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KITT(Y)LECTRIC und die Gaukler
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KITT(Y)LECTRIC und die Gaukler
eBook413 Seiten5 Stunden

KITT(Y)LECTRIC und die Gaukler

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Über dieses E-Book

Auf der Suche nach ihrer Mutter, die über Nacht spurlos verschwand, begibt sich die kleine Kitt auf eine ungewisse Reise in die Nacht. Verloren in einer kalten Außenwelt, die nur auf den ersten Blick der unseren gleicht, sich vielmehr aus ihrem Unterbewusstsein speist oder vielleicht auch Lichtjahre entfernt liegt, entfaltet sich eine dunkle Geistergeschichte für Erwachsene, deren naive Kindlichkeit wie ein Fels in sündiger Brandung steht. 
In einer Welt, in der sich Heldentum zumeist über Gewalt definiert, entwickelt sich die Flimmerkatze von Buch zu Buch zu einem Gegenentwurf, dem Versuch, eine andere Art von Heldenfigur zu etablieren, eine nicht materielle Konstante in unbekanntem Terrain, eine beste Freundin für die dunkelsten Stunden.

Kittylectric und die Gaukler ist Ouvertüre für den rabenschwarz-neonfarbenen Kosmos der Kinderwald Gruppe (!) – Ein Opus über die schier grenzenlose Welt zweidimensionaler Filme und solcher, die nie gedreht wurden, flimmernder Fernsehkästen, die einst mehr Lebenszeit verschlangen und einen größeren Einfluss auf das Unterbewusstsein ausübten, als sich der betroffene Konsument heute eingestehen möchte. Ein mehrteiliger Fiebertraum über die Blütezeit der Videotheken, mit all ihren Abgründen und konservierten Geistern, fiktiven wie realen, lebenden wie toten.

Oliver Rennicke studierte Schauspiel sowie Film- und Fernsehregie, arbeitete als Funker, Disponent, Redakteur und freier Journalist, liebt die Abgeschiedenheit des Waldes und die Gesellschaft seiner Katzen. Kittylectric und die Gaukler ist sein erster Roman.
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Edizioni
Erscheinungsdatum30. Apr. 2023
ISBN9791220140669
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    Buchvorschau

    KITT(Y)LECTRIC und die Gaukler - Oliver Rennicke

    Prolog

    »Schnell! Beil Dich!«, schrie ein aufgebrachtes, kleines Mädchen mit rosa Schleife im pechschwarzen Haar ihren laut dröhnenden Fernseher an. Sie saß allein auf dem Bett in ihrem dunklen, winzig kleinen Kinderzimmer. Lediglich das Geflacker und Geflimmer, das von dem quadratischen Kasten ausströmte, drang wie ein Fremdkörper in ihre heile Kinderwelt ein. Es ließ sie in einem ungesund grellen Licht erstrahlen, das schmerzhaft in ihren Augen brannte.

    Der Film, der sie so sehr in Aufruhr versetzte, begann mitten im Geschehen. Es gab weder einen einleitenden Anfang noch sollte der Film, wie es für das Medium üblich war, nach ein paar Stunden in einem ausklingenden Ende münden. Anders als bei allen anderen Filmen, die sie in ihren jungen Jahren mit Begeisterung verschlungen hatte, wurde in diesem Film keine Handlung erzählt. Dieser Umstand sollte seiner polarisierenden Wirkung jedoch keinen Abbruch tun, ganz im Gegenteil: Für das kleine Mädchen hatten sich die Grenzen zwischen Bildschirm und Realität komplett aufgelöst. Ein paralleler Blickwinkel, wie ein Spiegel in eine andere Welt, tat sich vor dem Kind auf. Die Kamera wurde zu ihrem dritten Auge.

    So raste sie über die breite Straße einer Großstadt hinweg. Häuserschluchten huschten schwindelerregend an ihr vorbei. Alles spiegelte sich seitenverkehrt auf den Pupillen des gebannten Kindes. Ein befremdlicher, überaus beunruhigender Anblick, der den Anschein erweckte, als tauche die Kamerafahrt über ihre Netzhaut tief in ihr Innerstes ein, als stoße der Film ein Tor zu ihrer kindlichen Seele auf.

    »Beil Dich!«, rief das kleine Mädchen, nun noch aufgebrachter, in das stroboskopartig aufflackernde Kinderzimmer.

    Ihre Worte richteten sich an Mangrowjong, einen über drei Meter großen Schattenmann mit langen, spitz emporragenden Ohren, die an die ägyptische Gottheit Anubis erinnerten. Er war ihr heimlicher Beschützer, der sie in vielen furchteinflößenden Nächten vor den Monstern unter ihrem Bett oder in ihrem Kleiderschrank bewahrt hatte. Seine unheimliche Gestalt sollte die Bösen stets das Fürchten lehren, auch wenn ihn niemand außer dem kleinen Mädchen je zu Gesicht bekam.

