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Gegenwärtig sein: Gespräche mit Thilo Wydra
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Gegenwärtig sein: Gespräche mit Thilo Wydra
eBook336 Seiten5 Stunden

Gegenwärtig sein: Gespräche mit Thilo Wydra

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Über dieses E-Book

Sie sagt selbst, viele ihrer Filme seien entstanden, um Druck vom Herzen zu nehmen. Ihr Lebensweg ist ein verschlungener. Aus- gebombt in Berlin, zog sie mit der Mutter bald nach Düsseldorf, lebte später in München, Rom, Paris, dann wieder in München. Von ihrer Halbschwester erfuhr sie erst nach dem Tod der Mutter. Der Vater war meist abwesend. Glück fand sie in der Kunst: Zunächst in den Büchern. Alles habe sie weggelesen als Kind.Im Gespräch mit dem Autor und Filmpublizisten Thilo Wydra erzählt Margarethe von Trotta von den Ängsten ihrer Jugend, den ersten Schritten als Schauspielerin in München – von Fassbinder, der sie mit keinem anderen Regisseur teilen wollte –, von den gemeinsamen Filmen mit ihrem damaligen Ehemann Volker Schlöndorff, vor allem aber von ihren eigenen, den Biographien über Hannah Arendt, Hildegard von Bingen und Rosa Luxemburg, und ihrem internationalen Durchbruch mit Die bleierne Zeit – eine Zeit, die sie selbst intensiv erlebt hat: den Deutschen Herbst. Und natürlich kommt die Sprache auf die zwei Filmschaffenden, die sie bis heute am meisten beeindrucken: Ingmar Bergman und Alfred Hitchcock, zwei Regisseure, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Aber auch von den großen Lieben ihres Lebens erzählt sie – und noch vieles andere mehr.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum27. Jan. 2022
ISBN9783311703129
Gegenwärtig sein: Gespräche mit Thilo Wydra
Autor

Margarethe von Trotta

Margarethe von Trotta, 1942 in Berlin geboren, zählt seit Jahrzehnten zu den bedeutendsten Regisseurinnen Europas. Im Paris der frühen 1960er-Jahre kommt sie zum ersten Mal mit dem Film in Berührung. Zunächst steht sie vor der Kamera, spielt unter anderem in Filmen von Rainer Werner Fassbinder und Herbert Achternbusch. Bald jedoch zieht es sie hinter die Kamera. Gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann Volker Schlöndorff dreht sie unter anderem Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975). Ihre erste Solo-Regiearbeit ist 1978 Das zweite Erwachen der Christa Klages. Mit ihrem dritten Film Die bleierne Zeit gelingt von Trotta auf den Filmfestspielen von Venedig 1981 der internationale Durchbruch. Ihre Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

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    Buchvorschau

    Gegenwärtig sein - Margarethe von Trotta

    »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.«

    Heimat und Unbehaustsein

    Im September 2018 hast du in der Frankfurter Paulskirche den renommierten Adorno-Preis bekommen und stehst damit auf einer langen Liste mit sehr großen Namen.

    Hauptsächlich männlich.

    Hauptsächlich männlich. Das ist bereits der erste Punkt. Ein weiterer Punkt ist aber, dass da jemand stand, 1976, Jahrzehnte vor dir, den du nicht nur persönlich kennengelernt und mit dem du in einer Jury gesessen hast, sondern den du bewundert hast und der dich sehr geprägt hat: Ingmar Bergman. Er bekam damals den Goethe-Preis. Bergman war aus Stockholm geflohen, da er Probleme mit dem Finanzamt hatte. Er wurde zu Unrecht eines Steuervergehens beschuldigt und kam hierher nach München, ans Residenztheater. Er sagte damals: »Ich kann in einem Land nicht leben und auch nicht arbeiten, das mich in meiner Ehre gekränkt hat.« Du hast über deine eigene Kindheit gesprochen. Du hast von dem Fremdenpass erzählt, dem alien’s passport. Du hast von deiner Mutter erzählt, ein Moment, den ich als sehr anrührend und bewegend empfunden habe. Und du bist auf deine Staatenlosigkeit zu sprechen gekommen. Am Ende deiner Rede hast du Adorno zitiert, Die Wunde Heine, und vom Ausgestoßensein gesprochen, von dem auch er schreibt. Du sagtest: »Dass ich heute Abend von der Stadt Frankfurt einen Preis entgegennehmen darf, der mit seinem Namen verbunden ist, macht mich zu einer Person, die in ihrem Land nun endgültig keine Fremde mehr sein muss.« Wie fremd oder wie beheimatet fühlst du dich heute?

