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Das vergoldete Zeitalter: Eine Geschichte von heute
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eBook678 Seiten9 Stunden

Das vergoldete Zeitalter: Eine Geschichte von heute

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Über dieses E-Book

Die beiden in Hartford (Connecticut) wohnenden und befreundeten Autoren Charles Dudley Warner und Mark Twain ließen sich 1873 von ihren Ehefrauen zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Romans herausfordern. So entstand mit »The Gilded Age – A Tale of Today« in der Form des damals sehr beliebten Gesellschaftsromans eine Satire, die zum Synonym einer Epoche wurde und gerade in unseren Tagen der Finanzkrise wieder zur Aktualität gekommen ist. Man könnte den von den Autoren selbst gewählten Untertitel »Eine Geschichte von heute« gar für einen in der Jetztzeit hinzugefügten Werbespruch halten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum16. Dez. 2014
ISBN9783738666939
Das vergoldete Zeitalter: Eine Geschichte von heute
Autor

Mark Twain

Mark Twain (1835-1910) was an American humorist, novelist, and lecturer. Born Samuel Langhorne Clemens, he was raised in Hannibal, Missouri, a setting which would serve as inspiration for some of his most famous works. After an apprenticeship at a local printer’s shop, he worked as a typesetter and contributor for a newspaper run by his brother Orion. Before embarking on a career as a professional writer, Twain spent time as a riverboat pilot on the Mississippi and as a miner in Nevada. In 1865, inspired by a story he heard at Angels Camp, California, he published “The Celebrated Jumping Frog of Calaveras County,” earning him international acclaim for his abundant wit and mastery of American English. He spent the next decade publishing works of travel literature, satirical stories and essays, and his first novel, The Gilded Age: A Tale of Today (1873). In 1876, he published The Adventures of Tom Sawyer, a novel about a mischievous young boy growing up on the banks of the Mississippi River. In 1884 he released a direct sequel, The Adventures of Huckleberry Finn, which follows one of Tom’s friends on an epic adventure through the heart of the American South. Addressing themes of race, class, history, and politics, Twain captures the joys and sorrows of boyhood while exposing and condemning American racism. Despite his immense success as a writer and popular lecturer, Twain struggled with debt and bankruptcy toward the end of his life, but managed to repay his creditors in full by the time of his passing at age 74. Curiously, Twain’s birth and death coincided with the appearance of Halley’s Comet, a fitting tribute to a visionary writer whose steady sense of morality survived some of the darkest periods of American history.

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    Buchvorschau

    Das vergoldete Zeitalter - Mark Twain

    Namen

    Ein Vorwort des Herausgebers

    Die beiden in Hartford (Connecticut) wohnenden und befreundeten Autoren Charles Dudley Warner und Mark Twain ließen sich 1873 von ihren Ehefrauen zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Romans herausfordern. So entstand mit The Gilded Age – A Tale of Today in der Form des damals sehr beliebten Gesellschaftsromans eine Satire, die zum Synonym für eine Epoche wurde und in unseren Tagen einmal mehr zur Aktualität gelangte. Man könnte den von den Autoren gewählten Untertitel Eine Geschichte von heute gar für einen Werbegag der Jetztzeit halten.

    Jenes von Twain und Warner erlebte und beschriebene vergoldete Zeitalter, das wir heute meist in den Zeitraum zwischen dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs 1865 und der Wirtschaftskrise am Ende des 19. Jahrhunderts verorten, dürfte einem damaligen Beobachter auf der Seite der Profiteure eigentlich als goldenes Zeitalter erschienen sein, denn die Ökonomie der Vereinigten Staaten verzeichnete einen enormen Aufstieg. Die Industrialisierung, der Ölboom, der Ausbau des Telegraphen- und Eisenbahnnetzes, der technologische Fortschritt allgemein und die absolute Freiheit des ungebremst spekulativen Marktes, die Entwicklung hin zu einem ökonomischen Imperialismus, brachten den im Grunde demokratisch organisierten Vereinigten Staaten eine neue Adelsschicht, die des Geldadels oder high society. Rockefeller, Vanderbilt und Carnegie sind nur einige Namen der gern als robber barons (Raubritter) bezeichneten Spitzenkapitalisten.

