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Kafkas Verwandlung: Das Urteil", "Der Heizer", "Die Verwandlung" und weitere Erzählungen in neuem Licht
Kafkas Verwandlung: Das Urteil", "Der Heizer", "Die Verwandlung" und weitere Erzählungen in neuem Licht
Kafkas Verwandlung: Das Urteil", "Der Heizer", "Die Verwandlung" und weitere Erzählungen in neuem Licht
eBook257 Seiten3 Stunden

Kafkas Verwandlung: Das Urteil", "Der Heizer", "Die Verwandlung" und weitere Erzählungen in neuem Licht

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Über dieses E-Book

Ein Schriftsteller dürfe sich eigentlich »niemals vom Schreibtisch entfernen«, »mit den Zähnen« müsse »er sich festhalten«. Dies ist nur eines von vielen extremen Bildern, mit denen Franz Kafka klarmachte, wie eng verwoben Leben und Schreiben für ihn waren. Seit der berühmten September-Nacht, in der er »Das Urteil« schrieb, fühlte sich Kafka verwandelt, er war ein anderer Mensch geworden - jemand, dessen Lebensqualität ab sofort von der literarischen Kreativität abhing.
Die im vorliegenden Buch angewandte Deutungsmethode ähnelt einer analytischen Begleitung: Es wird gleichsam am Text entlanggeschritten, bis die entscheidende Bruchstelle das Werk in eine Schieflage bringt, es zu kippen droht und dem Leser einen neuen Blickwinkel auf das Erzählte ermöglicht. Neben den drei berühmten Geschichten aus dem Jahr 1912 (»Das Urteil«, »Der Heizer« und »Die Verwandlung«) werden auch später entstandene Erzählungen in schärferem Licht als bisher betrachtet - und es wirkt so, als läsen wir diese Texte zum ersten Mal.
SpracheDeutsch
HerausgeberAthena bei wbv
Erscheinungsdatum26. Feb. 2016
ISBN9783898968751
Kafkas Verwandlung: Das Urteil", "Der Heizer", "Die Verwandlung" und weitere Erzählungen in neuem Licht

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    Buchvorschau

    Kafkas Verwandlung - Volker Drüke

    Volker Drüke

    Kafkas Verwandlung

    Das Urteil, Der Heizer, Die Verwandlung

    und weitere Erzählungen in neuem Licht

    ATHENA

    Beiträge zur Kulturwissenschaft

    Band 37

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über abrufbar.

    E-Book-Ausgabe 2016

    Copyright der Printausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag,

    Copyright der E-Book-Ausgabe © 2016 by ATHENA-Verlag,

    Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

    www.athena-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagabbildung: © william87

    Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

    ISBN (Print) 978-3-89896-625-2

    ISBN (ePUB) 978-3-89896-875-1

    Einführung

    Wenn in der Literatur auf traditionelle Weise erzählt wird, geht es um exakt das, was auf dem Deckel des Buchs geschrieben steht. Wenn dort etwa David Copperfield oder Eugénie Grandet zu lesen ist, dreht sich die Handlung in den Büchern um Figuren mit diesem Namen. Das hat eine lange Tradition. Bereits Homers Odyssee folgt dem namensgebenden Odysseus auf dessen Heimreise nach dem Trojanischen Krieg, und Vergils Aeneis ist der römische Gründungsmythos, in dem der Held und Gründer Roms Aeneas heißt. Es gibt also die Regel, dass Autoren ihre Werke leserichtungsweisend benennen.

    Eine andere Konvention besagt, dass der Erzähler den Protagonist am Anfang einführt, Daten nennt, etwa zum Geburtsdatum, zum Geburtsort, zu zeitgeschichtlichen Umständen.