    Ich möchte erst anknüpfen an die Rede von Bergman. Er war Sozialdemokrat. Er hatte dem schwedischen Film große Anerkennung in der Welt verschafft, er wurde von Hollywood umworben, und plötzlich beschuldigte ihn sein Land der Steuerhinterziehung. Er wurde während einer Theaterprobe von der Bühne gezerrt und verhaftet, wie ein Krimineller. Sein Freund Olof Palme hat ihm nicht beigestanden. Das hat ihn so sehr verletzt, dass er sein Land verlassen musste, um nicht psychisch krank zu werden. Für ihn war es eine Flucht, um zu überleben. Aber er verlor nicht seine Staatsangehörigkeit.

    Das ist ein wesentlicher Unterschied zu meiner Geschichte und zur Geschichte meiner Mutter. Meine Mutter ist in Moskau geboren. Ihre Familie stammte aus Riga, ihr Vater war als Großkaufmann nach Moskau gegangen. Da das Baltikum Teil des Zarenreichs war, hatte meine Mutter die russische Staatsangehörigkeit. Als 1917 die Revolution ausbrach und die Bolschewiken im Oktober die Macht übernahmen, flohen die meisten russischen Aristokraten ins Ausland, viele nach Paris, andere nach Berlin. Meine Großeltern warteten zunächst ab. Nachdem aber viele Adlige, auch aus ihrer Familie, umgebracht worden waren, entschlossen sie sich ebenfalls zur Flucht. Eine sehr gefährliche Flucht, zurück in die eigentliche Heimat der von Trotta genannt Treyden, ins Kurland, im heutigen Lettland. Die Balten waren 1918 unabhängig von Russland geworden, mussten sich jedoch schon kurz darauf gegen die Rote Armee verteidigen. Volker Schlöndorff und ich haben in dem Film Der Fangschuß nach dem Roman von Marguerite Yourcenar diese Zeit beschrieben. Ein Bruder meiner Mutter engagierte sich sogleich in der baltischen Landeswehr und ist schon mit neunzehn Jahren gefallen. Da die Familie aus einem nunmehr kommunistischen Land kam, verloren sie ihre russische Staatsangehörigkeit. Und damit ihre Ausweispapiere. In Frankreich nennt man diese Menschen heute les sans papiers.

    Les sans papiers. Die illegalen Einwanderer, wörtlich: die ohne gültige Ausweispapiere.

    Fridtjof Nansen, der norwegische Diplomat und Polarforscher, hat ihre Lage erkannt und sich dafür eingesetzt, dass sie zumindest ein Dokument bekamen, auf dem ihr Name stand, sie sich also ausweisen konnten. Nur hatten sie damit noch keine Staatsangehörigkeit. Sie wurden staatenlos. Da meine Mutter sich niemals hat einbürgern lassen, blieb sie ein Leben lang staatenlos, und da sie nicht verheiratet war und ich ihren Namen trage, war ich ebenfalls staatenlos. Warum sie die deutsche Staatsangehörigkeit, auch später, nicht beantragt hat, habe ich nie verstanden. Sie hat immer etwas abfällig von den »Reichsdeutschen« gesprochen, so wurden die Deutschen genannt, die in den Grenzen des Reichs lebten, während die Familie meiner Mutter, die zwar deutschstämmig war, jenseits der Grenzen zu Hause war. »Die Deutschen sind so kleinlich.« Russen waren ihrer Meinung nach großzügiger. Auch meine Mutter war großzügig, obwohl sie es sich nicht leisten konnte. Später, in der Bundesrepublik, hieß dieser Pass für Staatenlose Fremdenpass, alien’s passport. Ich blieb staatenlos bis zu meiner ersten Ehe und hatte diesen alien’s passport. Im Unterschied zum damaligen Pass der Bundesrepublik …

    … der grün war …

    … war der Fremdenpass grau, was mir immer wieder vor Augen führte, dass ich mich in einer Grauzone befand und nicht dazugehörte. Alle zwei Jahre musste ich aufs Polizeipräsidium in Düsseldorf. Ich stand in einer Schlange inmitten von Ausländern und musste um die Verlängerung meiner Aufenthaltsgenehmigung bitten. Obwohl ich in Berlin geboren war, in eine deutsche Schule ging, meine Sprache und Kultur deutsch war, musste ich dafür zahlen, in Deutschland leben zu dürfen. Einmal machte ich den Versuch, die Beamten zu bitten, mich einzudeutschen, aber sie meinten zynisch, ich solle warten, bis ich Geld verdienen würde. Ich müsse drei Monatsgehälter dafür zahlen, die ich ja wohl noch nicht zahlen könne. Sie hatten recht.