    Vor ihrem seitenverkehrten Kameraauge schwebte Mangrowjongs schwarze, konturlose Silhouettengestalt, in rasantem Tempo, über die Straßenschluchten von

    ›StadtX‹, jener unerreichbaren Metropole aus dem Unterbewusstsein, hinweg. Etwa in Ampelhöhe ließen beide das Stadtgetümmel unter sich vorüberziehen.

    »Oder es dauert wieder einhundertsiebenundzwanzig Jahre bis sie erneut ein Treffen einberufen!«, fügte das kleine Mädchen, gehörig unter Strom stehend, hinzu und kaute dabei nervös auf ihren Fingernägeln herum. 

    Unablässig suchend geisterte der schwebende Schattenmann voraus, von Gasse zu Gasse, von Kreuzung zu Kreuzung. In den Worten des Mädchens lag eine große, innere Unruhe, die dafür Sorge trug, dass sich das Tempo ihres Gleitfluges stetig erhöhte. Mangrowjong wurde zu einer scharfen Pfeilspitze, an deren glatter Oberfläche sich das Mädchen nur mit Mühe festzuhalten vermochte. Wie vor einen imaginären Karren gespannt, ließ sich der schwebende Schatten von dem kleinen Mädchen lenken. Wo auch immer er herkam, was auch immer er in dem Kind sah, er hätte alles für sie getan.

    Eben noch auf dem Bett in ihrem sicheren Kinderzimmer, fand sich das Mädchen sogartig im Geschehen des Films wieder. Für jeden Erwachsenen, der von außen den Raum betrat, mochte sie, wie ein ganz gewöhnliches Kind aussehen, das begeistert auf den Fernseher starrte, doch im Inneren schwebte sie selber durch die Gassen der geheimnisvollen StadtX

    In StadtXfand sich das kleine Mädchen in einer Welt wieder, die sie nie zuvor physisch betreten hatte. Nach allem, was sie aus Filmen aufgeschnappt hatte, assoziierte sie mit den Bildern eine osteuropäische Metropole, einen Hauch Kiew, einen Hauch Moskau, zu gleichen Teilen sowohl St. Petersburg wie auch Prag. Viele altgotische Bauwerke voll melancholischer Schwere, Bauwerke, die im Laufe der Zeit viel miterlebt hatten und ihre ganz eigenen Geschichten erzählen würden, wären es nicht bloß die Geister der Vergangenheit, die davon Zeugnis ablegen konnten. Ein trüber, nasskalter Dämmertag hing einen bedrückend grauen Schleier über die alten Mauern. Unwirklich lange Gassen umgeben von lückenlos hohen Altbauten, Abzweige an Abzweige, Kreuzungen, die wieder zu neuen Kreuzungen führten und in verschachtelten Gassen und großflächigen Plätzen für Militärparaden mündeten. Dürrastige Bäume, an denen kein einziges Blatt zu finden war, zeugten vom weit vorangeschrittenen Herbst. Wie verknöcherte Skeletthände ragten sie einsam zwischen den Mauerwerken empor.

    An einer breiten Hauptkreuzung angelangt, brach Mangrowjong seinen Flug abrupt ab. Ein prunkvoll verziertes Opernhaus stach majestätisch vor dem ungleichen Gespann empor. Das monumentale Bauwerk bildete einen eigenen Mikrokosmos, eine Welt in der Welt, die das kleine Mädchen und ihren schwebenden Begleiter dazu einluden, sich selbst von innen ein Bild zu machen. Die wärmenden Augen des Mädchens wurden größer. Ein Feuer der Begeisterung flammte darin auf, im Kontrast zu ihrem Begleiter, der überhaupt keine Augen besaß.

    Ebenso verschwenderisch in Größe wie auch im Prunk gestalteten sich erwartungsgemäß die Innenräume des Opernhauses, wobei weniger von Räumen als vielmehr von weiten Fluren, die in unwirklich dimensionierten Hallen mündeten, die Rede sein musste. 

    Das kleine, dunkelhaarige Mädchen und ihr imaginärer Schattenfreund durchstreiften einen menschenleeren, historisch überladenen Seitenflügel mit Museumscharakter. Trüb blasses Tageslicht fiel durch die schweren Gardinen ein. Ein blaugrauer Lichtschleier färbte das antike Mobiliar und verlieh ihm eine bedrückende, durch und durch unheimliche Note.

    In jenen Räumlichkeiten sollte ein geheimes Treffen von historischer Tragweite abgehalten werden. In verborgener Tradition luden die sogenannten Gauklerzur feierlichen Zeremonie. Dabei handelte es sich um eine winzige Gruppierung, die vor den Augen der breiten Öffentlichkeit, von je her, ungesehen oder zumindest unerkannt umhergewandelt war. Die wenigen Individuen, die mit diesen Entitäten, über die Jahrhunderte verstreut, in Berührung kamen, beschrieben sie in ihren Überlieferungen recht vage, teils sonderbar und unergründlich, teils unterhaltsam und komisch, doch stets als extrem gefährlich. Als wiederkehrendes Motiv war von einem fortwährend umherziehenden Zirkusvolk die Rede. Man musste jedoch schon sehr genau hinsehen und im Vorfeld wissen, nach welchen literarischen Querverweisen man zu suchen hatte, um eine Verbindung zwischen den Epochen aufbauen zu können. 

