Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Verzückung
Verzückung
Verzückung
eBook224 Seiten3 Stunden

Verzückung

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im Gebirge, unterhalb des Quecksilbersees, leben Ivlita und der spätere Post- und Bankräuber Lavrenti in einem einsamen "Dörfchen mit dem unaussprechlichen Namen", bevölkert mit Kropfigen und Blöden, die absonderliche Lieder singen. Ivlita bewegt sich in Gedanken frei in der Zeit, die sie weit über die Berge hinaus ins Land der Flügel bringt, sie versteht die Natur, ist selbst ein "übernatürliches Ereignis". Ihre große Liebe, der junge, christusgleiche Lavrenti, aber gehorcht den Gesetzen des Raumes und desertiert auf schwindelerregenden Talfahrten im wilden Zickzackkurs trotz seiner Gefühle zu Ivlita aus Freiheitsliebe und Abenteuerlust in die Ebene. Lavrenti beginnt Reichtümer anzuhäufen und verliert dabei seine Freiheit und Reinheit – und mit seinem eigenen Niedergang beginnt die Zerstörung der Liebe. Dieser in der wilden Bergwelt Georgiens angesiedelte anspielungsreiche und unsentimentale Liebesroman ist unvergleichlich sprachmächtig, lust- und kunstvoll; kongenial übersetzt von Regine Kühn.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Sept. 2018
ISBN9783957576699
Verzückung

Ähnlich wie Verzückung

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Verzückung

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Verzückung - Iliazd

    Denis

    1

    Der Schnee wuchs schnell an, ließ die Glockenblumen verschwinden, dann die Steine, schon trat Bruder Mokij auf Weiß statt auf Moos und Farben. Anfangs war es nicht kalt, die Flocken setzten sich auf die Wangen, versanken im Bart, glitten erfrischend ab. Die mit Felsen besteckten Flanken des Tals begannen sich in der rebellierenden Luft in Spitze zu kleiden, später verschwanden sie gänzlich, die stiebenden Flocken erzitterten nun, tanzten, wirbelten, peitschten Bruder Mokijs Gesicht, verklebten, reizten die Augen. Der Pfad, den Blicken verborgen, entfloh oft den nackten Füßen, der Wanderer stürzte dann und wann in die Spalten zwischen den Rollsteinen. Manchmal blieb ein Fuß stecken und Bruder Mokij fiel, wälzte sich, die Mönchsketten schepperten, mühsam kam er, wenn er genug Eis gefressen hatte, wieder hoch

    Schließlich dröhnten die Posaunen. Die Winde rissen sich von den umliegenden Bergketten los, tauchten ins Tal ein und bekämpften sich erbittert, nur wusste man nicht, weshalb. Von rechts schickten die Leibhaftigen, den Zwist nutzend, widerliches Heulen, im Rücken klang es wie Geigen oder wie die mühsam das Unwetter durchdringende Klage eines gequälten kleinen Kindes. Zu diesen Stimmen gesellten sich meist mit nichts vergleichbare Stimmen, manchmal versuchten sie wie Menschenstimmen zu klingen, aber so unbeholfen, dass klar war, es ist Einbildung. Auf den Gipfeln begannen sie ein launisches Spiel, stießen die Schneemassen hinunter

    Doch Bruder Mokij fürchtete sich nicht und dachte nicht an Umkehr. Von Zeit zu Zeit bekreuzigte er sich, spuckte aus, wischte sich mit dem Ärmelaufschlag das Gesicht, folgte dem gewohnten, nicht besonders schwierigen Weg durch den Talgrund. Allerdings war der heutige Gang von all den Gängen, die er über diesen und auch über benachbarte, weniger zugängliche Pässe gemacht hatte, der unangenehmste. Noch nie hatte der Pilger solch Rasen beobachtet, vor allem nicht zu dieser Jahreszeit. Im August ein solcher Tanz. Dabei hatte dieser Weg gar keinen besonderen Grund, die Berge hatten keinen Anlass zur Aufregung. Wenn das Schicksal ihn jedoch verschont und es ihnen nicht gelingt, ihn jetzt sofort mit einer Lawine zu überrollen, wird er in ein, zwei Stunden außer Gefahr sein

