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Charleston, Jazz & Billionen: Europa in den verrückten Zwanzigerjahren
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Charleston, Jazz & Billionen: Europa in den verrückten Zwanzigerjahren
eBook323 Seiten3 Stunden

Charleston, Jazz & Billionen: Europa in den verrückten Zwanzigerjahren

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Über dieses E-Book

Ein Jahrzehnt zwischen Glamour und Börsenkrach

Die "Roaring Twenties" – wer denkt da nicht an rauschende Partys, strahlende Revuetänzerinnen, Glitzer & Glamour, Champagner im Überfluss? An eine Zeit hemmungsloser Unterhaltungssucht und atemloser Rekordjagden, gemäß dem Motto "schneller, höher, weiter"? Die 1920er sind eine Zeit der Extreme, in der sündhaft teure Feste, Hyperinflation und politisches Chaos nebeneinander existieren. Während Komponisten wie Strauss, Strawinsky, Schönberg und Ravel die klassische Musik revolutionieren, setzen sich in Italien und Russland totalitäre Regime durch. Die Menschen feiern Charles Lindberghs Atlantikflug, den Vormarsch des Automobils und die Emanzipation der Frau, gleichzeitig kämpfen Staaten wie Deutschland und Österreich mit der Notwendigkeit einer politischen Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg.
Walter Rauscher beleuchtet die Entwicklungen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Sport, Musik und Literatur von Paris bis Moskau und skizziert auf eindrucksvolle Weise ein faszinierendes Jahrzehnt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Feb. 2020
ISBN9783903217485
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    Buchvorschau

    Charleston, Jazz & Billionen - Walter Rauscher

    Auf der Suche nach einer neuen Weltordnung

    Europa 1918/19

    Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges musste die politische Landkarte Europas neu gezeichnet werden. Die drei großen Kaiserreiche existierten nicht mehr. In Russland wurden die 300 Jahre lang herrschenden Romanows gestürzt und die Zarenfamilie ermordet. Im Zuge von Revolution und Bürgerkrieg gingen in dem Riesenreich massive Umwälzungen vor sich, Nationen spalteten sich ab und gründeten unabhängige Staatswesen. Unter der Gewaltherrschaft von Lenins Bolschewiki galt der größte Staat der Erde mittlerweile als die massivste Bedrohung der zivilisierten Welt. Deutschland wiederum, die bedeutendste Militärmacht Europas, hatte letzten Endes den Krieg doch verloren, die Monarchie unter den seit 1871 als Deutsche Kaiser regierenden Hohenzollern abgeschüttelt und sich in eine demokratische Republik umgewandelt. Doch in einer Zeit, wo kein Stein auf dem anderen blieb, war auch diese durch einen kommunistischen Umsturz ernsthaft bedroht. Das dritte Kaisertum mit der ältesten Dynastie Europas, das Habsburgerreich, war nicht nur besiegt, es hatte nach der Gründung seiner Nachfolgestaaten überhaupt aufgehört zu bestehen. Die zentrifugalen nationalen Kräfte hatten sich für die Stützen der Monarchie als zu stark erwiesen. Neue, unabhängige Staatswesen wurden gegründet, Nachbarn des aufgelösten Österreich-Ungarns erhielten Gebietszuwächse.

    So besaß Europa nach dem Krieg mehr staatliche Einheiten als bei dessen Ausbruch: Zur Tschechoslowakei und Polen kamen im Nordosten an der Baltischen See Finnland, Estland, Lettland, Litauen hinzu, die sich von Russland losgesagt hatten. Das neu gegründete Jugoslawien vereinigte nicht bloß Teile der zerschlagenen Habsburgermonarchie, sondern mit Serbien und Montenegro auch zwei bereits vor dem Weltkrieg existierende Staatswesen.