    Ich vermute, ich habe 1964 nur geheiratet, weil ich endlich diesen grauen Pass loswerden wollte. Vor allem wollte ich reisen können. Denn als Staatenlose brauchte ich für jedes Land ein Visum, was wiederum Geld kostete. Und für jedes Land, durch das ich reiste, ein Durchreisevisum. Einmal, bei meiner Rückreise von Paris nach Düsseldorf, hatte ich kein Durchreisevisum für Belgien und wurde von einem belgischen Grenzbeamten mitten in der Nacht aus dem Zug geworfen. Ich saß dann ganz allein auf einer Bank in einer Art Niemandsland, bis es wieder hell wurde, und trampte zurück nach Paris.

    In den fünfziger Jahren wollten viele Frauen noch unbedingt heiraten. Oder man hat ihnen unterstellt, dass sie so schnell wie möglich »unter die Haube« kommen wollten, um »versorgt« zu sein. Das wollte ich nicht. Ich hatte das Beispiel meiner Mutter vor Augen, die immer wieder betonte, sie hätte nie heiraten wollen, sie hätte nie einem Mann untertan sein können. Das wollte ich auch nicht, obwohl ich meinen ersten Mann sehr geliebt habe. Liebe braucht keine Bestätigung vom Standesamt, aber ich wollte nicht mehr die »Fremde« sein. Fremdsein bedeutete für mich, heimatlos zu sein.

    Wenn du immer wieder gefragt wirst: Staatsangehörigkeit? Und du musst antworten: staatenlos. Dann ist das, als würdest du sagen: heimatlos. Oder, um den Titel eines Buchs von Christa Wolf zu Hilfe zu nehmen: Du hast keinen Ort, nirgends.

    Man ist im Nirgendwo. Unbehaust.

    Ja. Dieses Gefühl wurde in meiner Kindheit durch das zerstörte Berlin noch verstärkt. Meine ersten Erinnerungen an die Stadt sind Ruinen. Man kennt die Bilder von Berlin nach dem Krieg: eine völlig zerstörte Stadt, man kann kaum glauben, dass Menschen dort noch haben leben können. Wie soll ein Kind in einem solchen Steinhaufen Heimatgefühle entwickeln? Nur das Gefühl von Zerstörung. Als Kind reflektiert man nicht, man weiß nicht, woher diese Zerstörung kommt, man weiß nicht, dass die Menschen sie selbst verschuldet haben, man ist nur Opfer.

    Ich habe mir später oft vorgestellt: Wenn ein Kind an der Hand seiner Mutter durch Rom oder Paris geht, durch Städte, die nicht zerstört worden sind, dann lernt es Geschichte, ohne zu wissen, dass es sie lernt. Es lernt, dass es eine Vergangenheit gibt, etwas, das schon lange vor ihm da war, eine alte Kultur. Gerade in Rom, wo ich später eine Zeit lang gelebt habe. Vom antiken Rom bis heute kannst du durch die Geschichte gehen, und du wirst ein Teil von ihr … Dieses Gefühl, dazuzugehören, war in Berlin nicht möglich. Das ging nicht nur mir so, der Staatenlosen, sondern jedem Kind, das in Berlin nach dem Krieg aufgewachsen ist, vermute ich.

    Das ist auch in Wolfgang Staudtes 1946 entstandenem Film Die Mörder sind unter uns mit Hildegard Knef zu sehen, dem ersten deutschen Nachkriegsfilm. Ein Spielfilm, der zugleich wie ein Zeitdokument wirkt.

