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Die Frolleins von der Freiheitsallee: Roman
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Die Frolleins von der Freiheitsallee: Roman
eBook255 Seiten3 Stunden

Die Frolleins von der Freiheitsallee: Roman

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Über dieses E-Book

»Dieser Roman ist eine Hommage an die Generation meiner Großeltern, die nach zwei Weltkriegen ihre tragischen Geschichten aufgrund seelischer Traumata und politischer Verfolgung nicht richtig an ihre Enkelkinder weitergeben konnten.« Ina Pukelytė

Kaunas, das kleine Paris Litauens, in den 30ern. Die Stadt erlebt ihre Blütezeit. Ebenso wie die beiden jungen Frauen Zosia und Rachel aus der Freiheitsallee. Zosia ist Buchhändlerin und träumt vom großen Familienglück. Rachel ist Schauspielerin mit atemberaubenden Karriere­plänen und darf im Jüdischen Theater von Kaunas auftreten. Keine von ihnen ahnt, wie kurzlebig ihr Glück sein wird und dass ihnen schließlich ihre Herkunft zum Verhängnis wird. Wie schnell wird der dunkle Schatten des Krieges alles in der alten Hauptstadt Litauens verändern, und was müssen die beiden Frauen alles ertragen?
Die Lebensgeschichten von Zosia und Rachel, die einander schließlich begegnen, vermitteln ein eindrückliches Bild des Lebens in Kaunas zwischen 1932 und dem Zweiten Weltkrieg. Ein mitreißender und bewegender, preisgekrönter historischer Roman über zwei unerwartet miteinander verflochtene Frauenschicksale und eine Stadt, die sowohl ein Goldenes Zeitalter als auch den Zusammenbruch aller Hoffnung erlebte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. März 2023
ISBN9783963118180
Die Frolleins von der Freiheitsallee: Roman
Autor

Ina Pukelytė

Ina Pukelytė ist Theaterproduzentin, Dramatikerin, Regisseurin, Kulturmanagerin sowie außerordentliche Professorin der Kunst­fakultät an der Vytautas-Magnus-Universität in Kaunas. Für ihren zweiten Roman „Die Frolleins von der Freiheitsallee“ („Panelės iš Laisvės alėjos“, 2020) wurde sie 2021 mit dem Grigori-Kanowitsch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in Kaunas.

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    Buchvorschau

    Die Frolleins von der Freiheitsallee - Ina Pukelytė

    TEIL I – Winter

    1

    Ein früher Winter hatte die Stadt fest im Griff. Es war so kalt, dass Zosias Wangen schmerzten und sie den Kopf in den Kragen ihres Fuchses einzog. Die feuchten Atemperlen gefroren auf dem Fell über den Lippen sofort, nur um sich kurz darauf wieder in eine nasse Masse zu verwandeln. Da das Fell im Gesicht kitzelte und die Haut nur noch mehr brannte, zog Zosia eine Hand aus dem Muff und damit den Kragen über ihr Gesicht. Auf diese Art wärmte sie es allerdings nicht lange, denn schon bald spürte sie eine stechende Kälte in den nur dünn behandschuhten Fingern und steckte sie umgehend zurück in den Muff. Es war schon stockdunkel, und sie schlitterte noch immer durch die Freiheitsallee. Gott sei Dank hatte ihre Mutter sie am Morgen zum Mitnehmen dieser scheußlichen Filzstiefel gezwungen – tagsüber würde sie sich darin nie und nimmer auf die Straße wagen, aber jetzt … einerlei, so waren wenigstens ihre Füße trocken, und in den Zehenspitzen rief die wohlige Wärme des schnell zirkulierenden Blutes ein Kitzeln hervor. Es ist ja sooo wichtig, an einem Arbeitstag im Dunkeln die Panienka, also das Fräulein, zu spielen. Alle wollten jetzt nur noch heim in ihre wohlig warme Bude, wo das Feuer im Kamin brannte.