    Dies sind nur zwei der zahlreichen traditionellen Schreib- und Lesarten, die Franz Kafka mit seinen Texten unterläuft und so Rezipienten regelmäßig auf eine »falsche Fährte« führte. So entspricht es dem Lese-Kanon auf der ganzen Welt, dass Die Verwandlung die traurige Transformation des Gregor Samsa meint, dass der Autor also von den Qualen eines immer weiter Ausgestoßenen erzählt, der schließlich zugrundegeht. Dieser war ja gleich im ersten Satz eingeführt worden, und aus seiner Perspektive wird lange erzählt. Er muss der Protagonist sein. Völlig einsichtig ist für die gleichen Literaturbetrachter, dass die Erzählung Der Heizer Machtstrukturen beleuchtet, aus denen der namenlos bleibende Heizer ausbrechen will und mit der Hilfe des Karl Roßmann auch ausbricht. Und klar scheint vielen auch, dass Das Urteil im Sinne des Vaters vollzogen wird, dass Georg Bendemann also ertrinkt – so wie es das väterliche Verdikt vorsah.

    Vielen Literaturbetrachtern reichte es bislang also, in Kafkas Werk soziale Machtphantasien in den Mittelpunkt zu stellen, die im Familienrahmen einen bedeutenden Ausdruck fanden. Andere betonten die in der deutschen Literatur typischen Generationsprobleme am Ende der Kaiserzeit, bei denen die Söhne gegen die Väter aufbegehren – wie in der Wirklichkeit die Bürger gegen die Aristokraten. Die 1970er-Jahre verstärkten diese Tendenz. Die auf allen Kulturzweigen sichtbare Blüte der generationalen Konflikte zeigte sich eben auch auf dem der Literatur-Interpretation. Der wissenschaftliche Standard verließ sich damals auf Untersuchungen zu Befehls- und Gehorsamsstrukturen, auf Darstellungen gesellschaftlicher Macht- und Unterlegenheitskonstellationen – die es in Kafkas Werk ja tatsächlich zuhauf gibt – oder auf tiefenpsychologische Deutungen, die ihrerseits immerhin wichtige Impulse gaben, um interpersonelle Konflikte genauer zu verstehen. Doch auch diese Methode ist alleine ungeeignet, um der komplexen Erzähltechnik des Franz Kafka gerecht zu werden.

    Die folgenden Seiten werden zeigen, dass die allgemein gültigen Interpretationsrichtungen zu früh eingeschlagen wurden. Es werden Denk- und Deutungsalternativen vorgestellt, die nach der Überzeugung des Autors sehr viel stimmiger sind und näher am Werk Kafkas bleiben. Selbstverständlich spielen hier Autoritäten, Vater-Sohn-Konflikte und existenzielle Ängste ihre Rollen. Doch bieten diese Allgemeinplätze der Kafka-Deutungswelt tatsächlich genügend Stoff für ausreichende Textanalysen dieser einzigartigen Erzählungen?

    Literatur ist weit mehr als eine Quelle für wissenschaftliche Studien, soziologische oder psychoanalytische oder gar theologische. Literatur ist die Kunst des Erzählens, und die Kunst des Franz Kafka exakter zu betrachten, als es bislang geschah, ist das Ziel der nächsten Kapitel. Deutlich wird auf dem Weg dorthin, dass jene literatur- oder kulturwissenschaftlichen Mittel, mit denen üblicherweise etwa ein Dickens- oder ein Balzac-Roman analysiert wird, bei der Beschäftigung mit Kafkas Werken schlicht nicht ausreichen.

    Die auf den nächsten Seiten angewandte Deutungsmethode ähnelt einer analytischen Begleitung: Es wird gleichsam am Text entlanggeschritten, bis die entscheidende Bruchstelle das Werk in eine Schieflage bringt, es zu kippen droht und dem Leser einen neuen Blickwinkel ermöglicht, eine andere Perspektive auf das Erzählte. Diese Bruchstellen sind immer in Szenen einer individuellen Wendung zu lesen, einer Weggabelung, eines Umbruchs, eines Schnitts, der in der Regel subtextuell vermittelt wird. Wir lesen dann von dramatischen Ereignissen, die von Franz Kafka häufig wie Theaterszenen gestaltet werden. (Der Theatereinfluss auf Kafka ist immens.) Es sind dies Situationen, die ungeheuer konkret beschrieben und emotional aufgeladen sind. Kafka ist ein Meister in der Darstellung emotionaler Zustände. Wenige Worte für große Gefühle. Häufig reicht das – wenn man die richtigen Worte findet. Und das gelang Kafka.

