Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Lesereise New York: Stories aus einer Stadt im Umbruch
Lesereise New York: Stories aus einer Stadt im Umbruch
Lesereise New York: Stories aus einer Stadt im Umbruch
eBook130 Seiten1 Stunde

Lesereise New York: Stories aus einer Stadt im Umbruch

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

New York erfindet sich immer wieder neu: Nach dem Anschlag von 9/11 ist dies zuletzt geglückt und New York ist als glitzernde Sehnsuchtsmetropole wiederauferstanden. Die Krisen der Pandemie und der BLM-Bewegung zwingen die Stadt ein weiteres Mal, sich infrage zu stellen und sich für einen Weg zu entscheiden. Sebastian Moll, seit vielen Jahren Wahl-New-Yorker, erlebt die Stadt durch die Augen ihrer Bewohner: Er besucht einen Broadway-Star in Washington Heights, Straßenkünstler in Harlem, begibt sich nach Chinatown und Staten Island zu Nachkommen von irischen und italienischen Immigranten und zu den Schwimmern von Brighton Beach. Er beobachtet die florierende Technologie-Branche in der Stadt, besucht Ground Zero zum zwanzigjährigen Gedenktag und beschreibt den Kampf um eine grüne Verkehrswende.
SpracheDeutsch
HerausgeberPicus Verlag
Erscheinungsdatum23. Juni 2022
ISBN9783711754776
Lesereise New York: Stories aus einer Stadt im Umbruch

Ähnlich wie Lesereise New York

Ähnliche E-Books

Reisen – Vereinigte Staaten für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Lesereise New York

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Lesereise New York - Sebastian Moll

    Stadt am Scheideweg

    Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft

    Bei einem jener wöchentlichen Spaziergänge durch Manhattan, die mir zur Gewohnheit geworden waren, seit das Coronavirus im Frühling 2020 New York in den Ausnahmezustand versetzte, fand ich mich ganz im Westen der Insel wieder, dort, wo der sechsspurige Westside Highway die Stadt vom Wasser abtrennt und wo in normalen Zeiten Kreuzfahrtschiffe an den letzten funktionierenden Piers im Hudson anlegen. Es muss Sommer gewesen sein, ich erinnere mich an jene drückende Schwüle, die zwischen Juli und September oft über der Stadt hängt und die einem manchmal das Atmen schwer macht.

    Zwischen der 10th Avenue und dem Fluss ist hier in den vergangenen Jahren eine neue Stadt innerhalb der Stadt entstanden. Aus dem alten U-Bahn-Depot zwischen der 30th und der 34th Street ist ein Ensemble an funkelnden neuen Wolkenkratzern gewachsen, das vom Fluss her wirkt wie eine Art Fata Morgana. Herausgelöst aus der Midtown Skyline scheint der Distrikt, der frech den Blick auf das alte Empire State Building verstellt, irgendwo zwischen Land und Wasser zu schweben.

    Dankbar für die Vollklimatisierung schlüpfte ich an der Ecke der 33rd Street und der 10th in die Nummer 20 Hudson Yards, die Shoppingmall, die den Passanten in den funkelnden neuen Wohn- und Geschäftsbezirk hineinziehen soll. Über eine Rolltreppe gelangte ich in das drei Stockwerke hohe Atrium der Geschäftspassage, wo ein livrierter Portier mich übertrieben herzlich begrüßte. Die Herzlichkeit des Personals setzte sich beim Flanieren durch die Shops fort. Gleich ob bei Dior, Chanel oder Sephora, ich wurde von den modisch gekleideten Verkäufern umgarnt, als wäre ich die Gattin eines russischen Ölmilliardärs. Der unterbeschäftigte Barista des Espresso-Standes wollte mir gar einen ausgeben. Dabei konnte man sich von mir in meinem verschwitzten T-Shirt nicht ernsthaft einen nennenswerten Verkaufserlös versprechen.