    Bis nach Šančiai war es fast eine Stunde zu Fuß – Zeit in rauen Mengen für Träume und Gedanken. Zosia wäre noch so gern gefahren, und in der Nähe des Sobor, der Garnisonskirche, schaukelte denn auch ein „Volvo"-Bus an ihr vorbei, dessen Räder nach allen Seiten Schneematsch verspritzten und dem sie gerade noch ausweichen konnte, doch Busfahren konnte sie sich noch nicht leisten. Ihr Vater hatte ihr zwar zu einer Anstellung in einer polnischen Buchhandlung verholfen, aber sie arbeitete erst seit wenigen Wochen dort und wartete noch auf ihren ersten Lohn. Und selbst wenn sie das Geld für eine Busfahrt hätte, fände sie es daneben, es für den Bus auszugeben. Geld ist für Schuhe, Handtaschen, Hüte, Schmuck und Kosmetika da, der ganze Rest des Haushalts interessierte Zosia nicht. Sie träumte von Einkäufen, die sie noch nie hatte selbständig tätigen können, und merkte gar nicht, wie sie die Eisenbahnbrücke erreichte und am Memelufer entlangging, das der aufgehende Mond beschien.

    Matka Boska, jak to jest pięknie – Muttergottes, wie schön es hier ist!", rief sie laut, als sie einen Blick auf das eisige Wasser des Flusses warf. Dann sah sie sich um und überprüfte, ob sie nicht zufällig jemand gehört hatte, aber rundum herrschte die Stille eines Dienstagabends. Rechts glitzerten Schneekristalle und das Band der Memel lief immer weiter dem Horizont entgegen, links konnte sie die schwarzen Silhouetten von Holzhäusern ausmachen. Aus den im Dunkeln emporragenden Schornsteinen stiegen feine Rauchschwaden auf. Es sah aus, als wäre der ganze Himmel über Šančiai damit verziert. Der Rauch verströmte beim Aufsteigen das Aroma seines Hauses. Hin und wieder beleuchtete der Schein einer Glühbirne ein Fenster, sonst blieben sie finster, nur da und dort flackerte eine schummerige Petroleumlampe. Obwohl die Idylle des ruhigen Abends Zosia entzückte, entschied sie, den Spaziergang auf der Uferpromenade nicht fortzusetzen, und wandte sich der Uferstraße zu.

    Hier, zwischen zwei Häuserreihen, war es noch ruhiger, bisweilen hörte man einen Schlitten auf dem Juozapavičius-Prospekt vorbeifahren. Während Zosia durch die Uferstraße spazierte, wurde sie von einer neuen Welle des Glücks überflutet. Die mit Frost überzogenen Apfelbäume streckten ihr ihre schillernden Äste entgegen. Die Straße leuchtete im Mondlicht wie ein Weihnachtsbaum. Vom Winterabend in Versuchung geführt, begann sich Zosia unvermittelt im Kreis zu drehen und zu tanzen. Noch nie hatte sie so viel Lebensfreude erfahren wie heute Abend. Ihr war nicht mehr kalt, sie hätte den Muff gern weit weggeschleudert und den Mantel aufgeknöpft. Sie wirbelte immer weiter, bis ihr schwindlig wurde, dann blieb sie auf einmal stehen – als sie bemerkte, dass sie sich noch auf der Straße befand und nicht träumte, schaute sie sich vorsichtig um. Ich bin doch schon dreißig und schwirre hier herum wie so eine Tänzerin. Es könnte ja noch jemand auf die Idee kommen, ich hätte den Verstand verloren. Sie prustete, errötete und ging wie eine echte Dame in flottem Schritt weiter. Sie wusste, dass Mamusia schon auf sie wartete und sich Sorgen machte – als ob es einen Grund dafür gäbe. Eigentlich wollte auch sie schnell nach Hause, um die schneebedeckten Filzstiefel und die an ihrem Körper klebende Kleidung endlich loszuwerden.

