Reisende: Menschen begegnen sich, verlieren sich und finden sich
Von Horst Helbig
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Über dieses E-Book
Im vorliegenden Buch lässt uns der Autor mit seiner Art zu erzählen genügend Raum für die eigene Fantasie bei der Reise durch das Leben.
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Buchvorschau
Reisende - Horst Helbig
Italienische Seealpen
Die drei Bergwanderer vom Alpinistenverein liefen den Grat hintereinander entlang. Der Pfad war schmal, aber bequem. Von weitem sah es aus, als ob ein sechsbeiniges Tier dort oben liefe, so sehr im Gleichtakt gingen die Männer. Sogar ihre Arme schwangen synchron. Die Gruppe wollte eine neue Route als Tourenempfehlung erkunden und da jetzt im Juni, nach Ende des langen Gebirgswinters, die Morgendämmerung schon früh anbrach, waren sie bereits um 5 Uhr früh gestartet. Bis zum Monte Saccarello waren es wohl noch etwa 500 Höhenmeter, davon die zweite Hälfte anspruchsvoll, alpines Klettern war also gefordert. Aber zum Gipfel wollten sie ohnehin nicht, die Tour sollte über die Grenze – also nach Westen – nach Frankreich führen.
Als sie den Kamm, noch weit unterhalb des Gipfels verließen, sahen sie am gegenüberliegenden Hang eine winzige, unscheinbare Hütte. Vermutlich ein Unterschlupf für die Ziegenhirten, die hier früher manchmal im Hochsommer ihre Tiere hatten weiden lassen. „Die schauen wir uns mal an", sagte der Anführer der drei. Gegen Mittag hatten sie die Hütte erreicht. Etwas windschief und sicher lange nicht genutzt stand sie da in der milden Frühsommersonne. Einer der Männer öffnete die Tür und trat ein. Er konnte nicht sofort erkennen, welches Bild sich ihm da bot, aber nachdem seine Augen sich an das Schummerlicht gewöhnt hatten, stolperte er rückwärts wieder heraus, sagte kein Wort, sondern deutete nur mit der Hand in die Hütte.
In der Ecke auf der primitiven Pritsche waren vier mumifizierte Schädel zu erkennen, die aus einer schäbigen, braunen Wolldecke herausragten. Offenbar hockten da vier Menschen aneinander gekauert unter dieser Decke. Es dauerte eine Weile, bis die Männer sich gefasst hatten und die Carabinieri anriefen.
Leipzig
Als er erwachte, war ihm etwas schlecht.
Das Zimmer mit der wenig definierbaren Mischung aus seinen und Waltrauts spezifischen Gerüchen, Zigarettenrauch und Alkohol trug auch nicht gerade zu seinem Wohlbefinden bei.
Georg versuchte, sich unter ihr fortzumogeln, doch sie spürte es und nahm ihre Beine von seinem Bauch, die sie irgendwann bei ihrer Herumkullerei im Schlaf dort abgelegt hatte und legte ihren Kopf auf seinen Arm. „Halb acht", murmelte er, nachdem er den Arm mit der Uhr wieder unter ihr hervorgezogen hatte.
Von Waltraut kam keinerlei Reaktion und so stand er auf und tappte zum Klo. Zu seiner Überraschung fand er Einweg-Rasierer und Rasierseife westdeutscher Marke im Toilettenschrank. Während er sich rasierte – und schnitt, weil er die Nassrasur nicht gewohnt war – grübelte er darüber nach, warum Waltraut wohl von dem bisschen Westgeld, das sie vielleicht hatte, ausgerechnet die für sie astronomisch teuren Westartikel kaufte. Er kam zu keinem Schluss.
Als er aus dem Bad kam, saß Waltraut bereits am gedeckten Küchentisch. „Magst du Käse oder Wurst? Er umarmte sie von hinten mitsamt dem Stuhl und mit einer Hand auf ihrer Brust unter dem Morgenmantel. „Beides
, und nach einem kurzen Blick auf den Tisch: „Oder ist das etwa selbstgemachte Marmelade? Ihr knappes ‚Ja‘ klangt wie: Natürlich, was denn sonst? Aber Georg bemerkte es nicht. Er aß hastig, sprach wenig; Waltraut aß nichts und blickte ihn unverwandt an. Als Georg sie bat, ihm nachher ein Taxi zu rufen, protestierte sie heftig: „Ich fahr dich selbstverständlich hin.
Was Georg nicht wusste war, dass Waltraut kein Telefon besaß; nicht jeder DDR-Bürger hatte eins. Er blickte demonstrativ zur Uhr. „Um neun muss ich auf dem Messestand sein", stellte er fest.
Gleichzeitig mit den Zigaretten zog er das Portemonnaie aus der Jacke, legte beiläufig einen Hundertmarkschein neben die Butter und bot Waltraut eine Zigarette an.
Sie rauchte schweigend und hing trotz seiner Monologe (oder wegen ihnen?) ihren Gedanken nach. Es ärgerte sie, dass sie errötete, als er das Geld auf den Tisch legte.
Als sie nach Leipzig zog, hatte sie sich bald mit Barbara aus ihrem Kombinat angefreundet. Waltraut hatte nicht den leisesten Verdacht, dass all die teuren Dinge, angefangen beim Jacobs-Kaffee bis zur Swatch-Uhr, die Barbara besaß, nicht, wie diese behauptete, von Verwandten aus dem Westen stammten.