    Zugleich wuchs die Armut und Unzufriedenheit jener zahlenmäßig überwiegenden Gesellschaftskreise, die von all dem Aufschwung nicht profitierten oder gar unter den Begleiterscheinungen des allzu freien Marktes litten. Konflikte angesichts einer unüberschaubaren Flut von Einwanderern, der arg dezimierten und in Reservate gedrängten Urbevölkerung und der nominell als befreit geltenden afroamerikanischen Bevölkerung, blieben im drastischen Auseinanderdriften von Arm und Reich nicht aus. Zunehmende Korruption, rücksichtsloses Aushebeln demokratischer Grundsätze, Lobbyismus, Vetternwirtschaft, die Arroganz in einer Parallelwelt der Oberschicht und die Spekulation mit fiktiven Werten ohne ein real nachweisbares Vermögensfundament sollten dem nicht enden wollenden Aufschwung, sollten der Epoche scheinbar unendlicher Chancen die Grenzen aufzeigen.

    Dennoch überlebte bis in unsere Tage der zutiefst amerikanische Grundsatz, nach dem mit etwas Geschick und Glück, vieles, wenn nicht gar alles erreicht werden kann.

    So unterlag ausgerechnet Mark Twain selbst, ihm war das Schicksal seiner Romanfamilie Hawkins wohl entfallen, Jahre nach dem Erscheinen von The Gilded Age dem Hang zur Spekulation. Er erlitt 1894 mit einer sisyphoshaften Investition in eine unausgereifte Setzmaschine finanziellen Schiffbruch bis hin zum Bankrott, als hätte er einem Col. Eschol Sellers nacheifern wollen. Twain erholte sich davon nur (ironischerweise vom Kapitalisten Henry Rogers unterstützt) mittels weltweiter Vortragsreisen und aufgrund seiner enormen Popularität. Aber besitzen wir als Zeitgenossen des beginnenden 21. Jahrhunderts das Recht, Twains mangelnde Konsequenz zu belächeln?

    Im September 1873, kurz vor dem Erscheinen des Romans im Jahr 1874, kam es trotz der Vorwarnung, die der Schwarze Freitag am 24. September 1869 abgegeben hatte, zu einer sechs Jahre andauernden Wirtschaftskrise. Bei gleichzeitigem Verfall des Silberpreises war es aufgrund überzogener staatlicher Subventionen und privatwirtschaftlicher Spekulationen im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau zu Panikreaktionen an den Börsen und zu Bankenpleiten gekommen. Doch auch diese Panik von 1873 war nur eine weitere Vorwarnung.

    In den 1880er Jahren nahm das vergoldete Zeitalter noch einmal richtig Fahrt auf, um uns zu beweisen, wie sehr sich der ökonomisch tätige Mensch immer vorgaukelt, bereits in einem goldenen Zeitalter zu leben, beziehungsweise auf ein demnächst beginnendes zu spekulieren. Wie dick der Goldbelag auch ist, es gab und gibt immer viele Verlierer und nur sehr wenige Gewinner.

    1893 platzte dann eine Finanzblase, die uns heute als Überlebende des Platzens zweier Blasen (jene der überschätzten New Economy am Ende der 1990er Jahre und jene, die 2007 zuerst in der Form einer US-Immobilienkrise und darauf folgend als weltweite Finanzkrise zerbarst) durchaus bekannt vorkommen dürfte. Man hatte den Eisenbahnbau über den eigentlichen Bedarf hinaus betrieben, ihn zum größten Industriezweig werden lassen. Bauprojekte wurden über zukünftig erwartete Erträge finanziert und Unternehmen begannen andere zur Beseitigung eines Konkurrenten aufzukaufen, ohne die notwendigen finanzielle Grundlagen aufzuweisen. So bedurfte es nur noch weniger negativer Einflüsse, bis eine Kettenreaktion erfolgte und eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen in der Geschichte der Vereinigten Staaten ihren Lauf nahm.

