Abschied unter kalter Sonne: Roman
Von Heny Ruttkay
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Über dieses E-Book
Die letzten Tage vor der Flucht gestalten sich als Spießrutenlauf. Wer soll von ihren Plänen erfahren? Machen sie sich am Ende trotz aller Vorsicht verdächtig? Die Situation spitzt sich zu, als Gabriel von einem westlichen Agenten angeworben werden soll, während parallel auch seine Schwester Klara einen Fluchtversuch startet …
Latentes Misstrauen, diffuse Gefahren und fatale Optionen: Eine Familie in der Tschechoslowakei plant ihre Flucht aus dem Überwachungsstaat hinter dem Eisernen Vorhang.
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Buchvorschau
Abschied unter kalter Sonne - Heny Ruttkay
1. Gabriel
Als er um die Ecke der Buchhandlung bog, hatte Gabriel wieder das Gefühl, dass ihm jemand folgte. Er blieb vor dem Schaufenster stehen, umklammerte die Henkel der schweren Tasche fester und betrachtete das Spiegelbild der Einkaufsstraße hinter seinem Rücken.
Die Sonne schien, der Schnee war bis auf die grauen Reste am Fahrbahnrand verschwunden und die meisten Passanten hatten ihre Mäntel aufgeknöpft. Niemand verlangsamte seine Schritte, niemand beachtete ihn oder drehte sich gar nach ihm um. Langsam zählte er bis zwanzig, ohne die Lippen zu bewegen.
Ein junges Paar mit einem Kinderwagen eilte vorbei, gefolgt von einem sehr alt wirkenden Mann mit Hut, der sich auf einen Stock stützte, und zwei Studenten mit schulterlangen Haaren, wie die Hippies, die er im Westen gesehen hatte.
Gabriel sah ihnen lange nach und merkte, dass er lächelte. Er atmete auf, ließ den Blick über die Bücher schweifen und stellte erfreut fest, dass sein Lieblingsdichter, ein früh an Tuberkulose verstorbener Arzt, neu aufgelegt worden war.
Er nahm die Tasche in die andere Hand, ließ den schlammbespritzten Trolleybus vorbeifahren und überquerte vorsichtig die Straße mit dem unebenen Kopfsteinpflaster. Als seine Frau drei Tage zuvor aus Ostberlin zurückgekommen war, hatte sie müde gescherzt, dass sie sich wie die Heldin eines Spionagefilms gefühlt habe.
»Bald ist alles vorbei, Angelika, nur noch sieben Tage.«
»Das wird die längste Woche unseres Lebens werden.«
Seit Monaten verfolgte sie beide die Angst wie ein aufdringlicher, unsympathischer Bekannter, ließ ihnen keinen Frieden, tauchte unerwartet in den alltäglichsten Situationen auf und überraschte Gabriel sogar im Schlaf.
Regelmäßig fuhr er gegen vier Uhr nachts hoch, mit klopfendem Herzen, und konnte sich nicht erinnern, was er geträumt und was ihn so erschreckt hatte. Hin und wieder griff er zu einem Schlafmittel, trotz Angelikas Missbilligung, aber es half nicht wirklich; die kleine, diskrete Tablette betäubte ihn nur, während die Angst ihn fest im Griff hielt und er sich noch ohnmächtiger und ausgelieferter fühlte.
Auf dem Hauptplatz spiegelte sich die Sonne in den Fenstern der alten Patrizierhäuser und blendete Gabriel, als er den Kopf hob, um Abschied zu nehmen. In den letzten Tagen hatte er stumm bereits vielen Straßen, Gebäuden und sogar einigen alten Bäumen Lebewohl gesagt.
Er war in dieser Stadt geboren und hatte gedacht, hier eines Tages zu sterben. Die Frau seines Lebens hatte Ostberlin verlassen, um nach Bratislava zu ziehen und eine schwere, ihr völlig unbekannte Sprache zu lernen, seine drei Kinder waren hier zur Welt gekommen und er liebte seine Arbeit am Institut.
»Sei nicht wie der Wurm, der sich in einen Apfel verbeißt und denkt, es gebe keinen besseren«, hatte sein Vater ihm früher immer wieder gesagt, um ihn zu ermuntern, abenteuerlich zu leben.
»Abenteuer in einem Ostblockland, unter der Diktatur des Proletariats?« Gabriel lachte. »Und wie macht man das?«
Sein Vater blieb ihm die Antwort schuldig, mahnte ihn aber regelmäßig mit den gleichen Worten, nicht in den eingefahrenen Gleisen zu bleiben. Das Thema schien für ihn erledigt, als Gabriel geheiratet hatte; er hieß Angelika herzlich in der Familie willkommen und verwöhnte seine Enkelkinder.