    Ein stämmiger, übertrieben geschminkter Clown traf auf eine alte, bärtige Dame, die gemeinhin bloß Die Hexe, selten auch die Ladie, genannt wurde, sehr selten. Ihr zusammengefallenes Gesicht war von so vielen Flecken und Falten übersät, dass es mitunter an das Gesicht einer Schildkröte oder an einen Mondkrater erinnerte. Ihre Augen blieben stets im Schatten verborgen. In gekrümmter Körperhaltung und in ein vor Dreck stehendes Lumpentuch gehüllt, erinnerte sie an das Bild klassischer Hexenerscheinungen, das über die Jahrhunderte in unzähligen Märchenbüchern und Filmen geprägt wurde.

    Möglicherweise fanden all die klischeebehafteten Fabel- und Märchengestalten gerade in diesen Gauklern ihren Ursprung, berücksichtigte man alleine die Jahrhunderte währenden, ganze Menschenleben verschlingenden Zeiträume zwischen ihren Geheimtreffen. 

    Zu den beiden unwirklichen, einem Fiebertraum entsprungenen Erscheinungen gesellte sich der sogenannte Manege-Führer, auch schlicht Der Magiergenannt, ein nobler Mann mittleren Alters, von schlanker Statur und unnahbarer Aura. In einen vornehmen, wenn auch leicht ramponierten Frack gekleidet, gab er stets den kultiviert gebildeten Gentleman von Welt, doch die Abgründigkeit hinter seinen gelben Schlangenaugen ließ sich schwerlich überspielen. Zur Begrüßung zog er seinen hohen Zylinder und verwies, mit dem knochig langen Zeigefinger auf den Lippen, auf absolutes Stillschweigen, solange man sich noch an der Oberfläche befand. Sein Stab und sein Spitzbärtchen bekräftigten zudem den Anschein, dass es sich beim Manege-Führer um einen klassischen Zirkusmagier handeln musste, wenn seine Zaubertricks auch auf den ersten Blick meist gar nicht als solche zu erkennen waren.

    Sie alle stellten Figuren dar, die, auf den ersten Blick, gewisse vertraute Assoziationen weckten. Dennoch haftete diesen Gestalten ein fremdartiger Beigeschmack an.

    In ihrer unmittelbaren Nähe umgab sie ein schauerliches Gefühl des Unbehagens, welches sich am ehesten mit der Assoziation an Geisterwesen aus dem Reich der Toten vergleichen ließ.

    Bei dem, was der schwebende Schattenmann und das kleine Mädchen, aus dem Verborgenen heraus, belauscht hatten, schien es sich bei diesem Geheimtreffen um irgendeinen uralten Zigeunerfluch zu handeln.

    Der Zirkusmagier öffnete eine geheime Schranktür, hinter der sich eine steile Wendeltreppe verbarg, die schier endlos in ein bodenloses Loch hinabführte. Ohne ein Wort zu verlieren, führte er die anderen Gaukler in den Abgrund. 

    Am Ende der Treppe angelangt, fanden die Besucher einen grässlich verdreckten Kellerflur aus uralten Backsteinen vor. Die gewölbte Decke war beklemmend niedrig und voller Spinnweben, die vor milchig verschwommen Kellerlichtern zu schauerlichen Schattenspielen aufgeplustert wurden.

    Die drei mysteriösen Gestalten wandelten schweigend durch das gruftartige Gewölbe. Die beiden Eindringlinge folgten ihnen heimlich, in größerem Abstand.

    Plötzlich wurde dem kleinen Mädchen schwarz vor Augen. Ein seltsames Phänomen spielte sich vor ihren Augen ab: Wie die Bewegungen eines zu langsam ablaufenden Stummfilmes, so verfremdete sich in den Kellergewölben auch zunehmend die Realität der Gaukler. Ihr menschliches Umherschreiten wurde durch abgehackte Bewegungen permanent unterbrochen. Nach und nach erweckte es in dem kleinen Mädchen den Anschein, als wollten die Gaukler lediglich für Menschen gehalten werden und wären, ebenso wie der geheime Kellergang, in Wahrheit einem verborgenen Zwischenreich entsprungen, einem Reich, das sich aus den schwarzweißen, ausgeleierten Bildern uralter Horrorfilme speiste.

    Dem Mädchen und ihrem Schattenfreund, die den Gauklern mit zunehmend geringerem Abstand folgten, eröffnete sich eine Welt, die tief unter der Oberfläche schlummerte und den Blicken der meisten Menschen stets verborgen blieb. Ein Schlupfloch in die Zwischenwände der Realität.

    Vom Gewölbe aus gelangten die drei Abgesandten der Gaukler, die recht wenig mit tatsächlichen Gauklern gemein hatten, in einen kleinen, menschenleeren Theatersaal.

    »Ein Theater unter dem Theater«, bemerkte das kleine Mädchen erstaunt, als sie die Gaukler eingeholt hatte.