    Meine Mutter erzählte mir später, dass die Berliner zum Schluss fast nur noch im Luftschutzkeller saßen. Und da kommt noch etwas anderes hinzu. Die Männer waren im Krieg, in den Bombenkellern saßen nur Frauen mit ihren Kindern oder alte Leute. Und natürlich hatten sie alle Angst, gerade in Berlin, wo ab 1942 viermal am Tag Fliegeralarm war. Wenn sie rauskamen, erkannten sie oft ihre Umgebung nicht wieder. Sie hatten Angst um sich und Angst um die Kinder. Und diese Angst hat sich auf die Kinder übertragen. Kleine Kinder brauchen das Gefühl, dass die Erwachsenen sie beschützen, um dem Leben vertrauen zu können. Von der Unsicherheit und Angst hat sich meine Generation nie ganz befreien können, glaube ich. Hinzu kam der schrille Ton der Sirenen. Wenn ich heute eine Sirene höre – in Paris werden ab und zu die Sirenen um die Mittagszeit getestet –, schrecke ich noch immer zusammen.

    Angst als Lebensgrundgefühl.

    Ja, das ist mir erst viel später bewusst geworden. Als wir schon in Düsseldorf lebten. Kurz vor dem Abitur habe ich plötzlich jede Nacht im Schlaf geschrien und bin von meinem eigenen Schreien aufgewacht. Meine Mutter war ganz verzweifelt, weil sie nicht verstehen konnte, woher diese Panik kam. Bis ich eines Nachts bemerkte, dass genau in dem Augenblick ein Flugzeug über unser Haus flog. Da hatte mich die Anspannung vor dem Abitur wohl wieder zurückkatapultiert in die frühkindliche Situation. Zumindest schien mir das eine Erklärung zu sein.

    Es wird etwas Verschüttetes im Inneren aufgerufen.

    Im Moment, als ich das begriffen hatte, hat die Angst aufgehört, das heißt, wenn du dir diese verschütteten Erlebnisse ins Bewusstsein rufst, kannst du dich retten.

    Woran ich in diesem Zusammenhang auch denken muss, ist eine Szene, von der du vor Kurzem erzählt hast – es ist ein Zeitsprung zurück: Es gab ein Erdbeben am Rhein. Dann der Moment mit dem Bett …

    Da war ich noch in der Volksschule. In Bad Godesberg. Meine Mutter und ich waren von Berlin nach Bad Godesberg gezogen, dort hatte der Bruder meiner Mutter eine Anstellung für sie gefunden und für uns beide ein kleines Zimmer. Wir wohnten immer nur in einem Zimmer, zur Untermiete. In Godesberg bei einer reichen Familie in einer Villa am Rhein, mit einem wunderschönen Park. Die heile Gegenwelt zum zerstörten Berlin! Die Besitzer von Villen wurden nach dem Krieg gezwungen, Flüchtlinge aufzunehmen, und das ließen sie diese Menschen spüren. Meine Mutter hatte den Vorzug, adelig zu sein, das milderte die Verachtung dieser Bürgerlichen ein wenig. Sie musste dann aber sehr bald von Bad Godesberg nach Düsseldorf ziehen, zusammen mit ihrem Bruder. Dessen Firma gab den Sitz in Godesberg auf und beide gingen als Angestellte mit. Ich blieb zunächst in der Obhut meiner Tante. Sie schlief nun anstelle meiner Mutter in meinem Zimmer. In einer Nacht gab es ein Erdbeben in der Eifel, dessen Auswirkungen bis nach Bad Godesberg zu spüren waren. Ich schlief in einem großen, sehr altmodischen Bett mit Rollen, und plötzlich fing das Bett an, durch das Zimmer zu rollen, und die Wände wackelten ein wenig. Meine Tante wachte auf und schrie: »Wer ist da? Wer ist da?« Ziemlich hysterisch. Na ja, sie war auch dreimal in ihrem Leben auf der Flucht gewesen und hatte sehr oft Angst haben müssen. Am nächsten Tag haben wir erfahren, dass es ein Erdbeben war. Von da an bin ich jede Nacht aufgewacht vor lauter Angst, dass es wieder passiert. Ich bin zum Fenster geschlichen und habe hinuntergeschaut in den Park. Unten standen eine alte Zeder und eine Trauerweide. Und diese Trauerweide wiegte sich im Wind. Ich sah hinunter, ein kleines Kind, durch unser kleines Fenster, und mir schien, dass dort ein Mann mit schwarzer Kapuze stand. Er schaute mich an und bewegte sich dabei im Wind. Nur sein Blick bewegte sich nicht. Er starrte und starrte, und ich starrte zurück, gelähmt vor Angst. Das wiederholte sich jede Nacht. Meine Tante hat mich dann zum Arzt gebracht, der mir irgendetwas verschrieben hat, ich weiß nicht mehr genau, was. Ich erinnere mich auch nicht mehr, wann es endlich vorbei war und ich wieder ruhig schlafen konnte.