    Zu Beginn des Jahres 1919 war der Große Krieg seit knapp zwei Monaten zu Ende. Trotz des Waffenstillstandes war unter den Völkern Europas aber keineswegs überall Friede eingekehrt. Gebietsstreitigkeiten führten in der Mitte und im Osten des Kontinents zu verschiedenen militärischen Kampfhandlungen. Deutsche, Polen, Russen, Ukrainer, Tschechen und Slowaken, Ungarn, Rumänen, Italiener, Südslawen und Österreicher waren daran beteiligt. Nach Russland drohte nun auch in Deutschland die kommunistische Revolution. In Berlin herrschten Mitte Jänner bürgerkriegsähnliche Zustände, die sich in weiterer Folge auf die ganze junge Republik ausdehnten. Nachdem an den Fronten endlich die Waffen schwiegen, wurde Europa von Streiks, Krawallen, Plünderungen, Besetzungen, ja selbst Pogromen und politischen Attentaten heimgesucht.

    Das Elend schien noch immer kein Ende zu nehmen. Doch nicht nur Gewalt bedrohte die Menschen. Weltweit grassierte die Spanische Grippe, eine verheerende Pandemie, die sogar mehr Opfer als der Weltkrieg forderte. Eine Metropole im Herzen Europas wie Wien, die ehemalige Haupt- und Residenzstadt der mittlerweile zertrümmerten Donaumonarchie, litt weitgehend alleingelassen unter Hunger und Kälte, ihre darbenden Menschen waren auf Lebensmittellieferungen aus dem Ausland angewiesen. Die Schweiz und Großbritannien waren dabei die ersten Staaten, die halfen.

    Es war hoch an der Zeit, das allgemeine Chaos in Europa durch eine internationale Nachkriegsordnung zu beheben. Eine solche sollte im Rahmen einer großen Friedenskonferenz geregelt werden. Als Austragungsort einigte man sich auf Paris. Der britische Premier David Lloyd George wollte die Konferenz eigentlich nicht in der Seine-Metropole abhalten, sein Verbündeter, Ministerpräsident Georges Clemenceau, soll jedoch so lange protestiert, ja sogar geweint haben, bis ihm nachgegeben wurde. Aber selbst die Weltstadt Paris war nach über vier Jahren Krieg auf einen derartig groß angelegten Kongress nicht vorbereitet. Neben Staatsmännern, Diplomaten und Militärs trafen auch Wissenschaftler, Juristen und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft in der französischen Hauptstadt ein. Alle Nationen der Erde – bis auf das Russland der Bolschewiki – suchten, auf der Konferenz ihre Zukunft mitzugestalten, ihre Lage zu verbessern oder wenigstens das Schlimmste zu verhindern. »Die Züge sind überfüllt, Zimmer kaum zu haben«, schilderten Berichterstatter eine regelrechte Massenwanderung an die Seine. »Paris ist voll Siegesfreude«, hieß es euphorisch, und so mancher glaubte bereits an einen zweiten Wiener Kongress. Doch allein die gut 500 Journalisten entwickelten eine völlig andere Atmosphäre als jene, die nach dem Sieg über Napoleon während des Friedenskongresses in der Donaumetropole mehr als 100 Jahre zuvor geherrscht hatte.

    Woodrow Wilson – der neue Messias

    Die Erwartungen an das Pariser Großereignis waren hoch. Woodrow Wilson hatte diese seit Monaten geschürt. Nach den Vorstellungen des pazifistisch orientierten US-Präsidenten sollte der Friedensschluss eine neue Weltordnung, ein besseres Zeitalter für die Völker der Erde einläuten. »Wir sind, kurz gesagt, zu dem Zwecke hier, darauf zu halten, dass auch mit den Grundlagen dieses Krieges aufgeräumt wird«, ließ das demokratische Oberhaupt des nunmehr mächtigsten Staates in den ersten Tagen der Konferenz die Öffentlichkeit wissen. Optimistisch, ja schon beinahe naiv anmutend ging Wilson bei seinem Konzept einer neuen Weltordnung vom Guten im Menschen aus. Völker, die selbstbestimmt lebten, würden den Frieden wünschen und nicht den Krieg suchen. Die europäischen Staatsmänner – gleichsam als gebrannte Kinder der Geschichte – dachten in vollkommen anderen, durchwegs zynischen Kategorien. Für sie lag die Neigung zur Gewalt in den Nationen selbst. Deshalb brauchte es Allianzen und militärische Abschreckung, um das Schlimmste zu verhindern und eine Ordnung nach alten Maßstäben aufrechtzuerhalten.