    Dasselbe unwirklich schwere Gaslicht warf seine Schatten über die leeren Sitzreihen. Geisterhaft aufblitzend nahmen die Hexe und der Clown in der ersten Reihe Platz, während der Magier, ebenso gespenstisch aufblitzend, die kleine Bühne des Kellertheaters betrat. In einem Moment noch die Stufen hinaufsteigend, stand er, nur ein Aufblinzeln später, bereits in der Mitte der Bühne, als wäre ein Stück aus einem Film herausgeschnitten worden. 

    Der Magier kündigte mit seinem Zauberstab die Präsentation einer Gestalt an, die sich, allem Anschein nach, hinter den roten Vorhängen versteckt hielt. Mit ausladenden Gesten mimte er den großen Entertainer und stellte unmissverständlich unter Beweis, dass vereinnahmende Unterhaltungskunst zu seinem festen Repertoire gehörte.

    Das kleine Mädchen, das sich mit ihrem spitzohrigen Begleiter hinter der letzten Sitzreihe versteckt hielt, stand bereits nach wenigen Worten unter dem Bann des Magiers. Sie wartete gespannt auf die Auflösung seiner großen Überraschung, auf dass, was sich hinter dem Bühnenvorhang verbarg.

    Vorsichtig trat schließlich eine zarte Schattensilhouette aus dem Schutz der Dunkelheit hervor und gesellte sich, ebenso zögerlich, zu dem Magier auf die Bühne. Es handelt sich um einen schlanken, überaus graziösen Frauenkörper, daran bestand bereits in ihrem Silhouettenspiel nicht der geringste Zweifel. Sie trug einen hautengen Ganzkörperanzug in schwarzen und weißen Streifen, wie bei einem Zebra. Bei genauerer Betrachtung handelte es sich jedoch weniger um einen Anzug, als vielmehr um eine, auf der Haut aufgetragene Ganzkörperbemalung oder Die vielleicht außergewöhnlichste Haut der Welt, wie das kleine Mädchen fasziniert feststellte. Die schwarzen und weißen Streifen zogen sich von ihren Füßen, über ihre langen Beine, den schmalen Bauch bis hin zu ihrem Gesicht. Erst ihr pechschwarzes Haar, eine wild zerwühlte Bob Frisur, vermochte diesen Streifen ein Ende zu setzen. Ebenso wie ihr Haar, trugen auch die pechschwarzen Farbringe um ihre Augen dazu bei, ihr Antlitz ungemein zu verfinstern. Mit ihrem fein abgestimmten Pony bildeten sie einen Einklang und verliehen ihr einen bedrohlich intensiven Blick. Es war der Blick eines Raubtieres kurz vorm Packen der Beute und gleichzeitig die gepeinigte Seele eines Kriegsopfers, das Zweitausend-Yard-Starren eines Mörders im Körper einer unwirklich katzenhaften Traumerscheinung. Tatsächlich deuteten ihre dunkelroten, blutverwischten Lippen daraufhin, dass sie zuvor Beute gerissen haben musste. Und doch lag eine tiefe Seelenwärme in diesen Augen, eine Aufrichtigkeit, die all diese vermeintlichen Eindrücke, die ihr von außen auferlegt wurden, mit einem Wimpernschlag beiseiteschob.

    Abgesehen von der Farbe ihrer Körperbemalung und einem darüberliegenden, bläulich verwaschenen Schimmern, schien die geheimnisvolle Schönheit keine menschlichen Kleidungsstücke zu tragen. Um ihre Handgelenke befanden sich dünne, schwarze Bändchen, an denen seltsame Metallgeräte, etwa in der Größe eines Mobiltelefons, befestigt waren, sowohl am linken wie auch am rechten Handrücken. Weitere Bändchen schnürten sich zwischen ihren Fingern hindurch und führten auf den Innenseiten ihrer Handflächen wieder zusammen. Dort besaß sie augenscheinlich die Möglichkeit, diese kleinen Kästchen, aus denen immer wieder vereinzelte Funken herausschossen, per Knopfdruck zu aktivieren. 

    »Einst eine Katze, die in einer Todesfalle ertrank, komme ich nun mit den Funken aus dem Fernseher. Nennt mich Kittylectric!«, gurrte eine bedrohliche Stimme durch das Theater. Ohne dass die Katzenfrau ihre blutigen Lippen bewegte, schien es offensichtlich, dass die körperlose Stimme im Raum zu ihr gehören musste.

    »Nun, ich hoffe du hast alle Türen fest verschlossen, Kittylectric?«, fragte der undurchschaubare Magier mit einem leicht verschmitzten Grinsen im Gesicht. »Türen niemals auch nur einen Spalt geöffnet stehen lassen!«

    Die mysteriöse Katzenfrau wandte ihren geschärften Blick zu einem der Seitenaufgänge. Hinter den Bühnenvorhängen knarrte eine angelehnte Tür, die nur sie, aus ihrem Blickwinkel heraus, erfassen konnte.

