Esel leisten können für Josef, und einen dritten für Gepäck und ein bisschen Komfort für das wertvolle Kind. Vielleicht hatten sie das vernünftigerweise auch getan, denn die wertvollen Geschenke hatten sie ja wohl kaum achtlos in der Herberge liegen lassen.

    Warum hat Gott nicht geholfen?

    „Warum hat Gott dem Abel nicht geholfen? Als der Kain kam und zugeschlagen hat, hat Abel doch gerade gebetet. Näher kann man Gott doch nicht sein? Warum, hat Gott nicht eingegriffen?"

    Als er im Konfirmandenunterricht diese als eine seiner unpassenden Fragen an des Pastor stellte, wehrte der unwillig ab, als habe sich eine lästige Fliege auf seine Nase gesetzt.

    Langeweile war strafbar

    Geheizt wurde mit Holz und Kohle. Bauern aus dem Schurwald oder von der Alb zogen mit ihren Fuhrwerken durch die Straßen, um Brennholz zu verkaufen. Hinterher kam die Säge angefahren. Mit „Holz vor dem Haus verdiente ihr Besitzer sein Geld. Die Säge war ein Gefährt, das aus einer Eisenplatte, einem lauten Dieselmotor und vier Rädern bestand. Wenn sie durch die Straßen fuhr, saß der Fahrer auf der Eisenplatte, von wo aus er ein kleines Lenkrad bedienen konnte. An der Arbeitsstelle wurde dann an gleicher Stelle ein Sägeband aufgelegt. Es war endlos und lief über zwei große Räder. Man zersägte die Meterstücke vom Bauern zu handlichen „Rugeln. Die haben dann abends die Väter mit Axt und Beil zu Scheitern gespalten. Natürlich war ein Bub unendlich stolz, wenn ihm der Vater zum ersten Mal ein Beil in die Hand gab, damit er es auch mit dem Holzspalten versuche. Wilhelm erinnerte sich lange an die sommerliche Hitze, bei der es zum Trocknen auf die Bühne getragen werden musste. Man musste es zu mannshohen Stapeln beigen mit sorgfältig geschichteten stabilen Pfeilern an den Enden: immer eine Schicht gleichmäßiger Scheite längs und dann eine quer. Der Spaltblock hatte seinen Platz neben der Hauswand, denn im Winter durfte Wilhelm aus den Scheitern Spächele machen zum Anfeuern, was einige Geschicklichkeit erforderte. Er empfand es daher als Ehre, dass der Auftrag dafür immer an ihn ging. Dafür bekam er dann allemal ein leichtes Küchenbeil in die Hand gedrückt, dessen lange Schneide auch die Treffsicherheit erhöhte.

    Kohlen kamen erst kurz vor dem Winter, denn das Geld dafür gab man erst aus, wenn es nötig war. Nur wenige Nachbarn ließen sich die Kohlen von den Fahrern in schweren Säcken gleich in den Keller tragen. Das kostete nämlich extra.

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