Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Leute vom Hellemyr, Band 4: Die nächste Generation
Die Leute vom Hellemyr, Band 4: Die nächste Generation
Die Leute vom Hellemyr, Band 4: Die nächste Generation
eBook482 Seiten7 Stunden

Die Leute vom Hellemyr, Band 4: Die nächste Generation

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

»Warum war er eigentlich geboren worden – er und seine Geschwister? Wäre es nicht besser für sie alle gewesen, nicht geboren worden zu sein?«

Amalie Skram (1846–1905) führt »Die Leute vom Hellemyr« im abschließenden Band von 1898 bis in die »nächste Generation«, bis zu den Urenkeln von Sjur Gabriel und Oline, mit denen alles anfing. Auch hier sind die Standesgrenzen tief in die Lebensläufe eingemeißelt. Der Kampf um wirtschaftlichen Aufstieg und soziale Anerkennung bestimmt den Alltag der Ärmeren, und auch bei den Wohlhabenderen zählen emotionale Enttäuschungen und Lebensunglück zur Tagesordnung. Leise Hoffnung auf Besserung besteht in der jüngsten Generation, die Amalie Skram mit verständnisvoller Zuneigung und enormem Einfühlungsvermögen beschreibt.
SpracheDeutsch
HerausgeberGuggolz Verlag
Erscheinungsdatum13. Feb. 2023
ISBN9783945370711
Die Leute vom Hellemyr, Band 4: Die nächste Generation

Ähnlich wie Die Leute vom Hellemyr, Band 4

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Leute vom Hellemyr, Band 4

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Leute vom Hellemyr, Band 4 - Amalie Skram

    I

    »Wag das ja nicht, du Musterstängel«, flüsterte in der Lateinstunde der Banknachbar Severin Myre zu, einem dunkelhaarigen Jungen, dünn und schmächtig und mit selbstgenähter Kleidung. Lehrer Petersen hatte Severins lateinische Übersetzung gelobt und gesagt, er erwarte für das nächste Mal einen vollständig fehlerfreien Text. Severin saß mit rotem Gesicht bedrückt da, und die Jungen bedachten ihn mit verachtungsvollen Blicken.

    Nach dieser Stunde hatte die Klasse eine Pause. Der Lehrer erhob sich, und die Jungen stürmten aus dem Klassenzimmer.

    Severin stieg langsam die breite Granittreppe hinab in die Vorhalle, von der aus es auf den Pausenhof hinausging. Er erhielt Stöße in den Rücken und Schläge auf den Kopf von den Fäusten der Jungen, die an ihm vorbeirannten, während Schimpfwörter und Spottnamen ihn wie Hagelkörner umstoben. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, hielt er sich am Geländer fest und ging ruhig weiter. In Gedanken hörte er immer wieder die Worte des Lehrers, und dann dachte er daran, dass der Lehrer sein Buch mit den korrekten Übersetzungen vergessen hatte. Er hatte es deutlich vor Augen, wie es rechts auf dem Pult lag. Wenn er nun die Gelegenheit nutzte? Wenn er schnell und entschlossen vorginge, könnte er das in einer Minute hinter sich bringen. Es würde großartig sein, einen fehlerfreien Text abzugeben. Er konnte auch eigentlich gut genug Latein, um das allein zu schaffen. Das Problem war nur, dass er so oft vor sich hin träumte. Es wäre also durchaus kein Betrug. Und was für eine Vorstellung: Sicher zu sein, dass seinText fehlerfrei war!

    Auf der untersten Treppenstufe blieb er stehen und schaute sich um. Alle waren verschwunden, keiner zu sehen oder zu hören. Rasch lief er wieder nach oben, blieb im Gang stehen, hielt Ausschau und horchte, dann schlüpfte er ins Klassenzimmer und zog vorsichtig die Tür hinter sich zu. Er schnappte sich ein Stück Papier und einen Bleistift, griff nach dem Buch und lief zum Fenster, wo er mit zitternden Fingern die Aufgaben durchging, das Gesuchte fand und mit dem Abschreiben begann. Als er fast fertig war, hörte er im benachbarten Klassenzimmer Lehrer Petersens knirschende Stiefelschritte. Für einen Moment erstarrte er vor Angst. Blitzschnell schlug er das Buch zu und zerknüllte das Papier in seiner Hand zu einem Ball. Im selben Moment wurde die Tür zum Nachbarraum geöffnet, Severin drehte sich um und sah Petersen dort stehen. Vor seinen Augen tanzte alles, und er fühlte sich für Zeit und Ewigkeit verloren. Am liebsten hätte er sich dem Lehrer zu Füßen geworfen und um Gnade gefleht.

    »Was stehst du denn hier herum, Junge? Geh jetzt gefälligst nach unten, frische Luft schnappen!«

    Augenblicklich begriff Severin, dass Rettung möglich war, und sofort sah in seinem Inneren wieder alles anders aus.

    Er blickte den Lehrer mit einem ehrerbietigen Lächeln an, das seine großen dunklen Augen aufleuchten ließ, und lief zur Tür.

    »Hast du vielleicht ein Buch gesehen, das ich in der Stunde benutzt habe?«, rief Petersen hinter ihm her.