    Der Grund für die übertriebene Herzlichkeit war wohl eher Langeweile. Die Hudson Yards, wie der neue Bezirk in Anspielung auf die darunter liegenden railyards – also die dort zur Wartung geparkten U-Bahn-Waggons – genannt wird, sind eine Geisterstadt. Für Passanten wie mich sind die Edelboutiquen nicht eben einladend, sie sind abgelegen und der Zugang muss gesucht werden. Sie sind vielmehr für die Bewohner der Yards gedacht, die nach der Fertigstellung des Prestigeprojekts 2019 hier einziehen sollten. Doch sie blieben aus. Die Mietpreise von fünftausendzweihundert Dollar für eine Zweizimmerwohnung und die Kaufpreise von zweiunddreißig Millionen für ein Penthouse gingen schon 2019 am Markt vorbei. Mit dem Beginn der Pandemie wurden sie utopisch.

    So fegt über die zumeist leere Plaza im Zentrum der Yards ein Wind, der sich selbst im Sommer eisig anfühlt. Papierverpackungen wehen quer über die Betonfläche, die allen Lippenbekenntnissen der Planer zum Trotz alles andere als wirtlich ist. Kaum ein New Yorker verirrt sich hierher, um die Wunderwerke der zeitgenössischen Architektur von Stars der Branche wie Frank Gehry, Herzog & de Meuron, Santiago Calatrava oder Robert A. M. Stern zu bewundern. Noch weniger Menschen sind geneigt, das Gebilde zu erklimmen, das in der Mitte der Plaza sechsundvierzig Meter hoch in den Himmel ragt. Die begehbare »Skulptur«, wechselweise das »Schwarma«, »Treppe ins Nichts« oder »Papierkorb« genannt, ist zum traurigen Symbol des Scheiterns der Anlage geworden. Alleine im Jahr 2020 stürzten sich drei Menschen von dem Kunstwerk aus in den Tod.

    Ein paar Blocks weiter im Osten von Manhattan, am Times Square, jener Kreuzung, die als das Herz New Yorks bezeichnet wird, tobt zu Beginn des Jahres drei der Pandemie hingegen das Leben. Gruppen von schwarzen Jugendlichen stehen um hüfthohe Lautsprecher herum versammelt und zeigen sich gegenseitig ihre neuesten Breakdance Moves. In den Zonen, die die Stadt für Schausteller markiert hat, tummeln sich nicht mehr die Goofys, Elmos und Batmans, mit denen sich vor Covid die Touristen ablichten ließen, sondern ein exzentrischer Mix aus Charakteren. Da ist etwa Silk, eine wirklich angsteinflößende Erscheinung. Der schwarze Mann ist eins neunzig groß und zeigt auch im Winter seinen Oberkörper, der muskelbepackt ist wie der von Mike Tyson zu seinen besten Zeiten. Darüber trägt er eine Jokermaske sowie dicke Ketten um den Hals und um die Hüfte.

    Oder die Naked Cowgirl, die ebenfalls seit Covid zum Inventar des Platzes geworden ist. Sie ist eine Art lebende Parodie auf die Times-Square-Institution Naked Cowboy, der seit vielen Jahren in der Unterhose hier Gitarre spielt und sich gegen Trinkgeld mit Touristinnen ablichten lässt, die dann auch gerne einmal ihre Hand über seine gestählte Brust oder seinen Hintern gleiten lassen. Die Cowgirl, die hier ebenfalls im Slip auftritt, geht hingegen auf die achtzig zu und stellt stolz ihren alternden Körper zur Schau.

    Die Touristen, die bis zum Frühjahr des Jahres 2020 den Platz dominiert haben, sind derweil noch lange nicht wieder in voller Stärke zurück. Auch im Jahr 2021 kamen gerade weniger als ein Viertel so viele Besucher nach New York wie 2019. Und diejenigen, die an den Times Square kommen, schleichen etwas verängstigt und verstört um den Rand des Platzes, anstatt wie vorher wie selbstverständlich das Herz New Yorks für sich zu beanspruchen und die New Yorker, die sich hier täglich durch die Massen kämpfen mussten, in den Wahnsinn zu treiben.

    Die Büroarbeiter von Midtown sind freilich auch nur zögerlich zurückgekehrt. Die großen Firmen machen wenige Anstalten, ihre Angestellten wieder in die teuren Büros in den Wolkenkratzern des zentralen Geschäftsbezirks von New York zu zwingen. Schließlich hat es während Covid auch ganz gut funktioniert und vielleicht kann man sich ja in Zukunft die teure Miete am begehrtesten Business-Standort der Welt sparen.