    Schließlich bog sie nach links in ihr Sträßchen ein und blieb in der Dunkelheit vor der Veranda stehen, um ein letztes Mal an diesem Abend die Glückseligkeit zu erleben, die der Vollmond ausstrahlte. Dann warf sie einen Blick auf die Fenster des Hauses – auf der Straßenseite waren sie mit weißen Laken bedeckt, durch eines davon drang schummriges Licht. Zosia öffnete das kleine Tor und rutschte nach einem Schritt aus. „Piorun – Donnerwetter!", sagte sie laut und bedauerte sofort, geflucht zu haben. Dann fiel ihr ein, dass sie so ihre Sonntagsbeichte in der Kirche auffrischen könnte – sie hatte mehr als genug von den immer gleichen Sünden. Sie rieb das schmerzende Knie, schüttelte den Schneematsch ab und klopfte an das erhellte Fenster. Schon bald hörte sie Mamusia zur Tür schlurfen und den Riegel zurückschieben.

    No nareszcie – endlich … Ein Seufzer und später das Rascheln eines Rocks drangen an Zosias Ohr. „Lass nur die Kälte nicht herein und zieh die Tür richtig zu! Mamusia eilte in ihr Zimmer zurück.

    Zosia ließ die Filzstiefel in der finsteren Diele zurück und folgte ihrer Mutter in die warme Küche.

    „Magst du was essen?", fragte Mamusia wie immer, dann setzte sie sich auf einen Hocker am Küchentisch und nahm die Laufmaschen von Strümpfen auf.

    „Ja, gern. Zosia ging ins Nebenzimmer und legte den Fuchsschwanz, in dessen Haar viel Schnee festhing, vorsichtig zum Trocknen aus. „Ich hätte mir vor dem Haus fast das Genick gebrochen, da muss man Asche ausstreuen.

    „Das sehen wir morgen, sonst haben wir, falls es wieder wärmer wird, nur eine Schlammpfütze vor dem Eingang, beruhigte sie ihre Mutter. „Der Buchweizen ist unter dem Kissen, er sollte noch warm sein.

    „Gut", erwiderte Zosia, fuhr mit dem Kamm durch das am Morgen in Wellen gelegte Haar und warf einen Blick in den Spiegel. Eine Frau mit feuerroten Wangen und lohenden Augen schaute sie an. War sie wirklich dreißig? Zosia prustete, stellte mit einem prüfenden Blick sicher, dass ihre Mutter sie nicht beobachtete, und sah noch mal in den Spiegel. Eine Tänzerin, siehst du?

    „Wie war dein Tag?", fuhr Mamusia mit ihrer abendlichen Tirade fort, ohne den Blick von ihren dünnen Seidenstrümpfen zu heben.

    „Wie immer, erwiderte Zosia, wandte sich vom Spiegel ab und ging ins dunkle kleine Zimmer, um den noch warmen Topf mit dem Buchweizen unter den Kissen auf dem Bett hervorzuholen. Zurück in der Küche, drückte sie auf den Hebel des Wasserbehälters und wusch sich die Hände. „Es war so kalt, dass ich mir fast die Nase abgefroren hätte.

    To dobrze – zum Glück ist sie noch dran. Und du wolltest keine Filzstiefel … Bei diesem Wetter soll man nicht die Prinzessin spielen. Wie geht es Julius?"

    „Den habe ich gar nicht gesehen. Er sagte, er wolle nach Wilna fahren, um neue Bücher mitzubringen. Er sollte in ein paar Tagen zurück sein." Zosia nahm gegenüber ihrer Mutter am Tisch Platz, gab ein Stück Butter auf den Buchweizen und brachte ihn zum Schmelzen. Darauf tätschelte sie den Brei zurecht und aß ihn gierig auf.

    „Hat er denn noch immer nicht genug Bücher in seiner Buchhandlung? Er sollte sie besser zuerst verkaufen, ein paar Groschen verdienen, dann kann er neue kaufen. Ist das ein Geschäftsmann, alles auf Pump … Hoffentlich hat er genug Geld, um dein Gehalt zu bezahlen, wetterte Mamusia. „Hast du eigentlich nachgefragt, wann der Chef es auszahlt?

    „Mama, ich habe gerade erst angefangen, für ihn zu arbeiten, entgegnete Zosia und versuchte, den Schimpftiraden ihrer in Fahrt kommenden Mutter gegen ihren Arbeitgeber Julius Urniežius keine Beachtung zu schenken. „Dein Einwand ist aber lustig! Eine Buchhandlung muss doch mit Büchern gefüllt sein, sie ist kein Markt. Wenn keine neuen hinzukommen, gibt es für unsere Leser gar keinen Grund mehr, bei uns vorbeizuschauen, Mamusia. Und wie ist es dir heute ergangen?, versuchte Zosia das Gespräch auf etwas anderes zu lenken.