    Wir werden auch erforschen, worin jene »geheime Verbindung« zwischen den Texten Das Urteil, Der Heizer und Die Verwandlung besteht, die er gegenüber seinem Verleger ansprach und die wohl zu seiner Idee führte, sie in einem Band veröffentlicht zu sehen.

    »Der Heizer«, »die Verwandlung« (die 1½ mal so groß wie der Heizer ist) und das »Urteil« gehören äußerlich und innerlich zusammen, es besteht zwischen ihnen eine offenbare und noch mehr eine geheime Verbindung, auf deren Darstellung durch Zusammenfassung in einem etwa »Die Söhne« betitelten Buch ich nicht verzichten möchte. (Brief an Kurt Wolff, 11. April 1913)

    Dass daraus nichts wurde, ist aus literaturhistorischer Sicht schade und hat Kafka damals sehr getroffen. Das ist umso verständlicher, wenn man sich klarmacht, welch ungeheure Bedeutung das Schreiben für diesen Mann hatte. So fanden Kafkas emotional wohl intensivsten Beziehungen zu anderen Menschen vor allem in Briefen einen Ausdruck, nicht etwa in intimen Momenten. Solche ergaben sich höchstens auf der Basis des Geschriebenen. Dass dies nicht gerade eine verlässliche Grundlage für zwischenmenschliche Beziehungen ist, hat Kafka dann auch erlebt.

    Kafkas Briefe an Freundinnen – insbesondere die an Felice Bauer – sind teilweise so bewegend, dass nicht wenige sie in einen literarischen Rang hieven. Dies widerspricht allerdings Kafkas Selbstverständnis als Autor. Wer weiß, wie er mit Korrekturfahnen umging, wie wichtig ihm jedes Zeichen, jedes Detail war, ist weit davon entfernt, seine Briefe für Literatur zu halten. Zur Literatur werden Kafkas Texte erst dann, wenn sie tatsächlich in Druck gingen oder zumindest noch einmal abgetippt wurden und so eine Korrektur erfuhren. Kafkas Haltung gegenüber jenen eigenen Texten, die veröffentlicht werden sollten, war von einem hohen Präzisionsanspruch geprägt. Hier musste einfach alles stimmen, das galt auch für formale Details, wie ein Ausschnitt aus der Umbruchfahne des Bandes Ein Landarzt belegt (vgl. folgende Seite).

    Weil es sinnvoll ist, zwischen den Textsorten Tagebuch, Brief und literarischer Text zu unterscheiden, betrachten wir in diesem Buch Erzählungen Kafkas, die – bis auf eine Ausnahme – fertig und somit vom Autor zu Kunstwerken erklärt wurden. Bei den anderen muss die entsprechende Deutung selbst Fragment bleiben. (So ist auch die Beleuchtung von Der Jäger Gracchus zu verstehen.) Hinzu kommt der Brief an den Vater aus dem Jahr 1919, ein literarisches Werk, das – als Brief getarnt – ein Selbstbeschreibungs- und Loslösungstext ist. Hier vollzieht sich Kafkas innere Trennung vom Vater, und diese findet auf dem Weg des Schreibens statt – wie alles Wesentliche in seinem Leben. Jedenfalls wurde der Brief an den Vater gleich zweimal geschrieben: handschriftlich und getippt. Abtippen ließ Kafka nur Texte, die auch veröffentlicht werden sollten. Und bezeichnenderweise gibt es zwischen der handgeschriebenen und der getippten Version ein paar Unterschiede – es gab also auch eine Korrekturphase. All dies weist darauf hin, dass dieser Text seinen Autor sehr zufriedenstellte. Und tatsächlich bot er ihn seiner späteren Freundin Milena zur Lektüre an – damit sie ihn, ihren Freund, besser versteht.