    »Wenn du noch länger auf diesen Spalt starrst«, fuhr der Magier fort, »dann siehst du ihn, den Beobachter, das

    Auge dahinter.«

    Beinahe zeitgleich zum gesprochenen Wort des Magiers realisierte die Katzenfrau, mit ihren ebenso bildschönen wie gestochen scharfen Augen, dass tatsächlich eine Gestalt hinter der Tür hockte. Ein rotes, blutunterlaufenes Wolfsauge lugte verstohlen hinter dem schmal geöffneten Spalt hervor, ein Auge, das sich erst bei genauerer Betrachtung, sichtbar von der Dunkelheit abhob.

    »Ihr müsst wissen, Dämonen hängen wie Kletten an mir«, erklärte die vom Körper getrennte Saalstimme der Katzenfrau, die sich selber Kittylectric nannte. Sie wandte sich an jeden einzelnen der Gaukler, die wiederum ihr Verhalten genauestens musterten und studierten. Unter ihrem Bann schienen sie die gefährliche Katzenfrau gegen ihren Willen gefangen zu halten.

    »Du solltest HERRN BLUTREGEN nicht unterschätzen! Mein Kindchen, welche Art von Dämonen meinst du eigentlich?«, fragte die alte Hexe mit ihrer belegt krächzenden Stimme. Eine harmlose, großmütterliche Güte lag trügerisch in ihrem Gehabe.

    »Die Dämonen aus den Filmen, der Musik, jeglicher Kunst, die mich früher süchtig machte, mich mit ihrer Magie faszinierte und mich daran hinderte mein Leben aktiv zu leben, so wie es meiner damaligen Natur entsprach«, erklärte die Stimme der Katzenfrau. »Mein Alltag war so stumpfsinnig und leer, aber machen wir uns doch nichts vor, diese Abhängigkeit von künstlichen Welten ist unnatürlich und irrational. Sie gaukelt einem Magie vor, die sich als Luftschloss verflüchtigt, wenn man wirklich nach ihr greift.«

    »Sieh dich doch an!«, unterbrach der Magier. »An dir ist doch alles ganz und gar unnatürlich. Du bist auch nur das Produkt deiner eigenen Süchte.«

    »Ja, das wird mir jetzt schmerzlich bewusst«, stimmte die Katzenfrau zu, wobei sich ihre Stimme erstmals lippensynchron mit ihrem Körper verband. »Doch wofür sonst lohnt es sich zu leben? Ich habe es versucht. Das Leben hatte seine Chance und es hat mich immer wieder abgelehnt.«

    Der Magier wandte sich der Hexe und dem Zirkusclown zu. Er flüsterte ihnen etwas zu, dann wurde er laut, ging zur Katzenfrau und erklärte, einem Oberlehrer gleich, sein Testobjekt. »Über Elektrizität, hier vornehmlich über das Medium des Fernsehens, kommuniziert nun die Unnatürliche mit der Menschenwelt. Sie könnte mit ihrer Elektrizität, ihrem inneren Licht, jeder Macht den Garaus machen, könnte jeden einfach zu Tode erschrecken oder aber Kindern Trost spenden, Erwachsene in die Fantasiewelt ihrer kindlichen Träume zurückführen. Aus ihr könnte die große Retterin der Seelen werden. Ihre bloße Umarmung, nein, davon soll sie lieber noch nichts wissen.«

    Wie aufs Stichwort hob sich der Bühnenvorhang und ein Kinderchor aus vier Jungen und vier Mädchen kam dahinter zum Vorschein. Die Kinder waren einheitlich in weiße Schalfanzüge und Schlafhemden gekleidet und wurden von einem tiefblauen Scheinwerferlicht angestrahlt. Ein rundlicher Knabe, der sich von der Statur her deutlich vom Rest des Chores abhob, gab den Ton vor. Das ganze Bühnengeschehen glich mehr und mehr einem Theaterstück.

    Während Kittylectric, wie eine Bildstörung auf dem Fernseher, zunehmend unscharf und halbdurchsichtig zu flimmern und zu rauschen begann, stimmte der Kinderchor, unter Leitung des pummeligen Knaben, sein Lied oder vielmehr seinen melodischen Kinderreim an: »Wenn im Fernsehen das Bild ausfällt, du’s nur noch schneien siehst, dann nimm dich in Acht. Sieh nicht zu lange hin, denn sonst blickt Sie über den Fernseher zurück. Bist du rein im Herzen, wird sie dich in Verzückung versetzen. Bist du aber nicht rein im Herzen, dann, ja dann wird sie dich sehr, sehr schmerzen.«

    Kittylectric blickte zu dem kleinen Mädchen und Mangrowjong, die sich hinter den Stühlen der letzten Reihe versteckt hielten. Ihre geschärften Raubtieraugen starrten in die verängstigten Augen des Kindes, ein gegenseitiger Blick in den Spiegel, dem beide nicht lange standhalten konnten. 

    In bedrohlicher Lauerhaltung wandte sich die Flimmerkatze erneut den Gauklern zu. »Ihr präsentiert mich wie ein Schauobjekt. All der feierliche Zirkus hier, doch in Wahrheit habt ihr keine Ahnung, welchen Dämon ihr heraufbeschworen habt«, sagte Kittylectric kühl und bedrohlich.