    „Ich heize den ganzen Tag lang, chvala Bogu – Ehre sei Gott!, und Vater hat Brennholz gestapelt, bevor er aufs Dorf fuhr, so kann ich wenigstens in aller Ruhe meine Hausarbeiten erledigen. Ich war schon auf dem Markt, um Truthähne für Weihnachten zu kaufen – aber die Preise! Ich muss Vater sagen, er soll was vom Land mitbringen, denn das hier ist Diebstahl am helllichten Tag!"

    „Wir könnten ja auch den einen oder anderen Truthahn vom Land in der Stadt verkaufen, was meinst du?"

    „Schau du nur, dass du deine książkas, deine Bücher, verkaufst. Ich dachte, du wärst gern eine Dame, also habe ich alles in Bewegung gesetzt, damit du eine entsprechende Stelle bekommst, wo du dich mit Intellektuellen unterhältst, und dann kommst du mir mit den Puten … Und wer soll denn diese Truthähne auf dem Markt feilbieten? Ich oder vielleicht deine Schwester oder deine Brüder, die in der Weltgeschichte herumreisen?"

    „Ich meine ja nur, Mamusia. Aber wenn die wirklich so teuer sind, dann kann doch ich auf dem Markt stehen. Ich muss ja nicht jeden Tag in der Buchhandlung arbeiten."

    Nic takiego – nichts von alldem, wir kommen schon irgendwie ohne Truthähne vom Markt aus. Unsere sind doch nicht schlechter, alles, was wir vom Dorf mitbringen, passt doch, und Mäuler gibt es genug."

    Der warme, sättigende Brei sorgte bei Zosia für ein Gefühl der Behaglichkeit, und so hatte sie keine Lust mehr auf lange Diskussionen. Ihr Körper wurde schwer, sie hielt sich kaum noch auf dem harten Hocker. Eine Weile starrte sie das knisternde Feuer an, dann spürte sie, wie ihre Augen langsam zufielen und der Kopf sich nach vorne neigte, sie schüttelte sich, um nicht vom Hocker zu fallen, sah ihre Mutter an. Sie nahm noch immer Laufmaschen auf.

    „Willst du deine Augen noch lange quälen?, hielt Zosia ihrer Mutter sanft vor. „Es ist schon dunkel, wie kannst du denn sehen, wo du die Masche aufnehmen sollst?

    „Ich muss gar nichts sehen, die Maschen nehmen sich von selbst auf. Ich mache das hier fertig und gehe ins Bett. Ich bin müde."

    „Dann geh schlafen und beschwer dich nicht", entgegnete Zosia verärgert, weil ihre Mutter sich unnötig abplagte, doch zugleich hatte sie Mitleid mit ihr.

    Sie war das Familienoberhaupt, nicht Tatusia, aber alle Kinder im Haus mussten ihm, dem Vater, mehr Respekt zollen – so hatte es ihnen Mamusia beigebracht. Ihr schütteres Haar war schon stark ergraut, und sie strengte sich an, beim Sprechen möglichst wenig zu lächeln, weil ihr die vorderen Zähne fehlten. Sie trug eher bescheidene Kleidung – einen alten, wohl in ihrer Jugend selbst gewobenen Rock und ein grau gewordenes dickes Leinenhemd. Sich um sein Äußeres zu kümmern, hielt sie für Zeitverschwendung – wozu auch elegant aussehen am Herd, bei den Hühnern und im Garten? Ihre Finger waren vom vielen kalten Wasser aufgedunsen und rot, und der Seidenstrumpf, den sie über ihre Faust gezogen hatte, sah merkwürdig aus. Zosia versuchte sich vorzustellen, wie er an Mamusias Füßen aussehen würde, aber sie konnte es nicht – so etwas würde ihre Mutter nie im Leben anziehen. Das war nur etwas für Panienkas wie sie oder für reiche Damen. Mamusia flickte die Strümpfe anderer Leute und freute sich, etwas zum Lebensunterhalt ihrer Töchter beitragen zu können – die wohnten in Kaunas, der Hauptstadt, also mussten sie wie Städterinnen aussehen. Zosia hatte ein schlechtes Gewissen, dass ihre Mutter sich so um sie kümmerte, sie hatte sie doch nicht darum gebeten, sie konnte ihren Lebensunterhalt auch selbst verdienen. Aber es war dennoch herzzerreißend zu sehen, wie sehr sich ihre Mutter abmühte. Sie wollte zu ihr gehen und sie umarmen, aber sie traute sich nicht. Sie war doch schon lange kein Kind mehr, Mamusia würde sicher denken, dass etwas nicht stimmte, und noch mehr Fragen stellen. Zosia murmelte „gute Nacht" und ging auf ihr Zimmer. Auf dem Weg dorthin schüttelte sie den noch immer nicht trockenen Fuchs, strich sich damit über die Wange, nieste und schloss die Tür hinter sich.