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    Setzer und Hersteller hatten es mit Kafka sicher nicht leicht. Wenn man sich dieses kleine Beispiel aus dem Januar 1918 ansieht, lässt sich erahnen, was in der Korrekturphase auf Textseiten noch so zu tun war.

    Franz Kafka schrieb innerhalb von etwa zehn Wochen drei der bedeutendsten Erzählungen in deutscher Sprache. Zwischen Ende September und Anfang Dezember des Jahres 1912 kamen Das Urteil, Der Heizer und Die Verwandlung zu Papier – ein ungeheures Tempo für drei unerhörte Geschichten. Kafka ahnte nicht nur, er wusste, was er hier geschaffen hatte, und erklärte sich danach sofort zum Schriftsteller. Im Frühjahr 1913 schreibt er seiner Freundin Felice wörtlich von seiner eigenen »Verwandlung« – er sei nun »ein anderer Mensch« (Brief an Felice vom 3. auf den 4. März 1913).

    Bis zum Oktober 1914 schreibt er allerdings keine weiteren größeren Werke. Das sind fast zwei Jahre. Dann jedoch erschafft Kafka wiederum erstaunliche Geschichten und teils skurrile Figuren, die wir in diesem Buch in einem neuen Licht betrachten: Ein Landarzt ist dabei, auch Odradek aus Die Sorge des Hausvaters und ein Hungerkünstler, ein Trapezkünstler (der in Erstes Leid) und einige andere. Diese Figuren stehen in einer ganz spezifischen Beziehung zu ihrem Autor. Wir werden sehen, worin diese besteht – und warum sie besteht.

    Auf den nächsten Seiten werden die Textanalysen begleitet von biographischen Notizen und Zitaten aus Kafkas Briefen und Tagebüchern, die bekanntlich sehr ausdrucksstarke Passagen enthalten. Dieses Verfahren bietet sich an bei einem Autor, dessen stärkste Texte immer auch mit dem eigenen Leben verbunden sind. Es ist erstaunlich, wie stark und häufig sich Lebensphasen des Franz Kafka innerhalb seiner Schaffensphasen spiegeln. Selbst die existenziellsten Beziehungen, d. h. Kafkas Liebesbeziehungen, werden weitgehend in Briefen entwickelt, in seinen Texten an die Geliebte. Wir werden im Folgenden deutlich sehen, dass auch seine prägendste Liebesbeziehung innerhalb von Texten scheinbar dicht und fest wurde – und auch, dass diese Eigenschaften der so genannten Realität nicht standhielten.

    Literarische Texte wurzeln im Leben, oder sie wurzeln gar nicht, sagte Peter Rühmkorf einmal, und sein Schriftstellerkollege Urs Widmer verwendete die gleiche Metapher, als er schrieb, dass »jedes Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist« und dieses stets »in etwas Erlebtem wurzelt« (Widmer 2013, S. 7). In Kafkas ab dem Herbst des Jahres 1912 entstandenen Erzählungen ist das beim Lesen quasi spürbar. Hier schreibt jemand von seinem Leben und verfasst doch nichts anderes als große Kunst.

    In diesem Buch ist viel von Verwandlungen die Rede, und Peter von Matt erinnerte einmal daran, dass ein Autor erst zu einem solchen wird – unverkennbar, unverwechselbar in Sprache und Stil –, wenn er auch die Welt um sich herum in ein Kunstwerk verwandelt. »Erst wenn diese Verwandlung sich ereignet, gewinnt die Sprache den Klang, an dem man den Autor vom ersten Satz an erkennt.« (Matt 2003, S. 18) Exakt das ist zwischen September und Dezember 1912 geschehen. Franz Kafka verwandelte seine Umwelt in Kunst und dadurch sich selbst in einen Künstler. Ab sofort hatte er seinen ganz eigenen Stil gefunden, und seine berühmtesten ersten Sätze aus Die Verwandlung oder Der Prozeß kennen noch heute viele im Schlaf.