    Also eine Art überirdische, dunkle Macht …

    Ja. Jedenfalls eine Macht, gegen die du nichts tun kannst, gegen die du hilflos bist. Weil du es ja auch nicht benennen kannst. Ich glaube, wenn man die Dinge benennt, verändern sie sich. Das ist ja auch in alten Religionen so, oder auch, wenn alte mythologische Völker sich bekämpfen: Solange man den Namen des anderen Königs nicht kennt, kann der nicht besiegt werden. In dem Moment, wo dein Gegner deinen Namen kennt, bist du verwundbar.

    Du hast mir neulich einmal erzählt, dass du früher von deiner Mutter geträumt hast. Und auch, dass deine Mutter dich in irgendeiner Form bedroht habe.

    Ja, aber das war viel später. Meine Mutter ist mir nach ihrem Tod – sie ist 1979 gestorben – erschienen. Wenn ich abends ins Bett ging und das Licht ausgemacht hatte, stand sie plötzlich in der Tür und rief meinen Namen. Dann kam sie langsam auf mich zu, mit ausgestreckten Händen, als wollte sie mich erwürgen. Voller Panik habe ich das Licht wieder angemacht, und die Erscheinung verschwand. Ich konnte danach zwei Jahre lang nicht ohne Licht einschlafen. Ich habe mir das alles nicht erklären können, denn meine Mutter war, solange sie lebte, immer sehr liebevoll gewesen. Wir hatten nie Konflikte. Und dass sie nach ihrem Tod plötzlich zu einer Frau wurde, die mir Gewalt antun wollte … Es war ja kein Traum. Sie stand wirklich in der Tür! Also glaubte ich, vielleicht werde ich wahnsinnig, oder ich habe Wahnvorstellungen wie meine Großmutter, die nach ihrer Flucht aus Russland ein Jahr in die Psychiatrie musste, weil sie unter Verfolgungswahn litt. Und als sich am Ende des Zweiten Weltkriegs, als sie schon in Deutschland lebte, die sowjetische Armee Deutschland näherte, wurde sie wieder krank und kam in eine Anstalt, in der sie kurz darauf »verstarb«. Ich vermute, sie ist euthanasiert worden.

    Ich suchte Hilfe bei einer Psychotherapeutin, in der festen Überzeugung, dass ich diese Krankheit von der Großmutter geerbt hatte. Die Therapeutin war eine kluge Frau. Sie hat mich beruhigt, das seien keine Anzeichen von Wahnsinn, ich hätte nur meine Mutter zu sehr idealisiert, hätte ihr »böses« Gesicht – das jeder Mensch habe – nicht erkennen wollen. Sie stellte mir die Aufgabe, meine Träume aufzuschreiben und das, was mir an Assoziationen dazu einfiele. Ich habe ganze Hefte vollgeschrieben. Nach zehn Sitzungen hat sie mich nach Hause geschickt mit dem Ratschlag, all das für meine Drehbücher, meine Filme zu verwenden. In der Tat war ich nach diesen Aufzeichnungen jedes Mal so ausgeschrieben, dass ich kein Drehbuch mehr zustande gebracht hätte.

    Es ist nur allzu verständlich, dass man die Eltern idealisiert, gerade die eigene Mutter.

    Aber es gibt auch böse Mütter. In den Grimm’schen Märchen gibt es die Hexen und die bösen Stiefmütter.

    Sicher. Aber die eigene Mutter?

    Das Urbild der Mutter ist die Gute. Aber es gibt genügend Geschichten, auch in der Literatur, in denen Kinder sich vor der Mutter fürchten. Ich habe mich nie vor meiner Mutter fürchten müssen. Im Gegenteil. Sie war wie eine Freundin für mich. Da mein Vater mit einer anderen Frau verheiratet war, hat sie mich allein erzogen. Wir lebten immer nur zu zweit.

    Zwei Gedanken: Zum einen, du hast eben erstmals deinen Vater erwähnt, den Maler Alfred Roloff. Zum anderen: Das Bild hat sich mir so eingeprägt, wie deine Mutter dort im Türrahmen steht. Ein nahezu expressionistisches Bild. Man könnte auch an Bergman denken, sogar an Hitchcock. Die Mutter in der Tür. Ein Schatten im von hinten erleuchteten Türrahmen, das Gesicht unkenntlich. Auch an deutschen Expressionismus im Film.