    Die Mulden, durch die sich der Wanderer, bei jedem Schritt bis zu den Knien im Schnee versinkend, bewegte, mündeten in einen steilen Anstieg, der vor dem Pass zum Südhang lag. Drei Stunden nach Beginn des Schneesturms hatte Bruder Mokij diesen Hang erreicht. Erklimmen konnte man ihn höchstens auf allen vieren. Die Arme versanken tiefer als die Füße, der Schnee war so locker, dass der Stock, der ihm entglitten war, spurlos verschwand; manchmal kam unter dem Mönch alles in Bewegung, dann zog er den Kopf ein und versuchte den Bergsturz aufzuhalten. Was ringsum geschah, sah Bruder Mokij schon nicht mehr. Doch spürte er: Es übersteigt seine Kräfte. Er wurde leichter, klarer, wuchs, schwebte. Hörte das Tosen der Schluchten nicht, horchte nicht auf ihre Possen. Nur Durst breitete sich in seinem Körper aus, umso stärker, je länger er Eis nagte, bis der Schnee sich erst rosa färbte, dann mit Blut bedeckte. Endlich war der Hang nicht mehr so steil, dann noch weniger: Dort eine Stelle, so eben, dass man keinen Schritt ohne tödliche Müdigkeit tun kann. Bruder Mokij riss die vereisten Wimpern auseinander, erstarrte und fiel lang hin

    Über ihm raste weiter der Sturm. Gespenstische Schatten bewegten sich um ihn herum oder gingen über ihn hinweg, warfen ihn um. Schauen war schwer, aber man musste den riesigen lockigen Tod anschauen, sich um die eigenen Gliedmaßen kümmern, schlimm, vom Tod berührt: sehen, wie die verknoteten Finger anschwellen, starr werden, sich mit Grind und Beulen überziehen, platzen, und aus den Rissen tropft das nicht mehr rote, nicht mehr wahrnehmbare Leben. Doch wieder ist es leicht, kein Schmerz, man kann atmen. Die Zweige streifen noch irgendwie die Schneeflocken von den Lidern, man kann sich bekreuzigen und den grausigen Zauber im Auge haben. Ihm ist immer wärmer vom Schnee, der müde Wanderer darf in solch einer Minute schlafen. Der Sturm singt, verjagt alle anderen Töne, das Totengebet

    Sterbend wollte Bruder Mokij sich noch an etwas erinnern, vielleicht auch an jemanden, aber er hatte keine Zeit, und auch der Zustand der Seele erlaubte nicht, an vergangene und unbedeutende Dinge zu denken. Die Seligkeit des Gletscherschlafs war vermutlich Sünde, aber eine dem Lebenden vergönnte Belohnung und das Tor zum Himmel. Der Begrabene erwartete das Öffnen der Pforte und das himmlische Licht, das sich ergießen sollte. Unerschöpflich sind Weisheit und Fülle der Wohltaten dessen, der ihm diesen wunderbaren Tod schickt

    Doch Bruder Mokij schlief und schlief doch nicht, die Ordnung der Dinge wollte, dass sein Geist sich wiederbelebte und zu arbeiten begann. Eine Reihe Kleinigkeiten, es wurden mehr und mehr, zwang dazu, ihnen Bedeutung beizumessen und sie dann dem Niederen zuzuordnen. Weshalb das so war, wusste der Zugewehte nicht, doch er kam zu dem Schluss, seine Seele hätte sich also noch nicht vom Körper gelöst, der Tod hätte sie noch nicht genommen. Man musste noch warten, und allmählich kam ihm der Gedanke, das Warten sei quälend, man müsse die Ereignisse beschleunigen. Klar war schon, der Tod hatte Bruder Mokij genommen, doch wieder fallen lassen, zufällig oder auf Anordnung von oben, er war also wieder frei, oder anders, in irdischer Existenz, denn im Jenseits gibt es keine Persönlichkeit, also auch keine Freiheit, du löst dich im Absoluten und Notwendigen auf

    Als er das überprüft und sich überzeugt hatte, alles verhalte sich genau so, kehrte der Wanderer zur Bewegung zurück. Er hatte versucht die Arme zu bewegen, das gelang erst nicht, dann fand der rechte einen Ausweg und jene Kruste, die sich aus dem von der Körperwärme getauten Schnee gebildet hatte. Die Kruste erwies sich als nicht sehr fest, mithilfe des anderen Arms begann Bruder Mokij das Gewölbe zu durchbrechen und einen Weg durch die dicke Schicht zu bahnen, das ging noch leichter, da der Schnee trocken und pulvrig und offenbar nur in geringer Menge angeweht worden war

    Bruder Mokij mühte sich, spannte sich, bis er furzte und selbstzufrieden kicherte. Plötzlich sackte die Wölbung weg; man konnte sich ohne Schwierigkeiten aufrichten, abklopfen und umschauen. So ist es