    Kurzum, die Energie ist in Manhattan eine gänzlich andere geworden. Das hastende, hetzende Gewimmel von Midtown, angetrieben von der grenzenlosen Ambition der Stadt, ist etwas Wilderem, Anarchischerem gewichen. Der Blogger Jeremiah Moss, von dem später noch mehr die Rede sein wird und der sich als Flaneur in der von Covid zutiefst erschütterten Stadt einen Namen gemacht hat, hat das New York der 2020er Jahre als feral bezeichnet, als ungezähmt. Moss wollte die Rückkehr von etwas beobachtet haben, was seit mehr als vierzig Jahren aus dem Stadtbild verschwunden war, eine »aggressive sexuelle Energie«, die in New York unterdrückt war, seit man Ende der siebziger Jahre begonnen hatte, die Stadt aufzuräumen und stubenrein zu machen.

    So fühlte sich Moss, der im Hauptberuf als Psychotherapeut arbeitet, in den Jahren 20/21 wie magisch zum Times Square hingezogen, einem Ort, den New Yorker mieden wie die Pest, als die Touristen ihn noch beherrschten. Die Wiederaneignung des Platzes durch schwarze Kids aus der Bronx und weirdos aller Art war Balsam auf seine Seele, die sich von der aufgeräumten, funkelnden Luxusstadt der vergangenen Jahre geschunden und ausgedürstet fühlte.

    Ebenso fühlte er sich zu den wilden Partys hingezogen, die während der Pandemie im Washington Square Park begannen und die sich selbst unter dem Druck der Anwohner und der Polizei weigerten, wieder zu verschwinden. Junge Menschen aus der ganzen Stadt kommen hier Nacht für Nacht zusammen, seit die Clubs und Bars schlossen, um Musik zu hören und Spaß zu haben, auch zu trinken und Drogen zu nehmen, aber eben auch, um sich politisch zu organisieren. Die Proteste, die nach der Ermordung von George Floyd im Sommer 2020 die Stadt überzogen, gingen fast sämtlich von hier aus. Und an dem Tag, an dem Donald Trump aus dem Amt gewählt wurde, fand hier die größte, ekstatischste Party der gesamten usa statt.

    Zu jener Zeit, am Ende des brutalen Jahres 2020, war die Stadt noch nicht in der Lage, über ihre Zukunft nachzudenken. Man stand noch immer unter dem Schock von einem traumatischen Ereignis nach dem anderen. Die New Yorker hatten noch immer die Sirenen in den Ohren, die im Mai jenes Jahres beinahe rund um die Uhr gespenstisch durch die leeren Straßen heulten, um Covid-Patienten auf die restlos überfüllten Intensivstationen zu bringen. Man erinnerte sich noch frisch an die Leichencontainer vor den Krankenhäusern, die herangeschafft werden mussten, weil die Bestatter nicht nachkamen.

    Man erinnerte sich aber auch noch an die Wut, die sich in den Straßen entlud, nachdem in Minneapolis George Floyd von einem Polizisten vor laufenden Handykameras ermordet wurde. New York hat seine eigene Geschichte der exzessiven Polizeigewalt und George Floyd war für die afroamerikanische Minderheit nicht einen halben Kontinent entfernt, sondern ganz nahe.

    Es war aber nicht nur die Wut über die Polizei, die sich hier in tagelangen Ausschreitungen Bahn brach, sondern auch darüber, dass Covid einmal mehr die extreme soziale Ungleichheit der Stadt zutage gefördert hatte. Die Infektions- und die Todeszahlen waren in den armen schwarzen und Latino-Quartieren wie Harlem, der Bronx und Teilen von Brooklyn um ein Vielfaches höher als überall anders. Medizinische Unterversorgung, dicht gedrängte Wohnquartiere und die Not, trotz Covid zur Arbeit gehen zu müssen, ließen die Epidemie durch diese Bevölkerungsschichten brennen wie ein Funke durch trockenes Nadelholz.

    Am eindrücklichsten ist mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben, dass jede

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1