    Mit einem zischenden Funken verschwand sie und ließ dabei sämtliche Scheinwerfer zerspringen, sodass der Theatersaal in vollkommene Dunkelheit gehüllt wurde.

    Haben Helden Familie?

    »Der Mensch ist bloß ein Behältnis. Darin könnte sich alles verbergen vom schleimigsten, ekelerregendsten Abschaum bis hin zu purer Magie, Traumgeschöpfe von überirdischer Schönheit«, hauchte Kittylectrics bedrohliche Raubtierstimme in den nasskalt beißenden Wind des Spätherbstes. Ein unsichtbarer Peitschenhieb blies das Laub von einer verknöcherten, bereits zu großen Teilen kahlgefegten Eiche.

    Hinter dem nackten Astwerk erstreckte sich ein Wohnblock, der charakteristisch die ärmlichen Regionen Osteuropas widerspiegelte. Von Aussehen und Größe her einem durchschnittlichen europäischen Neubaublock entsprechend, bloß heruntergekommener und mit einem morschen, Einsturz gefährdeten Dachgeschoss. Schwere, vergilbte Gardinen aus längst vergangenen Tagen filterten das ohnehin viel zu trübe Tageslicht, das spärlich in die zahllosen Zimmer einfiel. Ringsum den breitflächigen Betonklotz erstreckte sich ein Meer bräunlich grauen Herbstlaubes, das sich symbiotisch in das trostlose Gesamtbild einfügte.

    Laut brummend rollte ein Panzer über die mit Laub und Schlaglochpfützen übersäte Straße. Wie die sprichwörtliche Axt im Walde durchbrach die Maschine die trügerische Stille. Im Land herrschten kriegerische Auseinandersetzungen, die eine ständige Militärpräsenz auf die Tagesordnung riefen.

    Genau wie Mangrowjong, schwebte nun auch die Katzenfrau, als ein geisterhafter Schatten, durch die Lüfte, federleicht, wenn nicht gar gewichtlos. Im Gleitflug sauste sie über den Panzer hinweg und näherte sich, in hohem Tempo, dem Wohnblock.

    Wieder legte sich ihre ruhige Raubtierstimme auf den eisigen Herbstwind: »Eine Familie in einer der vielen kleinen Wohnungen. Eine Geschichte von vielen kleinen Geschichten, die niemand erzählt, die nie jemand, außerhalb dieser Familie, je zu hören bekommen wird.«

    Mühelos drang ihr geisterhafter Körper durch das Mauerwerk, von Stock zu Stock, von Wohnung zu Wohnung, bis sie schließlich in einem der unzähligen kleinen Domizile zum Stehen kam. Wieder raunte ihre körperlose Stimme durch den Raum, während unter ihr eine Frau mittleren Alters gerade damit beschäftigt war, Speisen in einer viel zu beengten Küche zuzubereiten.

    »Eine Mutter lebt alleine mit ihren beiden Kindern. Der Vater hat diese Familie für seine neue Familie verlassen. Er hat Kinder mit einer anderen Frau, die er mehr liebt, sowohl die andere Frau als auch die anderen Kinder. Denn diesmal sind es endlich Wunschkinder, wahrhaftige Wunschkinder.«

    Hektisch sprang die Mutter in der schmalen Küche herum. Die Überarbeitung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie öffnete ein hoch gelegenes Schrankfach in der unmittelbaren Nähe des für sie unsichtbaren Eindringlings. Hastig tastete sie nach einem wackligen Tellerstapel und als wären ihre Finger plötzlich taub geworden, griff sie in die Luft und ließ die Teller fallen. Mit einem lauten Knall zersprang das Geschirr auf dem Küchenboden.

    Verzweifelt sackte die Mutter in sich zusammen, um die Scherben aufzusammeln, während sie von ihrer stillen, an der Zimmerdecke schwebenden Besucherin dabei beobachtet wurde.

    »Ich kenne diese Frau«, bemerkte Kittylectric verblüfft. »Die Mutter dieser Familie muss alleine für alles aufkommen. Sie geht täglich zehn Stunden arbeiten, um die Miete zu zahlen und ihren beiden Kindern einen gewissen Lebensstandard bieten zu können. Wochenenden und Feiertage existieren für sie überhaupt nicht. Sie übt sogar noch einen zweiten Job aus und muss auch hin und wieder nachts arbeiten. Zumindest war das früher so! Ja, ich kenne diese Frau, meine Mutter!« 

    Gern hätte sie sich der Frau genähert, sie tröstend in den Arm genommen und ihr gesagt, dass alles gut werden würde, doch so angestrengt sie auch die Arme nach ihr ausstreckte, zog es sie doch immer wieder von ihr fort. Als versuchte sie mit Schwimmreifen auf den Grund des Pools zu tauchen. Auch ihre Mutter entfernte sich zunehmend von ihr. Sie schien so sehr an ihre nüchterne Realität gebunden, dass sie die Präsenz der geisterhaften Tochter gar nicht wahrnehmen konnte.