    »Das liegt auf einer Fensterbank«, war Severins fröhliche Antwort, und dann schlüpfte er durch die Tür, leicht und munter und erfüllt von einer tiefen Dankbarkeit dem Lehrer gegenüber. Dass dem nicht einmal der kleinste Verdacht gekommen war, rührte Severin dermaßen, dass ihm Tränen in die Augen traten. Lehrer Petersen war wirklich ein edler Mensch! Und den nannten sie Luzifer! – Was waren die anderen Jungen doch für ein Pack! Severin würde diesen Namen nie und nimmer in den Mund nehmen. Er würde sich dagegen alle Mühe geben, die gute Meinung des Lehrers zu verdienen. Das mit dem Buch sollte sein letzter Streich gewesen sein.

    Diese Betrachtungen hatten ihn inzwischen hinaus auf den Pausenhof geführt. Dort standen die meisten anderen aus der Klasse und steckten die Köpfe zusammen. Er hörte die Wörter: »Musterstängel!« und »Luzifer!« und »ein Exempel statuieren«. Aber sowie sie Severin entdeckten, starrten sie mit gleichgültigen Mienen vor sich hin.

    »Wir kommen also am Sonntag zum Ball zu dir, Henrik, ja?« Das hatte Mikkel Mejer gefragt, er war groß und verfressen, und er hatte ein seltsam kahles Gesicht und schöne blaue Tuchkleider.

    »Richtig«, antwortete Henrik, der hochgewachsen und weißblond war, er war der Sohn des reichen Konsuls Smith in der Strandgate. »Aber ihr bekommt alle noch eine Einladung. Wir werden dreißig Paare, vierzehn hier aus der Klasse, wenn ich mich dazuzähle.«

    »Vierzehn hier aus der Klasse.« Severin rechnete und rechnete und kam, wenn er die abzog, die unmöglich infrage kommen konnten, auf nicht mehr als dreizehn, falls er nicht selbst der vierzehnte war. Aber warum hatte Henrik dann nichts gesagt? Er zerbrach sich den restlichen Vormittag über den Kopf und hoffte nach jeder Stunde, dass es jetzt so weit wäre. Als er in Deutsch abgehört wurde, stammelte er und machte Fehler beim Übersetzen, und immer wieder wanderte sein Blick hinüber zu Henrik, in dessen Gesicht er zu lesen versuchte. Wenn Henrik aufgerufen wird, werde ich eingeladen, dachte er, wenn nicht, dann nicht.

    Nach der Schule, als sich die Jungen zum Gehen bereit machten, blieb Severin in Henriks Nähe, tat aber so, als wäre er mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Auf der Treppe ging er dicht hinter Henrik her, und als sie in der Vorhalle ihre Mäntel anzogen, ließ er den anderen nicht für eine Sekunde aus den Augen. Jedes Mal, wenn Henrik den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hämmerte Severins Herz los, und alle seine Sinne sammelten sich zu konzentriertem Lauschen. Draußen auf der Straße versuchte Severin, mit Henrik zusammen zu gehen, aber der wurde langsamer und hakte sich bei Mikkel Mejer ein. Dann lief Severin davon. Er schämte sich unbeschreiblich und brannte darauf, nach Hause zu kommen, wo wenigstens niemand etwas von dem Ball wusste.

    Als er die Ecke der Domkirkegate erreichte, rannte er los, aber dann fiel ihm ein, dass Mikkel Mejer dort wohnte und Henrik also gleich allein sein würde. Er verlangsamte seine Schritte wieder, und im selben Moment rief Henrik seinen Namen. Heiß durchfuhr ihn die Freude, und vor seinen Augen verschwamm alles. Er drehte eilig um und lief zurück.

    »Ach, gib mir doch mal eben dein Messer«, bat Henrik, der in der geschlossenen Hand eine Zigarre hielt. Die Spitze lugte zwischen Daumen und Zeigefinger heraus.

    »Stell dich vor mich, während ich sie anzünde«, sagte Henrik dann, nachdem er das ihm von Severin gereichte Messer benutzt hatte.

    Mit eifriger Dienstwilligkeit riss sich Severin die Mütze vom Kopf und hielt sie vor Henrik hin, der schaute sich suchend um, ehe er sich Feuer gab. Dann gingen sie einige Schritte weiter. Severin brachte kein Wort heraus. Henrik schaute sich immer wieder um.

    »Tod und Pest, Luzifer!«, rief er plötzlich – dann bog er eilig nach rechts ab und lief die Skostrede hinab. Severin drehte sich um. Dort kam Lehrer Petersen mit der Brille auf der Nase und schwenkte seinen Spazierstock.

    Severin ging mit einem brennenden Gefühl in der Brust weiter. Er dachte immer wieder, wenn Henrik nur den kurzen Satz gesagt hätte: »Übrigens, Severin, ich hab ja ganz vergessen, dich für Sonntag einzuladen!«, dann könnte er jetzt glücklich sein, und sein Herz wäre leicht. Er wiederholte in Gedanken so oft, bis er deutlich Henriks Stimme und seine eigene Antwort hörte: »Tausend Dank, aber ich bin leider schon anderweitig eingeladen.« Das wollte er nämlich unbedingt sagen. Hinzugehen käme nicht infrage. Er konnte gar nicht tanzen, aber seine Schulkameraden wussten das nicht, und es würde ihm auch nie im Leben erlaubt werden. Tanz sei ein sündhaftes Vergnügen, meinten seine Eltern. Ihre Kinder würden sich niemals an so etwas beteiligen. Aber dennoch, eingeladen werden wollte er, es war so verletzend, immer übergangen zu werden.