    Wie heißt der Film mit Max Schreck?

    Nosferatu.

    Ja, auch so ein Albtraum-Film. Nosferatu steht plötzlich im Türrahmen, immer um Punkt Mitternacht. Zur Geisterstunde. Bei meiner Mutter war es auch Mitternacht. Waren es nur die Geistergeschichten, die ich in meiner Kindheit gehört hatte? Nachtängste? Die Nacht als Gefahr? Es gab immer wieder Zeiten, in denen mich diese Nachtängste plagten. Ich lag wach, und erst gegen Morgen, beim ersten Dämmerlicht, manchmal sangen dann schon die Vögel, konnte ich einschlafen. Dass meine Mutter mir als Rächerin erschien, hatte aber vielleicht noch einen anderen Grund …

    Zu dieser Zeit, 1978/79, hast du an dem Drehbuch zu deinem zweiten Spielfilm geschrieben und ihn anschließend gedreht. Parallel wurde ein Dokumentarfilm über dich gedreht, der dann im Fernsehen lief. Da hast du eines Tages einen Brief bekommen von einer dir unbekannten Frau, die dich fragt, ob deine Mutter vielleicht Elisabeth heiße.

    Schwestern oder Die Balance des Glücks, meinen zweiten Spielfilm, habe ich 1978 geschrieben, im Herbst ’78 haben wir mit den Dreharbeiten begonnen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich auch schon das Drehbuch für Die bleierne Zeit fast fertig, eine weitere Schwesterngeschichte. Und ich wurde oft gefragt: »Hast du denn eine Schwester?« »Nein, habe ich nicht.« »Wie kommt es dann, dass du von drei Filmen zwei Filme über Schwestern machst?« Ich wusste es nicht. Den Film habe ich im März ’79 in Norddeutschland beendet, danach kam ich zurück nach München. Ein paar Tage wollte ich mir Zeit geben, und dann meine Mutter besuchen, die in privater Pflege war, zwei Autostunden von München entfernt. Sie hatte Alzheimer. Einen Tag, bevor ich hinfahren wollte, klingelte am Morgen das Telefon. Volker, der immer früher aufstand als ich, nahm den Anruf entgegen und kam weinend zurück in unser Schlafzimmer. Ich wusste sofort: sein Vater oder meine Mutter. Es war meine Mutter. Sie hatte schon seit einer Woche im Krankenhaus gelegen, aber die Pflegerin hatte mir nicht Bescheid gesagt, weil sie wusste, dass ich gerade drehte. Ich erfuhr dann, dass meine Mutter im Krankenhaus nur noch Russisch gesprochen hat. Niemand hat sie verstehen können. Die Vorstellung, dass sie dort so verlassen gestorben ist und durch ihre Demenz auch gar nicht mehr wissen konnte, wer gehört zu ihr und wer nicht … Wenn ich nur noch einmal ihre Hand hätte halten können, denn daran hat sie bis zuletzt erkannt, dass ich zu ihr gehöre. Sie war der einzige Mensch, den ich in meiner Kindheit über alles geliebt habe, und dass ich sie nun beim Sterben allein gelassen hatte, habe ich mir nicht verzeihen können.

    War es Alzheimer oder Demenz? Zuerst vergaß sie die Namen der anderen, zum Schluss ihren eigenen. Es begann damit, dass sie mich einmal fragte, wo sie geboren sei, und als ich »Moskau« sagte, löste dieser Name nicht mehr die Nostalgie aus, die ich von ihr kannte. Zuletzt fragte sie mich, wer ich bin, ich komme ihr so bekannt vor, und wenn ich ihr sagte: »Ich bin deine Tochter«, freute sie sich. »Ach«, rief sie, »das erfahre ich ja heute erst, dass ich eine Tochter habe.« Sie war dann jedes Mal ganz fröhlich. Dass sie mich nicht mehr erkannte, war so schmerzlich für mich, als hätte sie mich verlassen. Ich wusste, es ist die Krankheit, aber die Seele will noch eine andere Bewandtnis darin erkennen.