    2

    „Da sieh mal einer an, sie schläft noch immer! Was ist, hast du etwa in der Buchhandlung den ganzen Tag lang Säcke geschleppt, dass du nicht mehr aus dem Bett kommst?" Zosia spürte, dass jemand sie an den Fersen kitzelte, und winkelte unzufrieden die Beine an.

    „Lass das, Niusia, lass mich in Ruhe! Zosia wollte sich schon auf die andere Seite wälzen und sich noch stärker an der Decke festklammern, doch plötzlich tauchten aus der Tiefe des Traums Bücherreihen auf und ließen sie aufspringen. „Wie spät ist es denn?

    „Acht, Panienka. Mamusia und ich haben uns schon gefragt, ob du dich vielleicht erkältet hast, dass du nicht zur Arbeit gehst. Da habe ich nachgesehen. Wir haben schon je zwei paar Strümpfe fertig."

    Zosia eilte aus dem Zimmer, rannte zum Spiegel und zog mit großem Eifer die Papilloten aus dem Haar.

    „Siehst gut aus, spöttelte die Schwester über die Schlafmütze. Als sie den Fuchs ihrer Schwester erblickte, legte sie ihn sich um den Nacken, schob Zosia ein wenig zur Seite und betrachtete sich im Spiegel. „Und?

    „Daneben. Passt nicht zu dir. Zu breite Schultern."

    Idź ty – fahr doch zur …", erwiderte Niusia, hängte den Fuchspelz mürrisch an seinen Platz zurück und verschwand in der Küche.

    Im Vergleich zur Schwester, die gerade die Papilloten aus ihrem Haar zog, war sie wirklich keine Schönheit. Zehn Jahre älter, verheiratet und geschieden – die sommerliche Frische war ihr längst abhandengekommen. Das Gesicht von verfrühten Falten zerfurcht, die Augen von schlaflosen Nächten schwarz umrandet, die Haut grau verfärbt. Doch ungeachtet ihres Aussehens und Alters fühlte sich Niusia viel besser als mit dreißig, denn damals hatte sie die Gewalt ihres Mannes geduldig ertragen. Sie wohnte jetzt schon eine ganze Weile nebenan im kleinen Haus, das ihr Vater gebaut hatte, und freute sich darüber, dem Joch ihres Ex-Mannes entkommen zu sein. Sie hatte keine Kinder, also arbeitete sie den ganzen Sommer über zusammen mit ihrem Vater auf Hof und Feld, während sie den Winter bei Mutter und Schwester verbrachte.

    „Frühstück?", hörte sie Mamusia aus der Küche rufen.

    Dobrze – gut. Obwohl, ich weiß nicht, keine Zeit. Ach, irgendwie geht das schon." Zosia nahm den Lockenstab zur Hand und legte ihn auf den heißen Ofen.

    Dann goss sie heißes Wasser in ein Schälchen und zerbröckelte eine Scheibe Trockenbrot, wartete, bis die Brotstückchen aufquollen, und aß sie mit Genuss.

    „Ich sehe, du bist nicht krank, klagst nicht über mangelnden Appetit, meinte Niusia fröhlich. „Hast du mitgebracht, worum ich dich gebeten habe?