    Und jetzt dieser Henrik, dem er einen Gefallen nach dem anderen getan hatte. Würde der ihn jetzt auch noch im Stich lassen? Smiths hätten bestimmt nichts dagegen, wenn er eingeladen würde. Jedenfalls nicht der Konsul. Sein Vater hatte immer so viel mit dem Konsul zu tun gehabt – und außerdem: Henrik durfte schließlich alles, was er wollte.

    Sein Schmerz nahm schließlich dermaßen überhand, dass er schon mit dem Gedanken spielte, Henrik sein Herz auszuschütten. Ihn geradezu um eine Einladung anzubetteln. Doch dabei würde er sicher losheulen, und das wäre dann doch zu peinlich. Ja, aber das half nun nichts. Alles wäre besser als so leiden zu müssen.

    An der Ecke der Strandgate blieb er stehen und schaute Henrik hinterher. Der musste von der Skostrede her den Markt überqueren. Und da tauchte er auch schon auf, unten bei der Börse, er paffte gelassen seine Zigarre und hielt die Bücher an einem Riemen unter dem Arm.

    Severin wartete noch zwei Sekunden. Dann überkam ihn Entsetzen angesichts seines Vorhabens. Eilig überquerte er die Straße, rannte durch das Apotekersmug und ging weiter durch den Markvei und nicht durch die Strandgate, was sein üblicher Heimweg gewesen wäre.

    II

    Das Haus, in dem Severins Eltern wohnten, lag ganz oben im Kippersmug, einer Gasse, die vom Lille Markvei zur Strandgate hinabführte. Es war ein einstöckiges Gebäude mit drei Sprossenfenstern unten und zweien in dem breiten Giebel. Zwei steinerne Treppenstufen führten hinauf zur Haustür, und an der einen Seite des Hauses gab es einen Durchgang auf den Hinterhof.

    Im Gang konnte Severin an den Geräuschen aus dem Vorderzimmer hören, dass die Familie beim Essen saß. Er hängte seine Mütze und die mit einem Riemen zusammengebundenen Bücher auf und lief hinein.

    Die Mutter saß in einem graukarierten Kleid und einem gehäkelten schwarzen Haarnetz am Ausziehtisch und füllte die Teller mit Brei. Ihr gegenüber saß Myre und aß schweigend. Er hatte den Kragen abgelegt und trug Pulswärmer anstelle von Manschetten. Seine Wangen waren gelb und schlaff, sein Bart ungepflegt und seine Augen rot und übernächtigt.

    Severin wurde ausgeschimpft, weil er zu spät kam. Die drei kleineren Brüder schnitten Grimassen, während sie ihren Brei schlürften, und die Schwester kniff ihn in den Arm.

    »Hier, Fie, bring das zu Großvater nach oben.«

    Die Schwester, ein Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren mit schwarzen Zöpfen, die ihr den Rücken hinunterfielen, legte den Löffel weg und stand auf. Sie nahm von der Kommode ein Tablett, auf das die Mutter zwei Teller stellte, einen mit Brei und einen mit Salzhering und Kartoffeln.

    »Is Großvater denn krank?«, wollte Myre wissen.

    Die Mutter verzog den Mund und sagte: »Das is ja auch mal ne Frage«, und Jens, der Zweitälteste, murmelte halblaut: »Großvater liegt doch jetzt immer im Bett.«

    Fie, die beim Großvater in der Mansardenkammer gewesen war, kam nun mit dem Tablett zurück.

    »Den Brei wollte er haben, aber der Hering ist ihm zu salzig, hat er gesagt.«

    »Zu salzich!«, schnaubte die Madam, änderte aber sofort ihren Tonfall: »Das is ja auch kein Essen für ihn oder für mich, wo ek dieses Sodbrennen hab. Aber ek hab schließlich nie Geld. Un die ganze Zeit rennen sie mir mit Rechnungen die Bude ein. – Weiß wörklich nich, waste dir dabei denkst.«

    Myre seufzte, und es klang, als mache ihm das Schlucken Probleme. Als er fertig war, schob er den Teller zurück und sagte mit lauter Stimme:

    »Sprichs Tischgebet, Severin.«

    Severin fing an, aber nun ertönte aus dem Alkoven nebenan schrilles Kindergeschrei, in dem die Worte des Gebets fast ertranken.

    Fie räumte den Tisch ab, und die Madam setzte sich mit dem Säugling auf das Sofa und gab ihm die Brust. Myre hatte einen Hammer geholt und fing an, Nägel in einen Stuhlbezug zu schlagen, der sich gelockert hatte.

    »Hör mit dem Hämmern auf«, schimpfte die Madam und griff sich an den Kopf.

    Sie sei doch so oft böse gewesen, weil er das vergessen hatte, murmelte Myre, und nun fauchte die Madam, er habe einfach immer eine glückliche Hand dabei, seine Zeiten auszusuchen. Myre legte den Hammer auf den Herd und ging zur Tür, doch nun fragte die Madam, ob er nicht auf den Kaffee warten wolle, und erhielt zur Antwort, das sei jetzt auch egal.

