Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro
Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro
Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro
eBook230 Seiten2 Stunden

Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Am 12. September 1919 marschierte der italienische Nationaldichter Gabriele d'Annunzio mit 287 Freischärlern aus Ronchi los, um die Hafenstadt Fiume einzunehmen. Am Abend wurde er zum Comandante der Stadt ernannt, die er 500 Tage hielt.

Schnell strömten aus der ganzen Welt Freiwillige und Aktivisten nach Fiume. Deserteure, Anarchisten, Syndikalisten, Freidenker, Kommunisten, Homosexuelle, Futuristen, Schriftsteller, Musiker, Künstler und Abenteurer. Die "Stadt des Lebens" pulsierte rund um die Uhr. Sie war ein riesiges gesellschaftliches Versuchslabor.

Neben der Regierung in Rom beobachtete noch jemand die Vorgänge in Fiume mit großem
Misstrauen. Benito Mussolini fürchtete, der Dichter werde die Rolle einnehmen, die er sich selbst zugedacht hatte: den Sturz der Regierung. D'Annunzio war weitaus populärer als der spätere Duce. Er war nicht nur der Vate, Italiens Dichterfürst, sondern zudem ein hochdekorierter Kriegsheld.

Der Dritte im Bunde war Filippo Tommaso Marinetti, Gründer und Leuchtfigur des Futurismus. Er war d'Annunzio in Hassliebe verbunden und politisch mit Mussolini verbandelt.

Für alle war Fiume ein zentraler Wendepunkt in ihrem Leben. Für d'Annunzio war es der Zenit seiner politischen Laufbahn, dem ein rascher Abstieg folgte. Für Mussolini war es ein Musterbeispiel für die
Ästhetisierung und Ritualisierung der Politik, die er zu einem wesentlichen Bestandteil des Faschismus und seines persönlichen Aufstiegs machte. Und Marinetti wurde durch die Zurückweisung des Dichters in Fiume näher zu Mussolini getrieben, dem er bis zu seinem
Tod treu blieb.

Diese drei Männer haben das 20. Jahrhundert erfunden: den Faschismus, den Populismus, die moderne Kunst. Jetzt wird es Zeit, erstmals ihre
gemeinsame Geschichte zu erzählen, pünktlich zum 100. Jahrestag der Besetzung von Fiume.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Aug. 2019
ISBN9783749722426
Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro

Ähnlich wie Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ikarus oder Die 500 Tage von Carnaro - Gerd Ruebenstrunk

    Liste der Hauptpersonen

    Alceste de Ambris, Syndikalist und Verfasser der Verfassung von Fiume

    Gabriele d’Annunzio, italienischer Nationaldichter und Kommandant von Fiume

    Luisa Baccara, Pianistin, langjährige Geliebte d‘Annunzios

    Giovanni Comisso, Dichter und treuester Gefolgsmann von Guido Keller

    Eugenio Coselschi, enger Vertrauter d‘Annunzios

    Henry Furst, Theaterassistent, gebürtiger Amerikaner, Co-Außenminister neben Kochnitzky und Toeplitz

    Giovanni Giurati, zeitweiliger Kabinettschef d’Annunzios in Fiume

    Nino Host-Venturi, Hauptmann, Befehlshaber der Fiume-Legion

    Guido Keller, Fliegerass und treuester Freund und Gefolgsmann d’Annunzios

    Leon Kochnitzky, in Belgien geborener Dichter, zeitweiliger Außenminister von Fiume und Begründer der Lega von Fiume

    Filippo Tommaso Marinetti, Dichter und Begründer des Futurismus

    Benito Mussolini, Chefredakteur des Il Popolo und Anführer der faschistischen Bewegung

    Francesco Saverio Nitti, italienischer Ministerpräsident

    Vittorio Emanuele Pittaluga, General, Militärgouverneur von Fiume

    Margherita Sarfatti, Muse Mussolinis

    Oscar Sinigaglia, Industrieller und Finanzier der Besetzung Fiumes

    Ludovico Toeplitz de Grand Ry, Filmproduzent, Co-Außenminister neben Kochnitzky und Furst Ferruccio Vecchi, Anführer der Arditi

    Pleased to meet you …

    Immer wieder gibt es kurze historische Momente, in denen Träume, Fantasien, Visionen, Utopien, Begierden und Wünsche wahr werden.