    Mit der Erkenntnis, hier nicht mehr als einen schwachen Luftzug darzustellen, ließ Kittylectric die verzweifelte Frau allein in der Küche zurück. Sie kehrte ihrer Mutter den Rücken zu und schwebte durch eine weitere Wand in einen Nebenraum, in ein ebenso schmales, wie spärlich eingerichtetes Wohnzimmer. Dort saßen zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, auf dem Sofa. Völlig vertieft starrten die beiden auf einen veralteten Fernsehapparat. Eine schwarzbraun gescheckte Katze schlief eingerollt in der gegenüberliegenden Ecke des Sofas.

    Das Bild flimmerte und rauschte, dennoch tat dies der hypnotischen Wirkung, die es auf die beiden Kinder ausübte, keinen Abbruch. Einzig die Katze blieb vom Geschehen gänzlich unbeeindruckt. Schnurrend rollte sie sich auf den Rücken und streckte alle Glieder von sich.

    »Das ist ihre Tochter!«, hauchte die schwebende Flimmerkatze ebenso leise wie bedeutungsschwanger in den Raum, als würde sie es für sich selbst verinnerlichen, während sie das Mädchen genauestens unter die Lupe nahm. »Ihre Tochter, Kitt, das war ihr Name! Hier muss sie etwa vierzehn Jahre alt gewesen sein. Ich erinnere mich. Neben der Schule kümmerte sie sich tagsüber in erster Linie um ihren kleinen Bruder.«

    Nun wandte sich der geisterhafte Eindringling dem kleinen Jungen zu, der noch ein paar Jahre jünger und einen ganzen Kopf kleiner als seine Schwester war. »Jim! Ja, Jim war sein Name!«

    Als sich Kittylectric der kleinen Katze näherte, fuhr sie erschrocken zurück. Urplötzlich war der Stubentiger aus seinem Schlaf erwacht und blickte nun mit großen, angsterfüllten Augen in ihre Richtung. Offensichtlich wurde ihre Anwesenheit von dem Tier bemerkt. Selbst ihr geisterhaft durchlässiges Antlitz spiegelte sich auf den Pupillen der Katze wider.

    Auch das jugendliche Mädchen mit der rosa Schleife im Haar bemerkte, dass ihre Katze zunehmend unruhiger wurde. »Was ist denn los, meine Süße?«, fragte sie verunsichert.

    Als Kittylectric die Stimme des Mädchens vernahm, löste dies eine regelrechte Lawine an Erinnerungen aus, die nach und nach auf sie einströmten. »Die einzige Zuflucht für sie und ihren kleinen Bruder war damals diese flimmernde, schillernde Fernsehwelt«, bemerkte Kittylectric. »Sie hatte in ihrem kurzen Leben bereits so viele Filme gesehen, einige so oft, dass sie sie komplett mitsprechen konnte. Selbst bei Filmen, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, gelang ihr das von Zeit zu Zeit, als würde sie auf irgendeine verdrehte Art mit dem Fernseher kommunizieren.« Kittylectric hielt einen Moment inne. Nachdenklich fügte sie hinzu: »Oder er mit ihr.«

    Bei den beiden Geschwistern ging Kittylectric nun zunehmend auf Distanz und versuchte ihren Blicken auszuweichen. Anders als bei der Mutter, fürchtete sie, von den Kinderaugen eventuell doch gesehen zu werden. 

    Schließlich ließ sie auch das Wohnzimmer hinter sich und schwebte weiter, über einen engen Flur bis in ein Kinderzimmer. Der Weg vom Wohnzimmer zum Kinderzimmer dauerte in ihren Augen lediglich ein paar Sekunden, doch in der Zwischenzeit waren Jahre verstrichen. Jedoch in die entgegengesetzte Richtung, denn offensichtlich gelang es Kittylectric nicht nur durch Wände, sondern auch durch die Zeit, zu schweben.

    Das Mädchen Kitt, das eben noch mit ihrem Bruder im nachmittäglichen Fernsehprogramm zu versinken schien, saß nun in anderen Kleidern und deutlich jünger auf ihrem Bett. Sie war allein, einzig die schwarzbraune Katze leistete ihr Gesellschaft. Wieder wachte sie schnurrend in ihrer unmittelbaren Nähe über sie.

    »Du und dein imaginärer Freund, ihr seid zu tief unter die Oberfläche vorgedrungen«, seufzte Kittylectric, ohne auf Gehör zu hoffen. »Du hast einen Ort gesehen, der dich nicht mehr loslassen wird, nie wieder!«

    Das Mädchen hatte indes die Außenwelt um sich herum komplett ausgeblendet und tauchte in ihre Gedanken ab. Mit verstellter Stimme schien sie einen Dialog mit sich selbst zu führen.

    Die Katzenfrau lehnte ihren Rücken gegen die obere Ecke des Türrahmens und stemmte ihre langen Beine zur gegenüberliegenden Seite, viel zu lässig und entspannt, als dass sie tatsächlich Halt benötigte. 