    Jaja, aber etwas Geld müsse er ihr schon geben.

    Myre zog einen ledernen Geldbeutel hervor und leerte ihn über dem Tisch aus. Er tippte die Münzen mit dem Mittelfinger an, während er zählte.

    »Zwei Ort un achtzehn Schilling. Mehr hab ek nich.«

    Ja, damit werde sie weit kommen! Sie brauche an diesem Abend noch mehr! – die Madam rief das hinter ihm her, als er bereits aus der Tür war. »Hörste, Myre, komm wieder rein!«

    »Hab jetz kein Zeit mehr!«

    III

    »Örr örr örr, rrö, rrö, rrö!«, plapperte das lächelnde kleine Kind, das auf Madam Myres Schoß glücklich strampelte und seine bald gespreizten, bald gekrümmten Fingerchen anstarrte.

    »Örr örr örr«, wiederholte die Mutter und streichelte mit dem Zeigefinger über Mund und Kinn des Kindes. »Ach, sie willn bisschen reden un lächeln, die Kleine. Ja, lächeln un reden, das kann se.«

    Plötzlich lief der Madam eine Träne über die Wange und fiel auf die Brust des Kindes: Armes unschuldiges Wesen, sie hatte doch keine Ahnung, in was für eine Welt sie hier geraten würde. Wenn sie erst mit aller Sünde und Bosheit ringen und kämpfen müsste! Die Tränen liefen lautlos an der großen geraden Nase entlang, während sich die Mundwinkel nach oben zogen und die schlaffe, fleischige Unterlippe vom Speichel nass wurde. Wie sie dort saß und ihren Kopf mit dem schwarzen Haarnetz hin und her bewegte, mit ihrem leblosen, graumelierten Haar und dem von scharfen Furchen durchzogenen mageren Gesicht, erinnerte sie kaum noch an die Petra Frimann, die in ihren jungen Jahren die »prächtige und eifrige Haushälterin« bei Konsul Smiths in der Strandgate gewesen war, damals, als sie Schnallenschuhe und einen Leinenkragen und Manschetten trug, die glänzten und blendendweiß waren.

    »Ach ja, jaja, Petra, arme Petra.« Das Leben war öde und die Welt ein Jammertal, und nur die Toten hatten es gut. Sie seufzte tief, wischte sich die Tränen ab und wiegte das Kleine hin und her, während sie mit kaum hörbarer Stimme summte:

    Nun schlaf, du gesegnetes Kindlein mein,

    schlaf nun süß in Jesu Hut,

    schaust voll Unschuld in die Welt hinein,

    sei froh und finde bei Jesum Mut!

    Fie brachte den Kaffee und fragte, ob sie auch für Vater einschenken solle.

    In diesem Moment fiel Petra ein, dass sie nicht gehört hatte, ob hinter Myre die Haustür zugefallen war, und auch das Kratzen des Bleigewichts an der Wand hatte sie nicht gehört. Er war doch wohl nicht …? Er hatte schon einmal nicht auf den Kaffee warten wollen, und danach hatte sie ihn oben im Vorderzimmer sorglos schlafend vorgefunden.

    Petra wickelte das Kind in ein Tuch und reichte es Fie mit der Ermahnung, vorsichtig zu sein. Dann ging sie hinaus und schlich in Filzpantinen die Treppe hinauf.

    Nein, die Zimmertür oben war verschlossen, und der Schlüssel steckte außen. Petra überlegte, während ihr Blick unwillkürlich durch den halbdunklen Dachboden wanderte, wo allerlei unbrauchbarer Kram zusammengepackt war. Beim Großvater in der Kammer konnte er ja wohl nicht sein. – Wobei – Myre gab sich doch mit allem zufrieden. Plötzlich entdeckte sie ein Paar knöchelhohe Schuhe, die unter dem kleinen Dachfenster im Licht standen – und dahinter, unter den Sparren? Richtig, da lag Myre zusammengekrümmt auf einem Stück einer zerfetzten Strohmatratze mit einem Sack unter dem Kopf und einer Bügeldecke über sich und schnarchte.

    Petra trat näher, beugte sich vor und starrte ihn an. Ihr graues Gesicht wurde rot, und ihre Augen, die mit den Jahren blass und scharf geworden waren, funkelten vor Verbitterung. Sie bohrte die beiden langen Eckzähne, die einzigen Zähne, die ihr im Oberkiefer geblieben und deren Spitzen immer zu sehen waren, in die Unterlippe und versuchte, das Wasser zurückzuhalten, das sich, wenn sie sich aufregte, in ihrem Mund sammelte, und dann packte sie ihn an der Schulter und rüttelte ihn mit hasserfüllten Worten wach, während der Speichel aus ihren Mundwinkeln lief und in zähen Tropfen von ihrem Kinn fiel.

    Myre stützte sich auf den Ellenbogen und sah seine Frau mit wachem und hilflosem Blick an. »Ek war so müde«, sagte er dann, und sein Gesicht nahm einen beschämten Ausdruck an, als hätte sie ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Er kroch unter dem Dach hervor, setzte sich auf eine Kiste und zog die Schuhe an.

    »Aber ek sollte denken, du tust deine Pflicht un gehst in den Laden, oder?«

    Myre griff nach seiner Mütze und stieg die Treppe hinunter.