    In Fiume waren es Gaukler und Ganoven, Fantasten und Fetischisten, Anarchisten und Asoziale, Kommunisten und Korsaren, Esoteriker und Elende, Arditi und Abenteurer, Nationalisten und Nudisten, Piloten und Prostituierte, Dichter und Drogensüchtige, Helden und Homosexuelle, Komponisten, Kriminelle, Säufer und Syndikalisten, die es schafften, gemeinsam fünfzehn Monate lang einen eigenen kleinen Staat zu errichten, dessen Gesetze sie selbst festlegten, angeführt von einem kokain- und sexsüchtigen Dichter, der an herkömmlicher Politik keinerlei Interesse hatte.

    Das ist jetzt hundert Jahre her.

    Vergessen sind die Korsaren von Fiume; vergessen das monatelange Fest des Lebens; vergessen die Hoffnungen der Protagonisten und der Mitläufer; vergessen die Liebe und der Mut der Frauen; vergessen, vergessen, vergessen.

    Doch ich erinnere mich. Denn ich war dabei.

    Wer ich bin, möchten Sie wissen?

    Ich bin das Gedächtnis der Zeiten, das schlechte Gewissen der Sieger, die Erinnerung der Geschlagenen. Ich bin der unsichtbare Beobachter, der Einflüsterer in der Nacht, der allgegenwärtige Berichterstatter. Ich bin der Hüter der Träume und der Zerstörer der Illusionen, der Förderer der Wahrheit und der Meister der Lüge.

    Trauen Sie mir also nicht, wenn ich von Fiume berichte.

    Aber trauen Sie auch nicht jenen, die Ihnen Fiume gerne verschweigen möchten. Die das, was damals dort geschah, mit einem Federstrich abtun. Die nicht wollen, dass Sie sich mit dem Traum einer anderen Gesellschaft beschäftigen. Die es verabscheuen, wenn Sie mit den Rebellen von damals und heute lachen, feiern, tanzen und weinen.

    Denn jener Traum kann nie ganz ausgelöscht werden. Er kehrte fünfzig Jahre später wieder in San Francisco und eroberte von dort die Welt.

    Und jetzt? Erneut sind fünfzig Jahre vergangen. Ist es nicht Zeit für einen neuen Traum? Sehen wir nicht bereits die Veränderungen am Horizont? Gerät das Alte nicht mehr und mehr aus den Fugen?

    Aber hören Sie nicht auf mich. Ich bin der große Zweifler, ich will Sie nur verwirren. Ich bin der Feind jeglicher politischen Korrektheit. Ich löcke wider den Stachel, nähre die nagenden Zweifel und stifte Unruhe.

    So wie damals in Fiume.

    Was ist das überhaupt für ein Name für eine Stadt? Man könnte es ja verstehen, wäre der Ort nach einem Fluss benannt worden. Aber nur Fluss? Reichte die Fantasie nicht aus für einen besseren Namen?

    Die Illyrer, die von hier aus als Piraten die Adria unsicher machten, bezeichneten den Ort als Liburna, ein Begriff, von dem wir zu ihren Gunsten annehmen wollen, dass er nicht ebenfalls ein Synonym für Fluss war. Die Römer änderten das nach ihrer Eroberung in Tarsatica. Irgendwann kamen dann die Kroaten, die wiederum von den Franken vertrieben wurden. Trsat hieß der Ort jetzt, bis Friedrich III die Stadt kurzerhand erwarb und sie in Sankt Veit am Pflaum umbenannte. Man kann verstehen, dass dieser Name den Einwohnern nicht unbedingt behagte. Sie machten aus dem Pflaum einfach Fiume.

    Schließlich schauten auch die Franzosen vorbei, natürlich unter Napoleon, dann waren die Italiener dran und danach die Habsburger Monarchie, genauer gesagt, die Ungarn. Fiume wurde eine ungarische Hafenstadt, im Grunde ein Widerspruch in sich, aber was den Österreichern mit Triest recht war, das war den Ungarn mit Fiume nur billig. Auch wenn es nicht gerade ein billiges Vergnügen war, denn die Stadt war chronisch defizitär, und die Ungarn mussten hohe Beträge in den Hafen pumpen, um ihn für große Schiffe tauglich zu machen.