    Kafka gilt als phänomenaler Schriftsteller, und das zurecht. Auf welche Weise er zu diesem Ruf und lange anvisierten Ziel gelangte, wie Franz Kafka also der Kafka wurde, dessen Texte so viele Menschen auf der Welt kennen, werden wir im Folgenden sehen. Die drei Erzählungen aus dem Jahr 1912 sind gewissermaßen Zeugnisse der Transformation ihres Autors, Textzeugnisse, in denen konsequent das beschrieben wird, was ihr Autor auf dem Weg der Kreativität erfährt: existenzielle Verwandlungs- und Übergangsprozesse, an deren Ende eine Art neuer Mensch steht, ein Mensch, der – an Autonomie gewonnen – ab sofort seinen ganz eigenen Weg geht. Ob dieser der richtige ist, bleibt in diesen Erzählungen, die die Grundlage aller weiteren sind, jeweils offen.

    In der Wirklichkeit gab es für Franz Kafka kein Zurück mehr. Ab dem Herbst 1912 zählte nur noch der Weg des Schreibens.

    Wien, Paris, Prag 1913

    Als Kafka seine bedeutendsten Erzählungen veröffentlichte, tobten die Musiksäle in Wien und Paris. Was Arnold Schönberg und Igor Strawinsky dort aufführten, hatte die Welt noch nicht gesehen und vor allem: noch nicht gehört. Eine Musikrevolution war im Gange, und die wenigsten waren sich dessen bewusst.

    Schönberg hatte neben einem Zemlinsky-Stück ein eigenes Werk (die »Kammersinfonie Nr. 1, op. 9«) sowie Stücke von Webern und Berg aufgeführt. Dessen Musik und auch die Texte von Peter Altenberg, die mit Bergs Musik verschmolzen, sorgten für einen nie dagewesenen Skandal. Die Kompositionen provozierten das Publikum, das bald zischt und lacht und mit den Schlüsseln klappert. Dann springt »Webern auf und schreit, die ganze Bagage solle nach Hause gehen, worauf die Bagage schreit, wer solche Musik möge, gehöre nach Steinhof« (Illies 2012, S. 96). So heißt die Psychiatrische Anstalt, in der der Dichter Peter Altenberg lebt. Die Lage ist für das Publikum also klar: »Verrückte Musik zu den Texten eines Verrückten.« (ebd.) Schönberg, der Dirigent, wird zum Duell gefordert und vom Operetten-Komponisten Oscar Straus geohrfeigt. Gewalt im Musiksaal, die Szenerie bei diesem so genannten Watschenkonzert muss absurd gewirkt haben.

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    Watschenkonzert-Karikatur in »Die Zeit« (6. April 1913)

    Der Wiener Skandal ereignete sich am 31. März 1913. Zwei Monate später führt Igor Strawinsky sein Werk »Le Sacre du Printemps« in Paris auf. Und hier kommt es zu einem Konzertgeschehen, das jenes in Wien noch übertraf.

    Nach dem Erfolg des »Feuervogel« hatte Strawinsky den Auftrag erhalten, eine Ballettmusik zu komponieren. Nun gilt das Ballett nicht gerade als Kunstform für »anspruchsvolle Komponisten, trotz Tschaikowsky« (Hagedorn 2013, S. 2), doch tatsächlich setzte erst die »Aufforderung zum Tanz« Strawinskys großes Talent frei. In Rekordzeit arbeitete er an dem Werk, dem eine einfache Grundidee zugrunde lag, die ihrerseits aus heidnischen Ritualen stammte: Weise alte Männer sollten in einem Kreis sitzen und dem Todestanz eines jungen Mädchens, das geopfert wird, zuschauen. Und so geschah es auch auf der Pariser Bühne:

    Als das Frühlingsopfer beginnt, lacht man schon, ehe – nach 75 Takten Einleitung – der Vorhang hochgeht und sich vor stilisierter Berglandschaft Tänzer zeigen, die in folkloristischen Kostümen jede dekorative Eleganz verweigern, dafür aber jeden Ton zu Bewegung machen. (Ebd.)