    »Aber so biste eben. Irgendwas offen tun, das kannste nich. Lügn un betrügn un miese Tricks versuchn«, sie folgte ihm auf dem Fuße, und mit einer Stimme, die vor Zorn zu versagen drohte, beschimpfte sie ihn weiter, bis die Haustür hinter ihm zufiel.

    IV

    Als Petra zurück in die Stube kam, schrie die Kleine aus Leibeskräften, und Fie summte ihr vor und wiegte sie hin und her und schüttelte sie schließlich.

    »Ek werd dich lehrn, dem Kind die Gelenke auszerenken!« Fie kassierte zwei Ohrfeigen, und die Kleine wurde ihr aus den Armen gerissen.

    »Wieso haust du mich denn!«, rief Fie, brach in lautes Schluchzen aus und ließ zugleich einen Strom von Klagen und Vorwürfen hören. Immer sei es dasselbe, egal, was sie mache. Immer setze es Prügel und Schimpfe. Nie könne sie die Mutter zufriedenstellen. Nicht sie oder die Geschwister, nicht das Mädchen und nicht der Vater. Die Leute sollten nur wissen, was sie hier auszustehen hatten. Wieder fuhr die Mutter sie an und befahl ihr mit schroffer Stimme, den Mund zu halten. Sie drohte, sich beim Vater über sie zu beklagen, und versprach ihr Prügel, wenn der nach Hause käme. Aber Fie gab sich nicht geschlagen. Am Ende sprang Petra auf, mit vor Wut verzerrtem Gesicht, das Kind auf dem Arm, und hob die Hand. Aber nun stürzte Fie davon und rettete sich ins Hinterzimmer.

    Dort saß Severin am Fenstertisch vor seinen unaufgeschlagenen Schulbüchern, und in einem der Betten an der Wand lag Mathæa, die jüngste Schwester, die erkältet war. Fie ließ sich Severin gegenüber auf den Stuhl fallen, legte Arme und Gesicht auf den Tisch und schluchzte und weinte weiter.

    »Was flennst du denn so, Mädchen«, brummte Severin verärgert.

    Fie klagte ihm ihre Not und beteuerte, nichts getan zu haben.

    »Getan«, höhnte Severin, »muss man denn hier in diesem Haus etwas getan haben, damit man sich Prügel einfängt? Aber jetzt bist du still, sonst fliegst du hier augenblicklich raus.«

    »Du Rosinenstängel!« Fie hörte plötzlich auf zu weinen. »Aber ich weiß genau, weshalb du heute so sauer bist. Nämlich nur, weil du nicht zu Henrik Smiths Ball am Sonntag eingeladen bist. Ich seh doch, wie rot du wirst!«

    »Rot! Ich weiß doch überhaupt nichts von irgendeinem Ball. Das ist natürlich auch alles blödes Gerede.«

    »Ach was! Hat Lina heute in der Schule nicht ganz viele eingeladen?«

    »Und warum bist du dann nicht eingeladen?«

    Nun war es Fie, die rot wurde. »Wir gehen ja nicht in dieselbe Klasse, da ist es doch natürlich …« Ihre Stimme zitterte ein wenig. Mehrere aus ihrer Klasse würden hingehen, und in der Pause hatte sie geweint, weil sie nicht dazugehörte.

    »Bei dir ist das etwas anderes«, sagte sie jetzt. »Aber wenn du ihm bei den Hausaufgaben helfen sollst, dann bist du willkommen. Ansonsten bist du natürlich nicht fein genug.«

    »Komm rein un bring das Kaffitablett raus, Fie.« Die Mutter trat in die Türöffnung zur vorderen Stube.

    »Damit du mich noch mehr schlagen kannst!«

    Petra stürzte auf sie zu, aber Fie sprang auf, riss den Tisch vom Fenster fort und verschanzte sich dahinter. Die Mutter jagte hinterher, atemlos und außer sich vor Wut; Fie rannte los, um sich ins Vorderzimmer zu retten, wurde aber von Severin aufgehalten, der aus der Ofenecke einen Rohrstock gerissen hatte und dessen Gesicht vor gieriger Grausamkeit strahlte.

    »Soll ich sie damit verprügeln?«, rief er und hob das kurze Stück Rohrstock hoch.

    »Ja, schlag richtich zu!«

    Und nun schlug Severin auf seine Schwester ein, die nach einem vergeblichen Fluchtversuch die Hände vors Gesicht hob und die Schläge entgegennahm, während sie sich ein wenig darunter krümmte.

    Mathæa in ihrem Bett stützte sich auf den Ellenbogen und musterte ihre Geschwister gleichgültig. Aber nur für einen Moment. Dann ließ sie sich wieder zurücksinken.

    »Nein, seht nur, total verbockt«, schnaubte Petra. »Die schreit ja nich mal.«

    »Soll ich weitermachen?«, fragte Severin und hielt inne.

    »Ja. Gibs ihr, bisse um Verzeihung bittet!«

    Er hob den Rohrstock zu weiteren Schlägen, aber in diesem Moment ließ Fie die Hände vom Gesicht sinken, und Severin sah den Ausdruck in ihren Augen. Und nun war seine Hand wie gelähmt, und er murmelte verwirrt etwas darüber, warum sie denn nur so sein müsse. Dann ging Fie in die Küche, und Severin stand da, blutrot im Gesicht und mit niedergeschlagenen Augen.