    Die ganze Zeit umkreisten die Kroaten die Stadt mit gierigem Blick und warteten darauf, ihr Rijeka (was, wie könnte es anders sein, der kroatische Begriff für Fluss ist) wieder in Besitz zu nehmen. Sie hatten in Fiume nichts zu sagen, und viele von ihnen durften die Stadt nur als Arbeitskräfte betreten, als Handlanger im Hafen oder in der Torpedofabrik, dem technologischen Schmuckstück Fiumes. Damit leistete man seinen Beitrag zur Weltgeschichte, denn dort wurde der moderne Torpedo erfunden und anschließend, neben ungarischen U-Booten, in großen Stückzahlen produziert, bis der Erste Weltkrieg beendet war.

    Ansonsten blieb, wie immer, alles im Fluss. Ganz besonders in jenem Jahr, als der Vate nach Fiume kam.

    ***

    Am 12. September 1919 marschierte der italienische Nationaldichter Gabriele d’Annunzio kurz nach Mitternacht mit 287 Freischärlern aus Ronchi los, um die Hafenstadt Fiume einzunehmen. Am Abend wurde er zum Comandante der Stadt ernannt, die er 500 Tage hielt.

    Schnell strömten aus der ganzen Welt Freiwillige und Aktivisten nach Fiume. Die „Stadt des Lebens" pulsierte rund um die Uhr. Sie war ein riesiges gesellschaftliches Versuchslabor. Es wurde diskutiert, gefeiert, marschiert; es gab freie Liebe und Drogen im Überfluss, volle Gleichberechtigung der Frauen und die freie Religionsausübung.

    Neben der Regierung in Rom beobachtete noch jemand die Vorgänge in Fiume mit großem Misstrauen. Benito Mussolini fürchtete, der Dichter werde die Rolle einnehmen, die er sich selbst zugedacht hatte: den Sturz der Regierung. D‘Annunzio war weitaus populärer als der spätere Duce. Er war nicht nur der Vate, Italiens Dichterfürst, sondern zudem ein hochdekorierter Kriegsheld.

    Der Dritte im Bunde war Filippo Tommaso Marinetti, Gründer und Leuchtfigur des Futurismus. Er war d’Annunzio in Hassliebe verbunden und politisch mit Mussolini verbandelt, der damals noch mehr Sozialist als Faschist war. Er war der ewige Zweite, als Dichter und Kultfigur immer hinter dem Vate, als Politiker immer hinter dem Duce.

    Es gibt kein Foto, das den Duce, den Vate und Marinetti gemeinsam zeigt. Verwunderlich, oder vielleicht auch nicht. Denn der Duce und der Vate wurden häufig miteinander abgelichtet. Sie erkannten im Gegenüber einen Teil von sich selbst. Marinetti hingegen war für sie ein Adept, der ihnen zwar nützliche Dienste leistete, vor allem dem Duce, den sie aber nicht als gleichrangig betrachteten.

    Für diese drei Männer war Fiume ein zentraler Wendepunkt in ihrem Leben.

    Für d’Annunzio war es der Zenit seiner politischen Laufbahn, dem ein rascher Abstieg folgte.

    Für Mussolini war es ein Musterbeispiel für die Ästhetisierung und Ritualisierung der Politik, die er zu einem wesentlichen Bestandteil des Faschismus und seines persönlichen Aufstiegs machte.

    Und Marinetti wurde durch die Zurückweisung des Vate in Fiume näher zu Mussolini getrieben, dem er bis zu seinem Tod treu blieb.

    Diese drei Männer haben das 20. Jahrhundert erfunden: den Faschismus, den Populismus, die moderne Kunst.

    Viel ist geschrieben worden über die Vorkommnisse in Fiume, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen. Eine genauere Lektüre allerdings zeigt, dass Vieles davon abgeschrieben worden ist von denen, die zuvor darüber berichtet haben. Wo beginnt also die Legende und wo endet sie? Und was ist die Wahrheit?

    Der Vate, der Duce und Marinetti: jeder hatte seine eigene Wahrheit. Oder sollte ich Wahrheiten sagen? Und obwohl ich sie ihr Leben lang begleitete, weiß ich bis heute nicht, welche davon die gültige war.

    Sie waren das, was sie waren, und sie konnten nur erreichen, was sie erreichten, weil sie frei von jeglichem Selbstzweifel waren. Nur so konnten sie die Erfinder der Zukunft werden. Denn diese drei Männer haben unser Jahrhundert begründet.

    Sie träumten vom Krieg, und sie bekamen ihn.

    Sie träumten von tödlichen Maschinen, und sie bekamen sie.

    Sie träumten von einer neuen Welt, und sie bekamen sie.

    Oder besser: Alle anderen bekamen sie. Denn der Vate, der Duce und Marinetti machten sich davon und ließen die Menschen mit den Folgen ihrer Träume zurück.