    „Verflucht, schon wieder vergessen. Zosia aß das Schälchen hastig leer und wandte sich wieder ihrem Haar zu. Sie legte es geduldig mit dem heißen Lockenstab in Wellen. „Ich verspreche dir, heute Abend bringe ich es ganz sicher mit. Ich hatte nicht mal Zeit, daran zu denken.

    „Ja, ja. Mich wundert nur, woran du sonst Zeit hast zu denken? Vielleicht an Julius?"

    „Den Bücherwurm? Komm schon! Er ist mein Vorgesetzter. Außerdem steckt seine Nase tagein, tagaus in Büchern. Nur am Abend, wenn er die Kasse machen muss, wandert sein Blick von den Buchseiten zum Rechenbrett. Ein kauziger Typ. Aber das ist nicht mein Bier. Hauptsache, er zahlt mir meinen Lohn."

    Als sie das Haar in Ordnung gebracht hatte, schwärzte sie Augenbrauen und Wimpern mit Tusche, tupfte einen schwarzen Punkt neben die Nase. Dann holte sie einen knallroten Lippenstift aus der Handtasche hervor und zog konzentriert ihre Lippen nach, stürzte sich in die Arbeitskleidung, parfümierte sich mit „Carmen", schlüpfte in den Mantel und legte zur Zierde den Fuchs um die Schultern.

    „Es scheint fast so, als ginge es nicht zur Arbeit, sondern zu einem Offiziersball", hielt ihr Mamusia vor.

    „Bis ich dort bin, sieht man es kaum mehr." Sie leckte den Finger ab und glättete die Augenbrauen. „Do widzenia, dziewczyny – bis bald, Mädels."

    „Bis dann. Und vergiss mir die Ožeškienė nicht! Mir ist der Lesestoff ausgegangen, ich kann doch nicht die ganze Zeit nur stopfen und stricken."

    Zosia öffnete die Wohnungstür und atmete die beißend kalte und feuchte Luft ein. Unter ihren Füßen knirschte der über Nacht hart gewordene Schnee, es dämmerte. Sie hüllte sich tiefer in den Mantel und kehrte in Gedanken zum morgendlichen Traum zurück: An einem heißen Frühlingsmittag spaziert sie mit einem jungen Blonden durch das feuerrote Raudondvaris. Die Straßen im Ort sind schmal, die gemächlich flanierenden Sommerfrischler kommen kaum aneinander vorbei, rundherum ragen rote Backsteinsteinhäuser empor, auch der junge Mann ist groß, durch die offenen Fenster flattern Vorhänge heraus, hoch über den Häusern wölbt sich der blendend blaue Himmel, irgendwo bimmeln die Glöckchen einer Kutsche. Als sie aus dem engen Sträßchen heraustritt, sieht sie blühende Obstgärten vor sich, alle schmunzeln, lachen, Apfelblüten rieseln auf die Köpfe herab. Sie hat sich beim Flachsblonden eingehakt und hält auch an, lacht, will irgendwohin gehen, doch dann taucht Niusia vor ihnen auf und der Ausflug des Liebespaars hat ein Ende.

    Große Schneeflocken kitzelten ihr Gesicht. Vor den Blüten hatte sie einen ganzen Winter vor sich, und auch ein junger Mann war nicht in Sicht. Zosia schniefte enttäuscht und ging schneller. Ein schweres Los, hübsch und arm zu sein, besser umgekehrt, dachte sie bei sich. Dann könnte sie selbst entscheiden, wer eine gute Partie für sie war und wer nicht. So taugte sie meist nur für Spaziergänge durch den Stadtgarten, im besten Fall lud man sie ins Kino ein, doch schon nach einer Woche machten sich ihre Freier auf die Jagd nach einer anderen. Anfangs war sie in tiefe Traurigkeit gefallen, hatte das Kissen vollgeweint, doch im Laufe der Jahre gewöhnte sie sich daran und war schlau genug, nur mit dem spazieren zu gehen, der die Kinokarte schon in der Tasche hatte, erst zu kokettieren, wenn sie beschenkt worden war – mit Parfüm, Ohrringen oder sonst einer Kleinigkeit. Dann wuchsen ihr

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