    »Was is nu in dich gefahrn?«, fragte Petra mit zornigem Hohn in der Stimme. Danach zog sie sich zurück in die vordere Stube, setzte sich mit einem Andachtsbuch hin und nahm dabei ihr Strickzeug in die Hand.

    Severin schob den Tisch zurück an seinen alten Platz und schlug eins seiner Schulbücher auf. Aber das Lesen wollte ihm nicht gelingen. Henriks Ball ließ seine Gedanken einfach nicht los Und dann lag dahinter noch etwas – noch etwas Unangenehmes –, das ihn immer wieder dazu zwang, zu überlegen, was es denn war. Ja, es war der Ausdruck in Fies Augen. Diesen Ausdruck sah er wieder und wieder vor sich, und jedes Mal versetzte es ihm einen Stich.

    Was war denn bloß in ihn gefahren, als er den Stock gepackt und auf sie eingeschlagen hatte? Er hätte wie ein Besessener schreien und schlagen und schlagen können, so lange seine Kräfte es zuließen, nicht unbedingt Fie, aber egal was, den Tisch, die Stühle, den Boden. So war es sicher auch gewesen, wenn die Leute in alten Zeiten zum Berserker geworden waren. Wenn Fie nur geschrien oder zurückgeschlagen oder ihn wenigstens nicht so angesehen hätte …

    Nein, jetzt wollte er sich beruhigen. Wenn erst der Sonntag vorüber wäre und der Ball hinter ihm läge, dann würde er keine Sekunde mehr daran denken. Seine Zeit würde auch noch kommen, und wenn nicht vorher, dann jedenfalls, wenn er erst studierte. – Gemein von dir, Henrik!

    Er schob die Bücher zurück und ging hinaus in den Holzschuppen, wo er sich auf den Hackklotz setzte und sich an seinem Langbogen zu schaffen machte. Er war Mitglied im Bogenschützenkorps von Nordnes, und bald würden sie gegen die Jungs von Dreggen antreten.

    Was war das für ein Schniefen – er schaute sich um und entdeckte Fie; sie saß auf einem Holzstapel und weinte leise, die Schürze hatte sie über den Kopf geschlagen.

    Severin drehte sich eilig wieder um und war furchtbar mit seinem Bogen beschäftigt.

    Fie stand auf, kam herüber und blieb vor ihm stehen.

    »Geh weg, du stehst mir im Licht«, sagte Severin mürrisch. Er schielte zu ihr hinüber und entdeckte lange, braune Striemen auf ihren Armen. Ihm schauderte, und er musste noch einmal hinsehen.

    Fie versteckte die Arme hinter dem Rücken. »Sag, dass es dir leidtut, Severin«, bat sie mit tränenerstickter Stimme.

    »Wieso denn leidtut?«

    »Das weißt du ganz genau. Sag jetzt, dass es dir leidtut.«

    »Ich glaube, du spinnst, Mädchen. Was soll mir denn leidtun?«

    »Dass du mich geschlagen hast.«

    »Pa! Mutter hat doch gesagt, ich solle das tun.«

    »Du musst sagen, dass es dir leidtut«, erklang Fies leidenschaftliche Bitte. Wieder musste sie weinen, und die Arme mit den braunen Striemen verdeckten ihr Gesicht. »Du warst so schrecklich, als du das getan hast, du hast so hässlich ausgesehen, und ich will nicht, dass du so bist«, brachte sie mühsam hervor, unterbrochen von Weinen und Schluckauf. »Als ich in ›David Copperfield‹ über David gelesen habe, habe ich die ganze Zeit gedacht, du seist das. Ich wollte das, verstehst du. Ach, Severin, sag, dass es dir leidtut. Ich kann nie, nie wieder froh sein, wenn du nicht sagst, dass es dir leidtut.«

    Severin war es jetzt ganz seltsam zumute. In seiner Nase brannte und bohrte etwas, und er sah Fie mit großen Augen an.

    »Und weißt du«, sagte Fie, der seine verwunderte Miene sofort aufgefallen war. »Ich finde es überhaupt nicht schlimm, dass ich nicht hingehe, ich wünschte nur, du wärst eingeladen. Denn wir sind doch nicht in derselben Klasse, und da macht es nichts. Aber bei dir ist das anders. Du musst eingeladen werden, Severin, ich kann das gern Line sagen, wenn du willst.«

    »Ja, wenn du dich traust!« Severin ballte die Faust und streckte den Arm aus.

    Fie beteuerte, natürlich traue sie sich, Lina finde Severin hübsch, das habe sie zu einem Mädchen in der Schule gesagt. Fie redete eifrig und voller Wärme und schien ihren Kummer und die Schläge ganz vergessen zu haben.

    Severin überlegte. Plötzlich sprang er auf, ließ den Bogen fallen, und gleich darauf lief er durch die Gasse zur Strandgate. Er wollte bei Henrik vorbeischauen und wegen der Hausaufgaben etwas fragen. Aber in der Tür begegnete er Frau Smith, die sagte, Henrik sei mit dem Gärtner zum Landhaus gefahren.