    Wilson war der erste amtierende US-Präsident, der den alten Kontinent besuchte, und er war der erste, der dessen Geschicke maßgeblich beeinflusste. Der aus Virginia stammende Intellektuelle, der am Anfang des 20. Jahrhunderts Princeton zu einer bedeutenden Universität gemacht hatte und nun meinte, für die gesamte Menschheit zu sprechen, sah selbst den Moment gekommen, in dem die USA als mittlerweile mächtigste Nation eine neue Weltordnung errichten konnten. Und es sollte – nach amerikanischem Vorbild – eine Weltordnung des Friedens und der Sicherheit unter dem Vorzeichen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems sein. Wilson hielt es für »die heilige Pflicht«, dauerhafte Abmachungen im Sinne von Gerechtigkeit und Frieden zu treffen. Daher erklärte er die Errichtung eines Völkerbundes zur vordringlichsten Aufgabe, ja zu einer »Lebensfrage«.

    Der Präsident, der 1917 hart mit sich gerungen hatte, sein Land an der Seite der Entente in den Krieg zu führen, war jedoch auch von der Notwendigkeit überzeugt, die Deutschen für ihre Schuld am Ausbruch des Weltbrandes zu bestrafen. Eine solche Auffassung war durchaus ein Teil seines Sendungsbewusstseins, die Welt nach dem Vorbild der nach seinem festen Glauben friedliebenden, fortschrittlichen und uneigennützigen Vereinigten Staaten von Amerika zu bekehren. Für ihn hatte das alte System Europas, das schließlich auch die Katastrophe des Weltkrieges verschuldet hatte, total abgewirtschaftet. Aber, so entsprach es der bisweilen unduldsamen Engstirnigkeit Wilsons, die Alte, von den USA gerettete, Welt musste auch tun, was man ihr sagte. Ein gegen den Kommunismus immunes Europa sollte möglichst rasch ökonomisch wieder auf die Beine kommen, damit allen voran die Alliierten den USA ihre immensen Schulden zurückzahlen konnten. Dafür brauchte es nicht zuletzt eine intakte deutsche Wirtschaft.

    Doch nach den Erfolgen der republikanischen Opposition bei den letzten Kongresswahlen war die Position des gottesfürchtigen Moralisten, dem allgemein Züge eines protestantischen Predigers und selbstgerechten, ja tyrannischen Egoisten nachgesagt wurden, in Washington bereits nachhaltig erschüttert. Darüber hinaus war dem im persönlichen Umgang harten und bisweilen rücksichtslos dogmatischen Wilson klar geworden, dass er für die Zusammenarbeit mit seinen europäischen Verbündeten ohnehin Abstriche in Bezug auf seine idealistischen Pläne machen musste. Zu mehr Realismus gezwungen, blieben daraufhin seine Statements im Vorfeld der Friedenskonferenz bereits überaus vage.

    Die Besiegten des Krieges vermochten Wilsons Gedankenwelt nicht gründlich genug zu deuten und machten sich daher über den bevorstehenden Friedensschluss falsche Hoffnungen – gerade, was das Selbstbestimmungsrecht der Völker betraf. In Wien beispielsweise hatte am 12. November 1918 die Provisorische Nationalversammlung nach einstimmigem Beschluss die Republik Deutschösterreich vor einer großen Menschenmasse auf der Ringstraße ausgerufen – als demokratischen Bestandteil der Deutschen Republik. Außenstaatssekretär Otto Bauer beeilte sich, Wilson gegenüber bereits am Tag danach in einer telegrafischen Note die Hoffnung auszusprechen, »dass Sie, den von Ihnen so oft ausgesprochenen Grundsätzen entsprechend, diese Bestrebungen des deutschen Volkes in Österreich unterstützen werden«.

    Tatsächlich wurde von den Völkern Europas vielerorts Wilsons Reise zur Friedenskonferenz dem Kommen eines Messias gleichgesetzt. »Die Massen jubelten ihm zu wie Jesu beim Einzug in Jerusalem«, hieß es im Pester Lloyd. »In atemloser Spannung hängt die Menschheit in diesen Tagen an Ihren Lippen. Aus Ihrem Munde erwartet sie die Verkündigung der Heilsbotschaft«, schrieb ihm wiederum in einem Memorandum die Tiroler Landesregierung, die um ihren Landesteil südlich des Brenners bangte und seinen mächtigen Schutz erbat.