Vielleicht nahm er an, es sei zu spät für mich, dachte Gabriel, während er sich mit der Tasche umständlich durch die Drehtür des Hotel Carlton drängte. Wahrscheinlich hatte er es sich nicht einmal selbst eingestanden, aber er hatte mich aufgegeben. Die Partei hatte auch gedacht, die Falle sei nun zugeschnappt, deswegen haben sie mich zu den Kongressen in Amsterdam und Zürich fahren lassen, drei kleine Kinder und eine Frau saßen ja als Geiseln zu Hause.
Er war so in seinen inneren Monolog vertieft, dass er an der Garderobe vorbeieilte und erst an der Schwelle des Kaffeehauses merkte, dass er immer noch den Mantel und die Tasche trug.
Stumm wartete die Garderobiere mit den weißen Haaren, bis er seinen Schal in die Manteltasche gestopft und die Tasche über die Theke geschoben hatte. Er machte eine rasche Bewegung, um ihr zu helfen, als sie das schwere Gepäckstück mit beiden Händen nahm, aber sie hatte sich bereits gebückt und es verstaut. Sie schien sehr alt zu sein, wirkte älter als seine Mutter kurz vor ihrem Tod und genauso klein, zerbrechlich und resigniert. Er lächelte sie an, als sie ihm das gelbe Ticket mit der aufgedruckten Nummer gab, doch sie hielt den Blick gesenkt und kehrte gleich zu ihrem Stuhl zurück.
Josef war noch nicht da, saß an keinem der spärlich besetzten Tische, also wählte Gabriel eine Ecke, von der aus er den ganzen Raum und den Eingang überblicken konnte.
Jedes Mal, wenn er das Café des Hotel Carlton besuchte, kam es ihm schäbiger, verrauchter und verlassener vor. Sein Onkel bestand darauf, dass sie sich hier trafen, und wenn er mit ihm zusammen war, gelang es ihm durchaus, den Raum mit seinen Augen zu sehen und die Wände heller, die Möbel und Lüster glänzender und die Bedienung höflicher zu finden. Sein Vater und Josef hatten hier jahrelang die Samstagnachmittage verbracht, und ihre endlosen Gespräche über Gott und die Welt, ihre Begrüßungen der anderen Stammgäste und die Scherze, die sie mit den alten Kellnern austauschten, hatten irgendwo im Raum ihre Spuren hinterlassen, sichtbar nur für Alte und Eingeweihte.
Ein Mann betrat das Café, blieb wie suchend vor dem Eingang stehen, und Gabriel merkte sofort, dass er aus dem Westen kam. Amüsiert fragte er sich, warum er sich so sicher war; aus der Nähe hätten ihn der Stoff seines Anzugs und die Schuhe verraten, aber aus der Entfernung sah er nur eine rundliche Gestalt und ein schwammiges Profil.
Der Mann drehte das Gesicht zu Gabriel, lächelte plötzlich und nickte ihm zu.
Ich kenne ihn. Das darf nicht wahr sein, ich kenne ihn.
Mechanisch erhob er sich, während der Mann mit ausgestreckten Armen auf ihn zukam.
»Mr Siget, what a surprise meeting you here!«
»A surprise indeed«, stotterte Gabriel und brachte ein Lächeln zustande, während er versuchte, sich an den Namen des Fremden zu erinnern. Er schüttelte die angebotene Hand und war zum ersten Mal froh, dass kein Kellner sich blicken ließ und die übrigen Gäste gleichgültig und taub schienen.
»Sind Sie beruflich hier oder machen Sie Urlaub?« Gabriel erinnerte sich, dass er einen halben Nachmittag auf dem Kongress in Zürich neben ihm gesessen und in der Pause einige Minuten lang mit ihm gesprochen hatte. Er hatte ein Namensschild getragen, aber Gabriels sonst hervorragendes Gedächtnis versagte. Hatte er beim Mittagessen nicht am gleichen Tisch gesessen?
Der Kollege ließ sich mit der Antwort Zeit; er knöpfte seine Anzugweste auf, steckte lässig die Hände in die Hosentaschen und blickte erwartungsvoll auf die freien Stühle. »Ja, ich habe einen kleinen Abstecher aus Wien gemacht.«
Unmöglich. Niemand konnte einfach einen kleinen Abstecher aus Wien nach Bratislava machen, auch wenn die beiden Städte nur durch sechzig Kilometer voneinander getrennt waren. Es dauerte Wochen, um ein Visum zu erhalten, und wer kam schon Ende Februar auf Urlaub in diese Stadt? Minusgrade, ununterbrochener eisiger Wind, kurze Tage und lange, langweilige Nächte.