    Als Severin wieder nach Hause kam, schloss er sich in den Holzschuppen ein. Dass Frau Smith ihm aber auch gerade heute hatte begegnen müssen, wo er ohnehin schon dermaßen außer sich gewesen war! Wenn es wenigstens der Konsul gewesen wäre, der hatte immer ein freundliches Wort für ihn. Aber wenn er der Gnädigen über den Weg lief, fühlte er sich immer doppelt so arm und unbedeutend wie sonst.

    Ach, wenn Henrik das wüsste … Severin presste sein Gesicht an die Wand des Holzschuppens und schluchzte. Aber er würde sich rächen, er würde sich umbringen, jawohl, das würde er. Eilig bückte er sich nach dem Bogen, legte einen Holzpfeil an und gab einen Schuss auf die Wand gegenüber ab. Die Pfeilspitze bohrte sich in die morsche Wand und blieb stecken. Mit einem großen Nagel müsste man sich umbringen können, wenn man genau auf das Herz zielte. Er suchte in einer Kiste und fand einen langen rostigen Nagel, den er an einem Schleifstein anspitzte. Dann legte er den Nagel an die Bogensehne, hielt ihn vor seine Brust und bewegte die Finger, als ob er den Bogen spannen wollte. Aber dann ließ er den Bogen sinken, fiel auf die Knie und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Bald darauf stand er auf, hob den Bogen wieder auf und schoss den Nagel auf die Wand ab. Der drang tief ein. Egal, wie sehr Severin daran auch zog und rüttelte, er ließ sich nicht bewegen. »Du könntest jetzt wirklich tot sein«, murmelte er und blieb eine Weile stehen, die Finger um den Nagel geschlossen.

    Dann ging er ins Hinterzimmer und spielte mit seinen kleinen Geschwistern, die zuerst misstrauisch waren. Severin zog sie immer auf. Aber an diesem Tag passierte das nicht. Er verspürte einen plötzlichen Drang, lieb und gut zu sein. Und als die Mutter ihn bat, in die vordere Stube zu kommen und ihm dabei zu helfen, alte Kleider zum Wenden aufzutrennen, sagte er bereitwillig ja und ging zu ihr hinüber.

    V

    Während sie mit dieser Arbeit beschäftigt waren, hörten sie Schritte an der Haustür. Severin und die Mutter schauten beide auf und sagten wie aus einem Munde: »Herein«, als geklopft wurde. Severin wurde rot. Was, wenn das jetzt ein Bote von Konsul Smiths war!

    Eine Dame in schwarzem Seidenkleid, mit glitzernden Perlen auf dem grauen Mantel und einer roten Straußenfeder am Samthut, trat ein und wünschte mürrisch guten Tag. Es war Petras Schwester Andrea, Tante Ravn, wie sie genannt wurde; sie war verheiratet mit Weinhändler Ravn in der Strandgate. Sie schlug den feinen Spitzenschleier zurück, zog ein parfümiertes Taschentuch aus dem Muff und putzte sich mit ihrer glänzenden, perlgrauen Lederhandschuhhand die Nase.

    »Draußen muss es ja kalt sein«, sagte Petra.

    »Was?«

    »Du hast so ne rote Nase.«

    Tante Ravn schaute in den Spiegel und warf ihrer Schwester dann einen spöttischen Blick zu. »Sicher von der roten Feder, und du bist neidisch«, sie lachte lautlos, aber so herzlich, dass ihre Schultern dabei bebten.

    »Wie gehts dem Großvater?«, fragte sie dann.

    »Der liegt heut.«

    »Ach ja, der arme Alte.« Tante Ravn schüttelte mitleidig den Kopf. »Das wundert mich gar nich.«

    »Wieso kannste ihn dann nich zu dir in die Strandgate nehmen?«, fragte Petra empört. »Dann würden wir ja sehn, wie gut ers da hätt«, fügte sie mit einem gallengrünen Lächeln hinzu.

    »Du bist ja wohl nich ganz bei Trost, Mensch«, rief Tante Ravn mit erstaunter Unschuldsmiene. »Hab ek was gesagt, Severin?«

    »Meinste, ek versteh deine Andeutungen nich?« Petra sprang auf und breitete die aufgetrennten Stoffstücke auf dem Tisch aus. Dann nahm sie ein glühendheißes Plätteisen vom Herd und presste es auf die Stoffstücke, bis die ein zischendes Geräusch hören ließen.

    »Da hat se dich also ans Trennen gesetzt, mein Bester«, sagte Tante Ravn lächelnd zu Severin.

    »Mir macht das Spaß«, erwiderte Severin ein bisschen verlegen.

    »Ja, deine Mutter nu wieder«, beharrte Tante Ravn. »Die lässt andre gern ihre Arbeit machn. Fredrik dürft ek so was nich zumutn.«

    »Fredrik«, schnaubte Petra höhnisch. »Severin hat das selbs angebotn. So sind nämlich meine Kinder!«

    »Is es nich bloß gelogen, Severin?« Tante Ravn zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

    »Was fragste den denn?«, wollte Petra wissen und knallte das Plätteisen auf den Ofen.

    »Ek frag, ob er nich auch mal zu mir kommen un alten Kram auftrennen will«, Tante Ravn kehrte ihrer Schwester den Rücken zu und schüttelte sich vor lautlosem Lachen. Severin wurde von ihrer versteckten Heiterkeit angesteckt. Nur mit Mühe konnte er sich das Lachen verkneifen.