    Die Menschen ersehnten eine neue Weltordnung, einen gerechten Frieden, einen »Wilson-Frieden«. Aber all die Begeisterung, die ihm von der Bevölkerung der Verbündeten bei seinen Besuchen Großbritanniens, Frankreichs und Italiens entgegenbrandete, das Blumenmeer, die Beflaggung der Häuser und Straßen, der überbordende Vertrauensvorschuss selbst der Politik, gaben dem US-Präsidenten zu denken. Wilson war bei all seinem missionarischen Habitus keineswegs blind. Schon bald begann er die Komplexität der Probleme im Nachkriegseuropa zu erkennen, ihm dämmerte die Sorge, den hohen Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Zudem wurden Wilson zunehmend die unterschiedlichen Interessen der Sieger bewusst: Ging es ihm selbst vorrangig um den Völkerbund, war Clemenceau in erster Linie um den Schutz Frankreichs vor Deutschland und Lloyd George um die britische Vorherrschaft zur See besorgt.

    Die Pariser Friedenskonferenz

    Die Friedenskonferenz begann am Nachmittag des 18. Jänner 1919 im französischen Außenministerium am Quai d’Orsay eigentlich bloß als eine Konferenz der siegreichen Alliierten. Die Franzosen hatten dieses Datum bewusst gewählt, handelte es sich doch um den Jahrestag der für sie so demütigenden Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal von Schloss Versailles im Jahr 1871. Damals hatte Frankreich den Krieg gegen Deutschland verloren, nun waren die Vorzeichen umgekehrt.

    In der Eröffnungsansprache bezeichnete Staatspräsident Raymond Poincaré den Ersten Weltkrieg als einen »Kreuzzug der Menschheit für das Recht.« Die Alliierten, so das französische Staatsoberhaupt, hatten sich 1914 dem Drang der von Deutschland angeführten Mittelmächte nach Hegemonie in Europa und schließlich sogar nach der Weltherrschaft entgegenzustellen. Den Sieg der Alliierten nannte Poincaré nun einen »Sieg des Rechts«, die Friedenskonferenz einen »großen Gerichtshof«. Nach der Einstellung der Feindseligkeiten sei nach Gerechtigkeit zu suchen. »Was aber die Gerechtigkeit zuerst fordert, nachdem sie verletzt worden ist, sind Wiederherstellungen und Wiedergutmachungen für jene Völker und Menschen, die beraubt oder misshandelt worden sind.«

    Wilson schlug Poincarés alten politischen Gegner, den linksbürgerlichen französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, als Vorsitzenden der Friedenskonferenz vor; nicht bloß aus Gründen der Tradition und Höflichkeit oder weil Frankreich »durch die Leiden und Opfer, die es während des Krieges gebracht hat, einen besonderen Tribut« verdiene, sondern vor allem als Huldigung des Mannes, der ein »großer Diener« seines Landes sei. Gleich nach seiner Ernennung kündigte Clemenceau an, dass die Friedenskonferenz dem Programm Wilsons folgen würde, wonach sie einen »Frieden der Völker« schaffen wolle. Doch dieses Statement war bloß Höflichkeit. Der erfahrene Politiker hatte wenig übrig für Idealisten, »die die internationalen Kriege unterdrücken wollen, um uns in Frieden den Annehmlichkeiten des Bürgerkrieges auszuliefern«.

    Die »Großen Drei« mit Zylinder: David Lloyd George, Georges Clemenceau und Thomas Woodrow Wilson