    Die Unruhe im Publikum steigt. Es sollen mitten im Saal Duellforderungen ausgesprochen worden sein. Später las man, dass der Tumult seinen Höhepunkt fand, als im Kunststück der finale Todestanz stattfand – andere wiederum berichteten, dass es nur in diesem Teil ruhig war. Viele Details sind also unklar, sicher ist aber, dass dies ein absoluter Skandal war – ein Skandal, der für den Komponisten Strawinsky und den Dramaturgen Djagilew alles andere als überraschend kam: Denn er war geplant oder zumindest einkalkuliert. Ein typisches Merkmal jener Kunstjahre. Und das Kalkül ging auf:

    Der Tumult wurde so groß, dass es nach ganz kurzer Zeit nicht mehr möglich war, auch nur eine Sechzehntelnote zu erfassen, und das Handgemenge, das zwischen den Vertretern des Für und Wider entstand, verwandelte das Theater der Champs Elysées, das seine erste Saison erlebte, im Nu in den Ring eines Sportpalastes. Strawinsky brauchte seinen Rivalen Schönberg durchaus nicht mehr zu beneiden: der Pariser Skandal war das würdige Gegenstück zu dem Wiener (…) und glich auch dem Zetergeschrei, das im Bereich der bildenden Kunst Picasso vor sechs Jahren mit seinen »Demoiselles d’Avignon« geerntet hatte. (Siohan 1960, S. 51)

    Schönberg, Berg, Strawinsky, Picasso – überall provozierten Künstler Skandale. Musiker arbeiten atonal oder polytonal, kubistische Maler verlassen den perspektivischen Standpunkt, andere (wie Macke und Kandinsky) gründen Künstlergemeinschaften. Berühmt geworden ist die Gruppe »Der Blaue Reiter«, die ab 1912 ein Jahrbuch herausgab und in der bald auch Alban Berg und Arnold Schönberg mitarbeiteten.

    Die Kulturszenen Europas arbeiteten in revolutionärem Geist und an vielen Orten interdisziplinär.

    Die 10er-Jahre des 20. Jahrhunderts sind eine tatsächlich außergewöhnliche Zeit, die auf vielen künstlerischen Gebieten von Sprüngen in völlig neue Ausdrucksweisen geprägt ist. Und immerhin eines der skandalösen musikalischen Werke Weberns, Bergs und Strawinskys wurde ein Riesenerfolg: »Le Sacre du Printemps« von Igor Strawinsky (das heute meist nur noch in einer konzertanten Version gespielt wird).

    Doch in diesen Jahren wurde nicht nur die Musikwelt, es wurde die gesamte Kunstwelt revolutioniert: So zeigte etwa Marcel Duchamp 1913 sein erstes Ready made (die »Fahrradfelge«), und auch die ersten Filmproduktionsfirmen entstanden (Babelsberg, Paramount). Hinzu kam, dass die europäische Kolonialherrschaft das Interesse an der Kunst indigener Völker weckte und auch Sigmund Freud über »Wilde«, wie sie damals hießen, forschte und in seinen Texten deren Ähnlichkeit zu Stadtneurotikern herausarbeitete.

    So sah es damals aus in Europa: Auf der einen Seite ein ungeheuer aufgeschlossenes, ja nach Neuem gleichsam lechzendes Publikum – auf der anderen eine konservative Fraktion, die man im Rückblick nicht unterschätzen darf. Und die Kunstrevolution fand in den Zentren statt, und zwar nur hier. In Paris wirkten neben Strawinsky u. a. Picasso, Matisse, Renoir, bald Proust, in Wien insbesondere Kokoschka, Klimt und Schiele. In so einer Stadt wie Prag war man weit entfernt vom revolutionären Geschehen, und doch spürte auch Franz Kafka, dass die Städte kulturell wie aufgeheizt und überdreht wirkten, dass viele Menschen in eine Art Ekstase gerieten, wenn die neuartigen Werke die Bühnen der Kunstwelt zum Zittern und Schwanken brachten.

    »Ekstase« – ein wichtiges, populäres Wort in diesen Jahren. Wie auch »Fieber« oder »Traumwelten«. Überall in den Zentren Europas fanden Kunstrevolutionen statt, die das Publikum in Ekstase, in eine

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