»Wohnen Sie hier im Hotel Carlton?«
Wenn er sich nur daran erinnern könnte, wie der Mann hieß und ob er Amerikaner oder Kanadier war, seinem Akzent nach war er auf keinen Fall Engländer.
»Nein, im Hotel Devín. Es wurde mir von einem Wiener Kollegen empfohlen, wegen des herrlichen Blicks auf die Donau. Ich habe ein Zimmer im vierten Stock bekommen.«
Während er sprach – eine Spur zu laut –, studierte Gabriel sein rundliches, sorgfältig rasiertes Gesicht mit dem Doppelkinn, den Koteletten und den kleinen, tief liegenden Augen aus der Nähe. Etwas stimmte nicht an diesem Zufall, etwas störte ihn an dieser Begegnung, an diesem übertrieben freundlichen Tonfall, und er erwartete beklommen, dass plötzlich etwas Unangenehmes passieren würde.
»Bleiben Sie lange in der Stadt?«
»Eine Woche. Nein, acht Tage.« Sein Gegenüber wurde übergangslos ernst. »Da fällt mir ein, dass ich Sie vielleicht aufhalte, Herr Siget.«
»Ich warte auf … ich habe eine Verabredung.« Erst jetzt merkte Gabriel, dass Josef am Eingang stand – eine magere, immer noch elegante Erscheinung – und mit einem Kellner sprach.
»Nun, dann störe ich nicht länger.« Der Mann lächelte wieder und entblößte dabei seine großen Zähne. »Ich würde Sie gern morgen Abend ins Restaurant im Devín einladen. Haben Sie Zeit?«
Was will er denn?
»Morgen geht es leider nicht, ich bin mit meiner Frau und einigen Freunden in der Oper. Sie spielen Nabucco.«
»Schön, dann übermorgen.« Der Mann lächelte noch, aber sein Ton war kaum merklich kühler und sein Blick zu fest, zu direkt geworden.
Zusagen kann ich ja.
»Übermorgen gerne.«
»Um neunzehn Uhr, Zimmer vierhundertzwölf.« Wieder schüttelten sie sich die Hände und Gabriel merkte überrascht, dass die seines Gegenübers feucht war. »Auf Wiedersehen, Herr Siget.«
Plötzlich schien der Mann aus dem Westen es eilig zu haben und streifte Josef fast beim Vorbeigehen. Als er aus der Tür hinaus war, ließ sich Gabriel auf den Stuhl sinken.
»Entschuldige, Gabriel, ich musste mich von Herrn Hartmann verabschieden.« Josef setzte sich zu seiner Linken, legte seine Zigarettendose auf den Tisch und zupfte die Manschetten aus den Ärmeln seines dunkelgrauen Anzugs. »Der Letzte der alten Garde geht in Rente und jetzt werde ich wohl endgültig das Kaffeehaus wechseln müssen, die übrigen Kellner hier sind ungenießbar.« Er hielt inne und wechselte ins Deutsche, wie immer, wenn er ein heikles Thema ansprach. »Ist etwas passiert? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Ich habe gerade zufällig einen Kollegen aus dem Westen getroffen.«
»War das der Mann, mit dem du gesprochen hast?«
Gabriel nahm sich zusammen und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ist nicht wichtig. Ich glaube, ich habe ihn verärgert oder verlegen gemacht, denn er ist gleich wieder weggegangen. Übrigens soll ich dich von Angelika grüßen lassen, sie ist gestern aus Ostberlin zurückgekommen.«
»Geht es ihrer Mutter besser? Hat sie bereits das Krankenhaus verlassen?«
Gabriel nickte stumm. Die angeschlagene Gesundheit von Angelikas Mutter hatte sie bestürzt und beinah von ihren Fluchtplänen abgebracht, aber gleichzeitig bot sie sich als Entschuldigung für ihre Abschiedsreise nach Ostdeutschland.
»Hat Angelika bei der Gelegenheit ihre Geschwister wiedergesehen?«
»Soweit ich weiß, ja, sie hat sich sogar mit dem Parteibonzen versöhnt.«
»Das freut mich für sie, nichts ist unangenehmer als ein Familienzwist. Und hat sie etwas von ihrer Schwester in Westdeutschland gehört?«
Auf seine verklärte Art sah Josef in Angelika – wie in den meisten Frauen seiner Umgebung – eine Heldin, die nur für ihre Familie lebte und sie mit allen Mitteln zusammenzuhalten versuchte. Dass sie mit ihrem älteren Bruder, der eine Zeit lang mit Erich Mielke zusammengearbeitet hatte, jahrelang nicht gesprochen hatte, nahm er nur widerwillig zur Kenntnis.