    Das Leben war immer schwer für sie, ohne mich hätte sie ihr Freiheitsbedürfnis ausleben können. Als Kind, in ihrer adeligen Familie, war sie die Rebellin gewesen, ihr Bruder nannte sie »das schwarze Schaf«, sie hatte immer auf dem Recht bestanden, eine eigene Meinung zu haben, sie hat um ihre ganz persönliche Freiheit gekämpft, war von Riga allein nach Deutschland gegangen, nur um selbst über sich bestimmen zu können. Und dann diese erneute Abhängigkeit. Wer weiß, ob sie nicht manchmal den Wunsch nach Unabhängigkeit, auch von ihrem Kind, verspürt hat.

    Nun lag sie im Keller des Krankenhauses auf einer Pritsche, hatte einen Zettel am Fuß mit ihrem Namen. Nicht einmal die Augen hatte man ihr geschlossen. Sie sah so erschrocken aus, als hätte der Tod sie überrascht und sie ihn nicht erkannt.

    Jetzt bei der Pandemie und dem Verbot, die Sterbenden im Krankenhaus zu besuchen und sich von ihnen zu verabschieden, ist es vielen Menschen so ergangen. Sie haben sich schuldig gefühlt, obwohl sie es objektiv nicht waren. Das ist ein Schmerz, der nicht vergeht. Vielleicht waren diese Schuldgefühle ein Grund dafür, dass meine Mutter mir als Rächerin erschien. Aber es gab noch etwas. Ich hatte von einem Geheimnis erfahren, das sie mir verborgen hatte.

    Während ich Schwestern oder Die Balance des Glücks drehte, kam eine Dokumentarfilmerin nach Hamburg, Katja Raganelli. Sie hat ein paar Tage mitgefilmt und mich lange interviewt. Ihr habe ich zum ersten Mal von meiner Mutter und ihrem Gedächtnisverlust erzählt. Dieser Film ist nach dem Tod meiner Mutter im Fernsehen ausgestrahlt worden. Kurz darauf bekam ich einen Brief von einer Frau, die mich nach dem Namen meiner Mutter fragte. Ich antwortete ihr, meine Mutter sei nicht verheiratet gewesen, ich trage den Namen meiner Mutter und so weiter, und falls sie mir noch etwas über sie erzählen könne, denn meine Mutter habe sich zuletzt an gar nichts mehr erinnert, solle sie mir doch bitte schreiben. Und dann kam die Antwort: »Ich bin Ihre Schwester.« Sie kannte zwar meinen Namen, aber als bürgerlich verheiratete Frau hatte sie angenommen, es müsse der Name meines Vaters sein. In ihrer Geburtsurkunde stand der Name meiner Mutter. Ihre Adoptiveltern mussten während der Nazizeit nachweisen, dass sie keine Jüdin war.

    Kurz darauf haben wir uns getroffen. Sie sah meiner Mutter viel ähnlicher als ich. Es war, als säße mir meine junge Mutter gegenüber. Meine Schwester ist sehr viel älter als ich, meine Mutter hatte sie gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben und durfte nicht mit ihr in Verbindung bleiben.

    Dass meine Mutter mir einen so wesentlichen Teil ihres Lebens verschwiegen hatte, hat mich zunächst völlig aus der Bahn geworfen. Ich habe ihr als Kind immer alles erzählt, alle meine kleinen Geheimnisse, und hatte naiv geglaubt, sie hätte es genauso gehalten. Dass sie dieses Vertrauen zu mir nicht gehabt hat, hat mich erschüttert. Später habe ich mich in ihre Situation hineinversetzt. Hätte sie es mir gesagt, hätte ich sie sicherlich bedrängt, nach dieser Schwester zu suchen, denn ich hatte mir immer einen Bruder oder eine Schwester gewünscht. Vielleicht befürchtete sie auch, ich könne sie weniger lieben, wenn ich erfahren würde, dass sie ihr Kind weggegeben hatte. Sie sagte manchmal zu mir: »Dass du mich so sehr liebst … das habe ich gar nicht verdient.« Vieles, was sie gesagt hat, ist mir erst im Nachhinein, nach ihrem Tod, verständlich geworden.

    Sie hat das Geheimnis um deine Schwester mit ins Grab genommen. Wenn man es recht bedenkt, eine gewaltige Lebenslüge.