    Petra plättete nun wieder und setzte das Eisen so hart auf den Tisch, dass die Platte bebte.

    »Die is aber schlecht gelaunt«, flüsterte Tante Ravn Severin zu und brach wieder in dieses gedämpfte Lachen aus, das in kurzen, dicht aufeinanderfolgenden Stößen kam. »Egal, was man sagt.«

    Fie kam herein und wirkte angenehm überrascht davon, dass Besuch gekommen war. »Willst du dich nicht setzen, Tante?« Sie lächelte über das ganze Gesicht.

    »Danke, Fiechen. Bisher hat mir hier niemand auch nur nen Stuhl angebotn.«

    »Jesses, jetz biste plötzlich so reizend«, fauchte Petra Fie an.

    »Bitte, setz dich doch, Tante«, sagte Severin eilig und stand auf; es hatte den Anschein, als ob er die Worte seiner Mutter ausgleichen wollte.

    Tante Ravn machte eine vage Handbewegung und nahm auf dem Sofa Platz, genau gegenüber von ihrer Schwester, die noch immer mit Plätten beschäftigt war.

    »Hör mal, Petra«, sagte sie begütigend. »Jetz sei doch nich so sauertöpfich. Ek wollt dich zwei Sachen fragn. Ek hab n Kleid, n gutes, schönes Wollkleid, un wollt wissen, ob du das für Fie brauchn kannst.«

    »Hm«, sagte Petra nur.

    »Das is das aus blauem Thibet«, erzählte Tante Ravn. »Is vor kurzem gewaschn worn un dabei eingelaufn. Nu isses zu kurz für mich.«

    »Meinst du das, was so hübsch ist?«, rief Fie entzückt aus.

    »Das war das eine«, redete Tante Ravn unbeirrt weiter.

    »Un dann wollt ek noch fragn, wieso dein Mann neuerdings den Laden zuhat?«

    »Der hat den Laden zu?« Das Plätteisen stand still und Petra blickte überrascht auf. »Doch sicher bloß in der Mittagspause?«

    »Jetz war der Meister schon mehrere Male da, vor un nach der Mittagspause, um bei ihm Butter ze kaufn, aber reingekommen isse nich.«

    Severin und Fie kicherten wegen des »Meisters«. Diesen Spitznamen hatte das Dienstmädchen der Tante.

    »Ja, isses nich zu arg!«, rief Petra und ihr Gesicht verdüsterte sich. »Aber ek glaub das ja gern«, und nun kamen die Klagen über Nachlässigkeit und Versäumnisse des Mannes. Tante Ravn gab ihr recht und stimmte ein: So, wie Petra sich abmühte und sich plagte und wie auch die Kinder sich abmühen mussten, da hätte Myre nun wirklich auch anders sein können. Severin und Fie schluckten alles, was gesagt wurde, mit Ohren und Augen. Tante Ravn wirkte immer aufmunternd im grauen Alltag der Kinder. Sie hatte etwas geheimnisvoll Gefährliches und doch so verlockend Vergnügliches an sich. Fie sagte immer, mit Tante Ravn zusammen zu sein, sei ebenso lustig, wie eine Gespenstergeschichte zu hören.

    »Nein, jetz muss ek wohl los«, sagte Tante Ravn, als das Thema schließlich erschöpft war. »Puh«, sie wischte sich das Gesicht ab und griff nach dem Kragen ihres Mantels. »Hier isses so heiß.«

    »Jetz bleib doch noch nen Moment, dann koch ek Kaffi.«

    »Um diese Zeit trinkt ihr Kaffi?« Tante Ravn verzog den Mund.

    »Dann eben Tee. Thrine soll den Kessel übers Feuer hängen, Fie. Nu zieh schon den Mantel aus un mach nich son ungeduldiges Gesicht«, Petra sagte das in freundlichem, fast scherzendem Tonfall. Nach dem Austausch einvernehmlicher Wahrheiten über Myre fühlte sie sich der Schwester gegenüber milder gestimmt. Sie rollte die Stoffstücke zusammen, stellte das Plätteisen auf den Ofen und ging hinüber in die Küche.

    »Bist ja schon ganz schön groß«, sagte die Tante zu Severin. »Komm, jetz messn wir uns mal.« Sie stand auf und trat vor den Spiegel, neben Severin, der nur noch einen knappen Zoll kleiner war als die Tante.

    »Ja, ek bin ja auch am 1. Oktober vierzehn geworn.«

    »Wenn ek das bloß gewusst hätt. Komm doch mal bei mir vorbei, dann find ek schon was für dich.«

    »Danke. Wann soll ek kommen?«

    »Am besten abends zwischen sieben un acht. Vierzehn Jahre – da rauchste wohl auch schon?«

    »Nein. Ek trau mich nich.«

    »Erzähl mir doch so was nich! Hier, mein Bester, hier haste n paar Schillinge, da kannste dir Zigarren für kaufn. Aber darfste nich verratn«, sie zog ein Portemonnaie aus dem Muff, nahm ein silbernes Zwölfschillingstück heraus und gab es ihm.

    Severin bedankte sich mit verlegener Miene. »Da kommt Onkel Marius«, sagte er und schaute aus dem Fenster.

    Gleich darauf wurde die Tür geöffnet und ein wettergegerbter Mann in Seemannskleidung,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1