    Sie waren ihren Zeitgenossen weit voraus, und alle sind ihnen einfach nachgelaufen. Und plötzlich standen die Gefolgsleute alleine da, orientierungslos in einer blutüberströmten Welt, aus der alle Wegweiser verschwunden waren.

    Deshalb schreibe ich ein wenig davon auf, was damals in Fiume und davor und danach geschah. Die Zeiten, als sie noch die Herrscher der Welt waren. Einer Welt, die sie sich selbst geschaffen hatten und für sie bereit waren, zu sterben. Zumindest in dieser Hinsicht waren sie konsequent.

    Öffnen wir also den Vorhang und lassen das Spiel beginnen.

    12. September 1919

    Der Heilige Einzug oder Der Erlöser kommt nach Fiume

    Fiume wartet auf den Erlöser.

    Wir schreiben das Jahr 1919. Eine Zeit, in der die Politik, so wie heute, schon lange in die Hände seelenloser Bürokraten und Karrieristen gefallen ist, für die nichts so unzutreffend ist wie der Begriff Volksvertreter. Denn die Menschen wollen Gefühle. Erlösung, Glück, Würde – es sind immer dieselben Sehnsüchte. Und nirgendwo lassen sie sich deutlicher greifen als in Fiume, wo eine junge Frau an einem Fenster steht.

    Nennen wir sie Maria Bonnelli. Wir könnten sie auch Giulia oder Claudia nennen, das macht keinen Unterschied. Sie interessiert uns nicht als Person, sondern lediglich als Avatar, durch deren Augen wir besser beobachten können, was an diesem Tag in Fiume geschieht.

    Seit Tagen hat eine merkwürdige Erregung die Stadt erfasst. Seit über einem Jahr liegt das Schicksal Fiumes in den Händen britischer, amerikanischer und französischer Politiker, die in Paris endlose Beratungen darüber abhalten, wie das Europa der Nachkriegszeit und die Hinterlassenschaft der Habsburger Monarchie am besten zu ordnen sind. Und Fiume kommt dabei eine besondere Rolle zu, mit seiner Gemengelage von Italienern, Kroaten, Ungarn und anderen Nationalitäten, welche die Stadt alle für sich haben wollen, einmal abgesehen von den Ungarn, die sich mit der Rolle des Kriegsverlierers abgefunden haben.

    In Italien sind die Stimmen immer lauter geworden, die eine Annexion Fiumes fordern, um die Alliierten vor vollendete Tatsachen zu stellen. Auch in Fiume organisieren sich die Annexionisten, werden aber durch die internationalen Besatzungstruppen und die italienische Armee in Schach gehalten. Doch in den letzten Monaten haben sich die Gerüchte verstärkt, dass schon bald ein Freikorps die Stadt besetzen wird, angeführt von einem prominenten Italiener. Das kann nur einer sein, da ist man sich sicher, Gabriele d’Annunzio, der Vate, der Nationaldichter, der Prophet eines neuen Italiens, der Kriegsheld und größte Poet, den das Land seit Dante und Vergil hervorgebracht hat.

    Und gestern verdichteten sich die Gerüchte. Der Vate ist aufgebrochen, hieß es. Er führt eine Armee aus Arditi an. Er wird am 12. September in Fiume einmarschieren.

    Maria hat kaum zwei Stunden geschlafen. Die ganze Nacht haben sie und ihre Freundinnen damit verbracht, Matrosen und Offiziere der Dante Alighieri davon abzuhalten, aus Fiume auszulaufen. Sie haben mit ihnen getanzt, gelacht, getrunken, gesungen, geflirtet und ihnen die Ohren mit ihren Küssen so verschlossen, dass die Männer die Schiffssirene nicht hörten, die sie an Bord zurückrief.

    Maria läuft ins Badezimmer, entzündet den Gasbadeofen und hofft, dass ihre Eltern davon nicht geweckt werden. Ihr Vater steht der allgemeinen Erregung, die Fiume ergriffen hat, skeptisch gegenüber, ebenso wie dem Vate. „Ich habe den Mann gesehen, als er 1907 hier aus seinem Werk vorgetragen hat, hatte er am Vortag erklärt. „Das ist ein Mensch, der nur sich selbst liebt. Wenn er jetzt nach Fiume kommt, dann nicht, weil ihm unser Wohlergehen am Herzen liegt.