    Entgegen den von Wilson genährten Erwartungen blieb es schließlich im weiteren Verlauf bei der Geheimdiplomatie. Die Öffentlichkeit wurde doch nicht zu den Sitzungen zugelassen, denn die Alliierten waren sich – allem voran in der Frage der Behandlung Deutschlands – keineswegs einig. Die zahlreichen Kommissionen und Arbeitsgruppen trafen insgesamt 1646 Mal zusammen und verhedderten sich dabei zunehmend in Detailfragen, anstatt das große Ganze zu sehen. Auch wenn noch so viele Expertenkommissionen tagten und es formal – mit Italienern und Japanern – den aus den Regierungschefs und Außenministern der Großmächte gebildeten Rat der Zehn gab, lag die wahre Macht doch in den Händen der »Großen Drei«, den Vertretern der USA, Großbritanniens und Frankreichs: Woodrow Wilson, David Lloyd George und Georges Clemenceau. Wenn auch der Oberste Rat offiziell das höchste Gremium darstellte, war es doch eine schlichte Tatsache, dass der Vierte im Bunde, der Ministerpräsident aus Rom, Vittorio Orlando, bei den informellen Gesprächen, die für gewöhnlich in der amerikanischen Privatresidenz stattfanden, von den drei anderen führenden Staatsmännern nie als politisch ebenbürtig behandelt wurde. Als er dann am Ende über die Frage eines italienischen Fiumes (Rijeka) gar zu weinen begann, war er für seine Gesprächspartner endgültig nur noch mühsam. Doch selbst die oft autoritär agierenden »Großen Drei« ließen bisweilen den gegenseitigen Respekt vermissen: als etwa Lloyd George bei einem der manchmal chaotisch verlaufenden Treffen im Zuge einer hitzigen Diskussion aufsprang und seinen französischen Gesprächspartner beim Genick packte, bis Wilson endlich die beiden Streithähne trennen konnte. Aber auch der als kontrolliert geltende US-Präsident verlor während der Pariser Friedenskonferenz immer wieder die Contenance.

    Abgesehen von dieser Entgleisung galt der aus Wales stammende Premier mit dem Beinamen »der Zauberer« als Meisterverhandler, gewiefter Taktiker mit bemerkenswerten Fähigkeiten und Redner mit immenser Überzeugungskraft. Seine taktische Beweglichkeit war für manchen allerdings eine Charakterschwäche. Colonel Edward House, der aus Texas stammende engste Berater Wilsons, sah in Lloyd George einen oberflächlichen »Unheilstifter«, jemanden, »der seine Meinung ändert wie ein Wetterhahn«. In der Kampagne zu den britischen Parlamentswahlen übte sich der liberale Premier tatsächlich noch in radikalem Populismus und forderte, den Deutschen den »Knockout-Schlag« zu versetzen und ihren ehemaligen Kaiser Wilhelm zu hängen. Auf der Konferenz in Paris besann sich Lloyd George aber wieder seiner Rolle als Staatsmann und beabsichtigte vielmehr, ganz in alter Bismarck-Manier als »ehrlicher Makler« zu fungieren. Keineswegs im Zweifel über die Kriegsschuld des Hohenzollernreichs, wollte er Deutschland zwar bestrafen, es gleichzeitig für eine gesunde europäische Zukunft aber keinesfalls ruinieren. Daher hatte sich seiner Ansicht nach Frankreich mit seinen Wünschen zurückzuhalten. Die Deutschen sollten einen Frieden bekommen, den sie akzeptieren konnten, ohne nur mehr an Rache zu denken. Ein ruhiges Europa würde London die Möglichkeit bieten, sich auf sein Empire zu konzentrieren. Aber Großbritannien hatte im Vergleich zu Frankreich von einem regenerierten Deutschland viel weniger zu befürchten und durchaus mehr zu gewinnen. Diese Position teilte es mit den Vereinigten Staaten, die planten, sich nach erfolgreicher Ausübung ihrer Schiedsrichterrolle auf der Konferenz nicht mehr in Europa einzumischen.

    Die ausgedehnte Diskussion der oft uneinigen Siegermächte über den Vertrag mit Deutschland erzeugte jedoch in weiterer Folge nicht nur eine höchst gereizte Stimmung, sondern auch erheblichen Zeitdruck. Zu allem Übel wurden viele Staaten in Europa von Krisen geschüttelt, so auch Frankreich, wo Clemenceau gerade den Attentatsversuch eines Anarchisten überlebt hatte. Der mittlerweile in die Jahre gekommene »Tiger« erholte sich rasch, begnadigte den zum Tode verurteilten jungen Mann und machte sich sogar über dessen miserable Schießkünste lustig.