    Bruder Mokij stand aufgerichtet am Ausgangspunkt des Gletschers, der direkt auf dem Sattel des Bergkamms lag und nach beiden Seiten abfloss. An den morgendlichen Sturm erinnerten ein paar Wolken, Nebelschwaden und die Schneefransen an den Steilwänden. Es war nach allen Seiten offen, ergötze dich an der hochgebirgigen Umgebung, setze deinen Weg ungehindert fort! Doch dem Mönch entrissen sich weder Lobpreisung noch Dankbarkeit. Er kicherte noch dreckiger, als wäre er zufrieden, jemanden hinters Licht geführt zu haben. In seinem eben noch so entschlossenen, in der Todesminute leuchtenden Blick blitzte Angst auf, Unsicherheit, das Bewusstsein der eigenen Unreinheit. Hatte der Tod ihn verschmäht, weil er gesehen hatte, mit wem er es zu tun hat? Der Mönch eilte los, übers Eis zum höchsten Punkt des Kamms, es war überhaupt nicht mehr weit

    Linker Hand, nur ein paar Schritte von der Stelle entfernt, wo Bruder Mokij eben gelegen hatte, riss der Gletscher ab und fiel in einen kleinen See, der die Senke unter dem Pass füllte. Obwohl auf dem übertrieben lilafarbenen Wasser Pfannkucheneis und Schollen schwammen, badete darin seelenruhig ein Schwarm Bergschmetterlinge, über der Oberfläche auffliegend oder eintauchend. Dabei war das Wasser so durchsichtig, dass man die Steine sehen konnte, und als die Flügel über den Grund wanderten, wurden die kleinsten Fühlerchen unterscheidbar

    Den See umstellten böse, zerklüftete Gipfel, doch heute bewegten sie sich nicht und drohten nicht. Bruder Mokij hatte keine Lust, ihre finsteren Klippen zu betrachten, weshalb er zu einem Tal abbog, das rechts von dem eben durchquerten lag, von Festen umgeben, die entfernter lagen, sich über den Hauptkamm erhoben und deshalb ungefährlicher waren. Besonders schön ist die in den Himmel geschlagene Säule dort. Man erzählt sich, ein Jahrtausend zurück sei ein Bandit bis ganz oben hinaufgestiegen, konnte aber nicht mehr herunter. Seitdem schreit er dort, wenn es kalt ist, und fleht, man solle ihn herunterholen. Sicher sitzt er auf der abgewandten Seite, denn Bruder Mokij sah den Schreihals auch dieses Mal nicht

    Eine Auerochsenherde überquerte den Gletscher talwärts. Erst liefen die Tiere langsam, jedes für sich, doch der Gottesnarr hatte die Kälber verschreckt, und die Huftiere stürzten den Steilhang hinunter, von einem Vorsprung zum nächsten und dann plötzlich ganz nach unten, zur Veterinärstation, die kaum zu sehen war und wo Bruder Mokij die taunasse Nacht verbracht hatte, die noch nichts von den morgendlichen Katastrophen verraten hatte

    Für gewöhnlich gab es im Gletscher nur wenige Spalten, man musste sich, der verdeckten wegen, nicht besonders vorsehen. Jetzt kamen die Wände näher, ein Korridor. Hier muss man auf der Hut sein, sie können einstürzen, der Mönch trat möglichst sachte auf und hütete sich zu reden. Ständig hüpften Steine, auch dieses Mal flogen ein paar vorbei und verschwanden. Ein Eiszapfenkamm riss ab, aber ohne viel Lärm. Dort ein Eishaufen mit hineingesteckter Wegmarke. Der Pass!

    Wie oft während seines langen Mönchdaseins war Bruder Mokij hier vorbeigekommen, jedes Jahr hatte er sich auf den Weg gemacht, das Nachbarkloster südlich der Bergkette zu besuchen. Die Jahre hatten das Gespür für geistige Dinge geschärft, irdischer Schönheit gegenüber nicht gleichgültig gemacht, deshalb konnte der Mönch auch jetzt diese riesige, sich nun vor ihm auftuende wunderschöne Senke nicht ohne neugierige Begeisterung betrachten, er wird sie zwölf Stunden lang durchschreiten müssen, ehe er bei den ersten Katen anlangt