    Das Verrückte ist: Während ich das Drehbuch zu Schwestern oder Die Balance des Glücks schrieb, habe ich den beiden Schwestern die Namen Anna und Maria gegeben. Ich dachte dann oft: Das muss ich noch ändern, viel zu altmodisch und biblisch. Es war wie ein Zwang, ich konnte es nicht. Als ich meine Schwester traf, sagte sie mir, ihr zweiter Name sei Anna. Mein zweiter Name ist Maria. Anna und Mary waren die Namen der beiden Lieblingstanten meiner Mutter. Meine Psychotherapeutin meinte, ich hätte es natürlich gewusst, es bestehe eine telepathische Verbindung zwischen einem Kind und seiner Mutter, darüber habe schon Freud eine Abhandlung geschrieben. Vielleicht hat meine Mutter, während sie mich gestillt hat – und sie hat mich sehr lange, ein Jahr lang, gestillt –, an das andere Kind gedacht. Es hat sie, da bin ich mir sicher, geschmerzt, dass sie meine Schwester weggeben musste. Sie war arm, hatte kein Zuhause, lebte zu der Zeit in Stettin, weit entfernt von Riga, und ihre adelige Familie durfte nichts von diesem Kind wissen. Für sie war ein uneheliches Kind ein »Bastard«. Das habe ich später selbst gespürt. Dass sie mich als »Bastard« ablehnten. Noch ein Grund mehr, mich als Fremdling, mich fremd zu fühlen!

    Eine innere wie äußere Ausgrenzung.

    Ja. Und dann entzog mir die einzige »Lichtgestalt« ihre Liebe und wünschte mir den Tod …

    Sprechen wir über Alfred Roloff: Was kannst, was möchtest du zu deinem Vater sagen? Welche Erinnerungen hast du an ihn, bevor er aus deinem Leben verschwand?

    Ich wusste, er ist mein Vater, er hatte mich anerkannt, aber er lebte nie mit uns zusammen. Zu der Zeit, nach dem Krieg, ging es vielen Kindern so. Entweder waren die Väter gefallen oder sie waren in Gefangenschaft. Deswegen ist es mir als Kind gar nicht aufgefallen, dass meine Situation eine ungewöhnliche war. Außerdem wurde mir erzählt, meine Eltern wären verheiratet. Einmal im Jahr kam er zu uns nach Bad Godesberg. Ich versuchte dann jedes Mal, seine Aufmerksamkeit und Liebe zu gewinnen. Er war ein zärtlicher Vater, wenn auch vom Alter her eher ein Großvater und deswegen manchmal ungeduldig mit mir. Nach einem Monat verschwand er wieder. Erst nach seinem Tod in den fünfziger Jahren, habe ich gemerkt, dass ich belogen worden war, dass meine Eltern nie verheiratet waren. Noch so eine Lebenslüge.

    Was macht das heute mit dir, wenn wir den Begriff »Vertrauen« bemühen? Kannst du Menschen sofort vertrauen? Das, was du erzählst, ist ja eine Grunderschütterung.

    Die Erschütterung durch meine Mutter kam ja erst spät in meinem Leben. Ganz wichtig sind die ersten vier Lebensjahre. Ich habe zwar kein Vertrauen in die Welt, aber zu meiner Mutter war das Vertrauen absolut. Insofern habe ich wohl auch später Frauen insgesamt vertraut. Zu Männern konnte ich dieses Vertrauen nicht fassen. Sie waren nie da. Hin und wieder der Mann meiner Tante, ein alter Nazi. Auch er stammte aus Riga, und wie viele Balten hatte er sich Hitler verschrieben, weil Hitler die »Bolschewiken« bekämpfte. Dieser Onkel hatte eine Peitsche, mit der er mich ab und zu schlug, wenn die Frauen nicht da waren. Ich habe es meiner Mutter nie gesagt, weil ich nicht wollte, dass sie sich grämt, sie war ja darauf angewiesen, dass sich jemand um ihr Kind kümmerte.

    Es ist die erste Gewalterfahrung durch einen Mann.

    Ja. Er war sicherlich sehr frustriert. Verlust der Heimat, und dann auch noch der verlorene Krieg. Sein Hass auf die Kommunisten. Alle in der Familie waren Antikommunisten, nur meine Mutter meinte, die Revolution habe stattfinden müssen, so wie die Zarenfamilie, die Adligen und Großgrundbesitzer sich den Bauern und Arbeitern gegenüber verhalten hätten. Sie hat unter dem Verlust des geliebten Moskaus

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