    Der Vater betreibt einen kleinen Zulieferbetrieb für die Schiffswerften. Das Geschäft geht schlecht, seit der Krieg verloren ist und die Ungarn keine Gelder mehr in den Hafen pumpen. Aber noch kann er sich über Wasser halten, besser jedenfalls als viele der Dockarbeiter, die den ganzen Tag ohne Arbeit herumlungern und von den Sozialisten auf dumme Gedanken gebracht werden.

    Gianluigi Bonnelli hofft, wie seine Tochter, auf die Annexion Fiumes durch Italien, damit die Umsätze wieder besser werden. Der Vate ist dabei eher ein Hindernis. Diese Ansicht hat er auch im Nationalrat der Stadt geäußert, ist aber auf wenig Gegenliebe gestoßen. Gianluigi hört seine Tochter und weiß, was sie vorhat. Soll er sie aufhalten? Das wäre keine kluge Entscheidung im Hinblick auf den ehelichen Frieden, denn seine Frau Gianna ist ebenfalls eine Bewunderin des Vate. Und sich mit ihr anzulegen, das hat er bereits vor vielen Jahren gelernt, lohnt sich nicht. Sie ist ebenso selbstbewusst wie die meisten Frauen von Fiume, die sich vor wenigen Wochen sogar das Wahlrecht erkämpft haben.

    Maria hat inzwischen ihr bestes Kleid angezogen und überlegt, ob sie einen Mantel überwerfen soll. Aber der September ist ausgesprochen warm und sie entscheidet sich dagegen. Wenige Minuten später steht sie auf der Straße, die um diese Stunde schon so belebt ist wie sonst nur am frühen Mittag.

    Die Frauen haben ihre besten Sonntagskleider aus den Schränken geholt, die Haare sorgsam gesteckt, die Schuhe frisch geputzt. Jetzt eilen sie in kleinen oder größeren Gruppen zum Stadttor oder zur Piazza Dante. Einige von ihnen tragen Gewehre auf dem Rücken oder lange Messer in den Händen, ein Kontrast, der überall in der Welt für Aufregung sorgen würde, nur in Fiume nicht. Die Frauen von Fiume sind die Armee des Vate, sollten die Männer dieser Herausforderung nicht gerecht werden.

    Maria hat andere Waffen, die sie erfolgreich in der letzten Nacht eingesetzt hat. Sie weiß es noch nicht, aber die Mannschaft der Dante Alighieri ist am Morgen nicht an Bord zurückgekehrt, sondern hat beschlossen, mit den Stadtbewohnern die Ankunft des Vate zu erwarten und ihm das Schiff zu übergeben.

    Maria erreicht den Blumenladen an der Ecke. Die Blumenhändler kennen die Frauen von Fiume. Sie hatten schon geöffnet, bevor die ersten von ihnen auf die Straße getreten sind, und als Maria in den Laden kommt, ist das Angebot bereits deutlich zusammengeschrumpft. Sie entscheidet sich für die letzten weißen und rosa Hortensien und reiht sich wieder in den von Minute zu Minute stärker anschwellenden Strom der Menschen ein, der sie ins Stadtzentrum mitreißt.

    ***

    Zur selben Zeit läuft Hauptmann Nino Host-Venturi unruhig im Hauptquartier der Fiumaner Legion auf und ab. Gestern Abend um elf hat er davon erfahren, dass der Vate gegen Mitternacht von Ronchi aus in Richtung Fiume aufbrechen wird. Er hat die Männer seiner Legion zusammengerufen und darauf eingeschworen, den Dichter mit allen Mitteln gegen Übergriffe der Besatzungstruppen zu verteidigen.

    Nun geht es bereits gegen sechs, und noch immer ist von den Befreiern nichts zu sehen. Host-Venturi hat zwei seiner Männer ausgeschickt, die vor wenigen Minuten zurückgekehrt sind. Keine Spur vom Vate. Dabei müsste er schon längst vor den Toren der Stadt stehen.

    Host-Venturi ist zwar ein Rebell, aber kein Hasardeur. Wenn die Aktion abgeblasen wurde, ohne dass er es weiß, macht es keinen Sinn, die Männer länger in Bereitschaft zu halten. General Pittaluga hat die italienischen Truppen mobilisiert, die seiner Legion zahlenmäßig weit überlegen sind. In der aufgeheizten Atmosphäre der Stadt könnte es leicht zu Missverständnissen kommen.

    Der Hauptmann beschließt, zumindest diejenigen seiner

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1