»Ihre Schwester meldet sich selten bei der Familie in Berlin. Angelika ist im Übrigen auch nach Potsdam gefahren, um ihren jüngeren Bruder zu besuchen. Sie hat erzählt, dass das Holländische Viertel noch weiter heruntergekommen ist als vor vierzehn Jahren, als sie das letzte Mal dort war …« Gabriel hielt angestrengt die Konversation in Gang, bis der Kellner den Kaffee brachte.
Josef musste bemerkt haben, dass etwas nicht stimmte, aber er schwieg taktvoll und zündete sich eine Zigarette an.
Gabriel seufzte, rückte die Kaffeetasse zurecht und räusperte sich. »Ich wollte dir schon seit längerer Zeit etwas sagen, Josef.« Er vergewisserte sich, dass die Tische in der Nähe immer noch leer und die Kellner wieder verschwunden waren, und zwang sich, seinem Onkel ins Gesicht zu sehen.
Josef lächelte ihn schwach an, als wollte er ihm Mut machen.
Gabriel senkte die Stimme. »Wir haben es geschafft. Angelika, die Kinder und ich, wir gehen fort. Wir gehen in den Westen.«
Josef blinzelte ihn einige Sekunden lang durch den Zigarettenrauch an und sah sich ebenfalls rasch nach den Nachbartischen um. »Wann?«
»In vier Tagen, zu Beginn der Schulferien.«
»Wie wollt ihr das machen?«
»Wir haben Visa für Österreich und Italien. Angelikas Schwester hat einen Freund in Italien gebeten, uns eine Einladung zu schicken, das war die Voraussetzung für die Visaerteilung. Offiziell fahren wir in den Skiurlaub nach Südtirol, aber unseren Bekannten und Freunden haben wir erzählt, dass wir in die Hohe Tatra fahren.«
»Wie habt ihr das geschafft, die Urlaubsgenehmigung für ein westliches Land zu kriegen?«
»Angelika hat vor einem Jahr bei einer Operation für ihren Chef einspringen müssen, der überraschend erkrankt war. Der Patient war der Sohn eines Staatssekretärs und das hat uns ganz neue Perspektiven verschafft.«
»Ja, du hast mir damals erzählt, dass Angelika im Operationssaal ein kleines Wunder vollbracht hat.« Josef zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher. »Wollt ihr in Italien einen Asylantrag stellen?«
»Nein, wir fahren direkt über Österreich nach Westdeutschland, nach Frankfurt, wo uns Angelikas Schwester bereits eine Wohnung besorgt hat.«
»Das ist gut, dann erspart ihr euch das Flüchtlingslager.« Josef nippte an seiner Tasse und wischte sich mit einem Taschentuch den Schnurrbart ab.
Zum ersten Mal merkte Gabriel, dass seine Hand leicht zitterte, und er sah rasch weg.
»Als Ärzte werdet ihr in Deutschland leicht Arbeit finden. Und ihr werdet zudem gut bezahlt.«
»Angelika wird als Chirurgin bestimmt gut verdienen, aber ich als Forscher …« Gabriel zuckte mit den Schultern. »Aber wir gehen nicht wegen des Geldes fort.«
»Ich weiß.« Josefs Augen glänzten. »Du wirst mir fehlen.«
Gabriel legte kurz die Hand auf Josefs Arm und zog sie gleich wieder zurück. »Du wirst mir auch fehlen, du weißt gar nicht, wie sehr.«
Eine Zeit lang schwiegen sie beide und starrten in ihre Kaffeetassen.
»Ich weiß, dass du schon lange mit dem Gedanken gespielt hast, wegzugehen, aber endgültig beschlossen hast du es erst, als dein Vater gestorben ist, oder?«
Gabriel spielte mit seinem Kaffeelöffel und wagte nicht, aufzusehen.
»Nicht sofort nach seinem Tod. Aber als wir letztes Jahr im Urlaub in Jugoslawien waren, haben wir kurz daran gedacht. Die Grenze zu Italien war zum Greifen nah und stellenweise schlecht bewacht.«
»Seid ihr nie in Versuchung gewesen, sie einfach zu überqueren?«
»Mit drei Kindern?« Gabriel schüttelte den Kopf. »Es war zu riskant und zu früh. Ich hatte es alles noch nicht richtig verarbeitet: den Einmarsch der Russen, Vaters Tod, die Schließung der Grenzen,