    »Oh Kitt, versunken in deinen eigenen Traumwelten«, bemerkte das Gespenst mit einem schwelgenden Lächeln auf den Lippen. »Spinnst du dir gerade wieder deine eigenen Filme zusammen? Später wirst du versuchen einiges davon in Drehbuchform niederzuschreiben. Du hattest damals wirklich eine blühende Fantasie und jede Menge Talent. All die Bücher, die du nie schreiben wirst… Oh Kitt, wenn du wüsstest, welche Reise dir noch bevor steht!«

    Hänsel und Gretel

    »Hier war ich doch schon mal, genau an der Stelle«, wunderte sich Kitt, als sie sich mit ihrem kleinen Bruder einer orange leuchtenden Straßenlaterne näherte. In der Dämmerung eines finsteren Wintermorgens befanden sich die beiden Geschwister auf ihrem allmorgendlichen Weg zur Schule. Schnellen Schrittes eilten sie voran, als Kitt abrupt stehenblieb. Ein eisiger Wind pfiff gespenstisch, die Straßenlaterne summte und in dem jungen Mädchen breitete sich das seltsame Gefühl aus, dies alles schon einmal erlebt zu haben. 

    »Was ist? Komm schon, wir sind eh schon viel zu spät dran!«, drängelte ihr kleiner Bruder Jim, während er fest an Kitts Hand zog.

    »Weißt du, ich hab gewusst, dass du das sagen würdest und ich weiß auch, was du als Nächstes sagen wirst«, meinte Kitt. Von außen heraus hörte sie ihrer eigenen Stimme beim Erzählen zu. Wie bei einer Tonbandaufzeichnung schienen sich ihre Worte zu verselbstständigen.

    »Ach ja, das wollen wir doch mal sehen! Äh, Kirschkuchen!«, rief der kleine Jim spontan und musste grinsen. »Damit hast du nicht gerechnet, dass ich jetzt Kirschkuchen sage, oder?«

    Kitt schwieg. Nach einem angespannten Moment peinlichen Schweigens antwortete sie: »Doch, leider schon!« Wieder schienen ihre Worte einer Tonbandaufzeichnung entsprungen zu sein, wobei sie ihre eigene Stimme so dermaßen dumpf wahrnahm, als hielte sie sich beim Sprechen die Ohren zu. 

    Das Summen der Straßenlaterne und das Pfeifen des Windes wurden unterdessen zunehmend lauter. Die Spannung, die in der Luft lag, spitzte sich gespenstisch zu. 

    »Ich fürchte, ich weiß, was gleich passiert!« »Als ob!«, entgegnete Jim ungläubig.

    Kurz darauf verschlug es ihm abrupt die Sprache und er erschrak fürchterlich. Mit einem beißend lauten Zischen flackerte die Straßenlaterne in der Dämmerung auf und wieder ab, rhythmisch, als übermittelte sie eine Art Morsekode – zweimal hintereinander helles Aufleuchten, dann Dunkelheit, gefolgt von drei kurzen, schnellen Auf- und Abblenden, dann sieben Sekunden Dunkelheit, dann ein langes, schummriges Aufleuchten bei halber Intensität, ein kurzes Abblenden und der Spuk war vorüber.

    Erschreckend, doch bei weitem kein Einzelfall. Dasselbe Phänomen hatte Kitt in ihrer Vergangenheit schon öfters erlebt, meist in Verbindung mit ihrem Fernsehapparat. Ein Déjà-vu, gefolgt von exakt demselben pulsierenden Rhythmus, bei dem die Bildröhre mehrfach auf und abblendete, als würde ihr Déjà-vu damit zu einem Abschluss gebracht werden. Es löste in Kitt stets großes Unbehagen aus, eine unergründliche Furcht, als würde sie irgendjemand oder irgendetwas beobachten und ihre Déjà-vus auf diese Weise kennzeichnen, protokollieren, ganz egal, wo sie sich gerade befand. Nirgends war sie davor gefeit. Ihr Handy flackerte von Zeit zu Zeit in diesem Rhythmus, die Küchenbeleuchtung in ihrer Wohnung, ja selbst in der Schulkantine war ihr dieses seltsame Phänomen bereits begegnet. Dem mehrfachen Aufflackern, wenn sie sich einem Ort näherte oder ein elektronisches Gerät einschalte hatte sie zunächst keine große Bedeutung beigemessen. Es musste sie schon wesentlich länger begleiten, als es ihr tatsächlich bewusst war. Erst mit der Zeit fiel ihr auf, dass es immer in Verbindung mit einem Déjà-vu geschah und dass es sich stets um denselben, wiederkehrenden Rhythmus handelte.

    Langsam erwachte Kitt aus ihren abschweifenden Gedankenbildern, während ihr Bruder ihren Namen rief und sie wieder ins Hier und Jetzt zurückholte.

    »Komm schon, wir müssen weiter!«, schrie Jim ungeduldig. Vor ihnen lag noch immer ein weiter Weg zur Schule, in dieser überaus kalten, ungemütlichen Winterdämmerung.

    Überraschend, wie aus

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