    Da der Südhang bedeutend ärmer an Gletschern ist als der Nordhang, brauchte der Fußgänger keine halbe Stunde, um die bescheidene, mit Eis und Schnee vollgestopfte Sohle hinter sich zu lassen und eine steinige kleine Wiese zu erreichen. Jetzt kann man sich ein bisschen hinlegen, die Mönchsketten ablegen, sich hätscheln, an den Fingernägeln knabbern und am Fläschchen nuckeln. Die Kutte ist verdreckt (woher kommt der Dreck?) und in Fetzen, die Ellenbogen sind blutig, die Füße hoffnungslos erfroren, die Augen brennen und der Mund ist voll Ekelzeug. Nicht nur der Stock, der treue Gefährte, auch die Mütze ist verloren. Wie nur ist der Wodka heil geblieben? Hinter einem Stein zeigte sich jemand, lachte laut und warf einen Stein nach dem blöden Gottesnarren

    In diesen Gegenden jedoch sind die Berggeister nicht mehr gefährlich, man kann seine Wunden mit Erde bestreuen, sich in Ruhe ausstrecken und mit dem Betrachten der Wunder befassen, allerdings nicht lange, da auch die Sonne den Pass überschritten hat. Dort ist ein erstklassiger Gletscher, blau von darin wimmelnden Würmern. Man möchte ein paar davon herausklauben: Der Vater Abt klagt über Verstopfung und er sagt, es gäbe kein besseres Mittel dagegen als die Köpfchen dieser Würmer, in seinem Glas aber sind nur noch ein paar wenige. Und da ist die Höhle, wo der Bocksmann lebt. Letztes Mal hat er von Weitem gesehen, wie er das Gewehr eines Jägers fraß, der Pech gehabt hatte. Gut, dass der Wildbach schon stark ist, da springt niemand drüber, sonst könnte man hier einiges auszustehen haben

    Bruder Mokij genoss das Schauspiel der ins Hammelgehörn geflochtenen und zum Himmel aufgetürmten Eismassen; der zahlreichen Flügelschwärme, die hoch, hoch schwebten, sonnenhoch; der Quellen, die zischend unter den Felsen hervorkamen und nach oben sprudelten. Wolken, angefüllt mit Tieren, die sich nicht entschließen konnten, ihre Hässlichkeit zu zeigen, hatten es sich auf den Felsen bequem gemacht, um sich zu sonnen. Die allerhöchsten Gipfel, die – ungeachtet des Geschwätzes über die Engländer – nie ein Fuß betrat und nicht betreten wird, Gipfel, die eigentlich weit voneinander entfernt sind, sodass man vom Fuße des einen bis zu dem des anderen wochenlang ausschreiten muss, lagen hier beieinander und so nah, dass es keine fünf Stunden bräuchte, um zum fernsten und majestätischsten von ihnen zu gelangen. Riesige Mengen von Gletschereisschollen, die sich von den Höhen losgerissen hatten, hingen in der Luft, spielten mit Diamanten und wurden von einer geheimen Kraft gestützt, einfach so, im Überschwang der Wunder, und den Spalten entschlüpfte unerklärliches Singen. Bruder Mokij erhob sich und begann zu heulen

    Sogleich flatterten, wer weiß woher, kleinwüchsige Engel herbei, ihnen folgten Segler, und sie schickten sich an, über Bruder Mokij Muster in die Luft zu malen, ihm die zweite Stimme zu singen. Die Adler breiteten im Wind die weißen Bärte aus, sanken mit Adlergeschrei. Schwärme wütender Bienen jagten heran, fügsam, und summten; verschiedene Schmetterlinge flatterten herum, Giftnattern krochen aus den Ecken und zischelten, Hyänen sprangen aufschluchzend und heulend hervor. Bellen, Piepsen, Heulen, Wispern. Alles schrie Ach und Weh. Sogar die unbedeutenden Enziane und der Steinbrech, gewöhnlich stumm, wie es sich für Gewächse gehört, halfen mit kaum hörbarem Winseln, ganz zu schweigen von den schmächtigen Eidechsen, die mit ihren kleinen Eidechslein herbeigeeilt waren

    Die Stimme des Mönchs wurde kräftiger. Hunderte andere übertönend, heulte Bruder Mokij, er heulte so kräftig, dass er selbst nicht wusste, ist es sein Geheul oder ist es das des Wasserfalls, der im unteren Teil der Schlucht, der scheinbar vorläufig noch fernen, brauste. Von den Flügeln begleitet, ging der Sänger auf kaum sichtbarem Pfad, er verließ das Eis um der Weiden willen. Hier spazierten Ziegen und Gämsen unter der Aufsicht von Geistern herum, es waren dichtbefiederte Geister mit unvollkommen ausgebildeten Beinchen, sie befehdeten sich, aber nicht bösartig, sondern zum Spaß, sie klebten mit den Stirnen aneinander und konnten lange nicht loskommen. Sie waren ohne Sünde, schauten stundenlang in die Sonne, ohne die Augen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1