Nach einem gemeinsamen Abend – Babsi hatte alles organisiert – im Tanz- und Ausflugslokal „Beim Schorschel" hatte Barbara ihr am nächsten Tag Vorwürfe gemacht: So blöd könne doch niemand sein und wenn sie Waltraut schon mitnehme, solle sie doch wenigstens keine Spielverderberin sein!
Natürlich war Waltraut nicht so blöd und hatte an dem Abend durchaus gemerkt, dass der Freund des Freundes, den Barbara mitgebracht hatte, sie eindeutig mit dem Ziel aushielt, mit ihr schlafen zu wollen. Sie war nur verwirrt gewesen über das ungewohnt gute Essen, die ungewohnte Musik, den ungewohnt guten Sekt und vor allem das viele Geld, mit dem die „Freunde" um sich warfen.
Vollends irritiert aber war sie, als sie bemerkte hatte, dass es Barbaras Geld gewesen war – Waltraut hatte gesehen, dass Babs den Freunden ihre Geldbörse zugesteckt hatte, als die Rechnung kam. Das hatte sie nun überhaupt nicht begriffen.
Als sie Barbara am nächsten Tag in der Mittagspause darauf angesprochen hatte, spöttelte diese: „Du kommst wirklich aus dem Tal der Ahnungslosen! Ich gebe das Geld für die Zeche, die Jungs bekommen die Quittung und ich die Hälfte des Betrages in Westmark! Kapiert? Mensch, der Kurs ist eins zu vier, Taxifahrer tauschen bis eins zu fünf, verstehst du? Waltraut hatte verstanden. Zwei Anläufe hatte sie noch gebraucht, den ersten „Freund
, den Michael, hatte sie richtig gern gemocht und als er zum Schluss der Messe abgereist war, hatte sie etwas geweint.
Für einen Parkplatz kamen sie zu spät. Georg war es recht. Er kletterte aus dem Trabant, reichte Waltraut seine Karte und sagte: „Ruf mich doch mal an, die Standnummer steht hinten drauf." Waltraut nickte und der Besucherstrom am Eingang verschluckte Georg.
Eilig umrundete er den leeren Stand eines volkseigenen Betriebes und schlängelte sich im Gang vor dem Stand seiner Firma zwischen den Besuchern durch.
„Sie sind heute spät, Herr Thiebur!, empfing ihn der Standleiter mit unbewegtem Gesicht. „Keinen Parkplatz gefunden
, schwindelte Georg und trug sich in die Liste ein, holte sein Namensschildchen und stellte sich demonstrativ neben den Info-Desk.
Ein Junge schob sich durch die Neugierigen zögernd auf ihn zu: „Tschuldigense, hamse Aufkleber? Georg sah ihn spöttisch an. „Nein! Und auch keine Anstecknadeln oder Kugelschreiber!
Der Junge zog den Kopf zwischen die Schultern und grinste mühsam.
Da sah Georg einen Limex-Mitarbeiter kommen. „Herr Rauch!, mit ausgestreckter Hand ging er auf ihn zu: „Ich freue mich, Sie hier begrüßen zu dürfen! Darf ich Sie zu einem kleinen Imbiss einladen? Gehen wir doch hinein, da können wir uns in Ruhe unterhalten.
Der ganze Messestand bestand nur aus einer äußeren Fassade mit Schaubildern der Produkte und Projekte, hinter der sich rund um eine gepflegte Bar Besprechungsraum an Besprechungsraum reihte. Routiniert führte Georg seinen Kunden an diese Bar, half aus dem Mantel, orderte zwei Longdrinks und Lachsbrote – „Oder darf es Tatar sein, Herr Rauch?, bot die bereitstehenden Zigaretten an und überreicht mit großzügiger Geste – „Ist doch nicht der Rede wert, Herr Rauch
– Anstecknadel, Kugelschreiber und zwei Aufkleber für den Herrn Sohn.
Nach den üblichen Fragen nach der Frau Gemahlin und der Bitte um Grüße an den Herrn Direktor die Frage: „Was macht unser Angebot, Herr Rauch? Dieser lehnte sich zurück und blickte an Georg vorbei. „Ja, wir sind noch nicht soweit, Herr Thiebur. Wir müssen noch auf die Mittel warten.
Georg ließ nicht locker: „Wann erwarten Sie die Mittel? Gibt es Termine?"
Es gab keine Termine und es gab keine Mittel, das Projekt war verschoben; aber wie sollte Rauch das nach zwei Lachsbrötchen und frisch gepresstem Orangensaft mit Gin sagen? Er wich aus, sprach von anstehenden Sitzungen und bat um ein weiteres Lachsbrötchen.
„Aber gern, Herr Rauch. Ärgerlich stand Georg auf und ging zur Theke. Er nahm Frau Schmied am Arm und sagte laut: „Wir hätten gern noch ein Lachsbrötchen, Frau Schmied
, und leise, „lassen Sie mich bitte ausrufen. Kaum saß er wieder am Tisch, ertönte dezent der Gong: „Herr Thiebur zur Information bitte, Herr Thiebur bitte.
Georg entschuldigte sich bei Rauch und verzog sich in das Sekretariat. „Gottseidank, stöhnte er, „diesen Schnorrer konnte ich nicht mehr ertragen! Na, Frau Reismann, Sie sehen heute ja wieder fantastisch aus!
Er umfasste ihre Hüfte und deutete ein paar Sirtaki-Schritte an. Frau Reismann, eine mollige Mittvierzigerin, strahlte. „Darf ich mal telefonieren?", fragte George mit Unschuldsmiene – beide wussten, dass Privattelefonate verboten waren. „Gehen Sie in die Kabine 2, Herr Thiebur, ich