    Die »Großen Drei«, längst müde und genervt, waren sodann nicht mehr willens, sich auf lange Debatten mit am Ende doch nur uneinsichtigen Deutschen einzulassen. Die Sieger entschieden sich für die unübliche Vorgehensweise, einfach Bedingungen zu stellen, auf die die Vertreter der besiegten Staaten lediglich schriftlich zu antworten hatten. Letzteren sollte nicht bloß jegliche direkte Verbindung zu den Delegationen der Alliierten, sondern auch die Zusammenarbeit untereinander verwehrt bleiben. Dass es zu Verhandlungen zwischen den gegnerischen Parteien an einem gemeinsamen Tisch gar nicht kam, bedeutete einen erheblichen Bruch der diplomatischen Tradition eines klassischen Friedenskongresses und musste ein Diktat der Sieger befürchten lassen.

    Die österreichische Delegation in Saint-Germain

    Die Nachfolger der einstigen Mittelmächte sollten einzeln, jeder für sich, zur Rechenschaft gezogen werden. Deren Abordnungen wurden in verschiedenen Pariser Vororten einquartiert. Dies geschah schon aus Gründen der Sicherheit, Anschläge in jener noch immer aufgewühlten Zeit waren durchaus möglich.

    Die österreichische Delegation bestellte der Oberste Rat nach Saint-Germain-en-Laye. Sie wurde von Staatskanzler Karl Renner angeführt. Der gebürtige Südmährer hatte sich zu Zeiten der Monarchie als gemäßigter sozialdemokratischer Abgeordneter zum Reichsrat und Experte für staatsrechtliche Fragen an der Seite des Gründers der österreichischen Arbeiterbewegung, Victor Adler, profiliert. Seit den Umsturztagen im Herbst 1918 stand der betont konstruktive Politiker an der Spitze der Regierung des neuen deutschösterreichischen Staats.

    Der österreichischen Friedensdelegation gehörten über 40 Mitglieder an. Zum Vergleich: Die britische Abordnung zählte beinahe 400 Personen. Die Delegierten aus Wien reisten mit einem aus zehn Waggons bestehenden Sonderzug nach Paris und benötigten für die Reise fast zwei Tage. In Saint-Germain bezogen die Österreicher ihre Unterkünfte in einem ruhig gelegenen Nobelviertel. Staatskanzler Renner erhielt gemeinsam mit drei Sektionschefs eine Villa mit großem Arbeitszimmer, einer Bibliothek und einem schönen französischen Garten mit malerischem Ausblick auf die Seine zugeteilt. In die benachbarte Villa zog der letzte kaiserliche Ministerpräsident, der als Pazifist bekannte Heinrich Lammasch, mit Frau und Tochter ein. Die beiden Anwesen gehörten den Brüdern Reinach, von denen der ältere, Joseph, ein alter Freund Clemenceaus war. »Ich lebe in der Villa eines der reichsten Pariser Geldmenschen«, schrieb Renner seiner Frau Luise, »habe einen eigenen französischen Diener ›Anton‹ […], übe mich im Französischen, halte mit meinen Delegationsmitgliedern Besprechungen ab, studiere Akten und gehe im Park spazieren. Das ist alles!« Doch der Kanzler musste zugeben: »Wir sind vollständig eingesperrt.«

    Karl Renner nach der Entgegennahme der Friedensbedingungen in Saint-Germain

    Die österreichischen Delegierten, so das Journal des Débats, hätten sofort gezeigt, was sie von den Deutschen unterschied, den Franzosen für den guten Empfang gedankt und ihre gute Laune, ja ihre Freude gezeigt. »Der Wiener gleicht nicht dem Berliner.« Britische Blätter nannten die Mitglieder der Abordnung bald eine »happy, smiling family-party«. Dies mochte darauf zurückzuführen sein, dass man sich so manchen Abend mit Tanz oder Klaviervorträgen vertrieb. »Die Schreibfräulein sind zum Range von Damen der Gesellschaft vorgerückt, was zufällig durch die Qualität der Frauenzimmer etwas weniger auffällig ist«, schrieb der ursprünglich als Delegationsleiter vorgesehene ehemalige k. k. Justizminister Franz Klein privat in die Heimat. »Natürlich täglich ein- oder zweimal Kartenspiel, eine Art Bar ist dazu gekommen.« All dies mochte dazu geführt haben, dass die französische Presse die Österreicher denn auch als »lustige, gern essende und unernste Menschen«

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