    Erst 1896 erholte sich die Wirtschaft langsam wieder, denn in Alaska hatte soeben der zweite Goldrausch eingesetzt. …

    Der vorliegende Band nimmt die von Moritz Busch übersetzte und bereits 1876 in der Reihe Amerikanische Humoristen bei Fr. Wilh. Grunow in Leipzig erschienene Fassung als Grundlage. Diese bislang erste und einzige Übertragung ins Deutsche wurde vom Herausgeber sanft modernisiert und an erforderlichen Stellen korrigiert. Es ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig anzumerken, dass der Wert des Werkes weniger in der literarischen Klasse, vielmehr im kurzweiligen Beleg dessen zu finden ist, dass uns der Kapitalismus als derzeit mehrheitlich bevorzugte Wirtschaftsordnung ganz offensichtlich nicht hilft, aus den Fehlern der Geschichte die richtigen Schlüsse zu ziehen.

    So freut sich der Herausgeber, dem Markt nach zahllos zerplatzter und vor all den in der Zukunft noch zerplatzenden Spekulationsblasen endlich wieder eine deutschsprachige Ausgabe von The Gilded Age – A Tale of Today anbieten zu können – und nicht zuletzt erhofft er sich im Geiste eines Col. Eschol Sellers von der Veröffentlichung Ozeane und Ozeane von Geld.

    Dirk Jürgensen

    Vorrede der deutschen Ausgabe von 1876

    In Amerika hat fast jedermann seinen Traum, seinen Lieblingsplan, durch den er sich gesellschaftlich oder in Geldsachen vorwärts zu bringen hofft. Diese alles durchdringende Lust am Spekulieren ist es, die wir im Vergoldeten Zeitalter darzustellen versucht haben. Sie ist ein Charaktermerkmal, welches sowohl für den Einzelnen wie für die gesamte Nation ihre gute, aber auch ihre schlimme Seite hat. Ihre gute, weil es weder dieser noch jenem still zu stehen erlaubt, sondern beide unaufhörlich vorwärts, auf den einen oder anderen ihnen vorschwebenden Punkt zutreibt. Ihre schlimme, weil der gewählte Punkt oft schlecht gewählt ist und dann der Einzelne Schiffbruch erleidet, die Häufung solcher Fälle aber die gesamte Nation in Mitleidenschaft zieht und so derselben schadet. Dennoch ist es ein Zug, zu man sagen muß, es ist besser, wenn ein Volk ihn hat und zuweilen unter ihm leidet, als wenn es ohne ihn ist.

    Wir haben auch auf eine wirklich traurige Erscheinung hingewiesen, eine Erscheinung, die zu behandeln uns wenig Vergnügen machte. Es ist die schändliche Korruption, die sich in der letzten Zeit in unsere Politik eingeschlichen und sich in einer Handvoll Jahren so weit ausgebreitet hat, daß die Befleckung von jedem Staat und jedem Territorium in der Union einen Teil ergriffen hat.

    Aber ich habe einen festen starken Glauben an eine edlere Zukunft für mein Vaterland. Die große Mehrheit des Volkes ist geradsinnig und rechtschaffen, und der neuerdings eingetretene Stand der Dinge regt sie zum Handeln an. Wenn er nur fortfahren würde, sich den politischen Angelegenheiten des Landes persönlich zu widmen und nur ihre besten Männer auf den Posten des Vertrauens und der Macht zu erheben! Dieser Tag wird kommen.

    Die Besserung hat bei uns bereits begonnen. Herr Tweed¹ (den uns Großbritannien geliefert hat) ist, nachdem er unsere Gesetze und Gerichtshöfe eine gute Weile ausgelacht hat, endlich zu dreizehnjähriger Haft mit harter Arbeit verurteilt worden. Es ist ein reiner Segen, daran zu denken. Es wird auch wenigstens zwei Jahre dauern, bis irgendein Gouverneur den Mut haben wird, ihn zu begnadigen. Ein großer New Yorker Richter, der Jahr auf Jahr ein niederträchtiges, schamloses Treiben fortsetzte, der Gesetzgebung trotzte und die Zeitungen mit höhnischen Blicken maß, wurde endlich gedemütigt, seiner Würden entkleidet und von der öffentlichen Meinung verurteilt, nie wieder irgendein ehrenvolles oder einträgliches Amt im Staat inne zu haben. Ein anderer solcher Richter (uns von Großbritannien geliefert) hatte die Güte, als er sah, daß sich der nämliche Schlag für seinen eigenen Kopf vorbereitete und derselbe bestimmt treffen würde, in seinem, von seinen Räubereien erbauten Palast, an gebrochenem Herzen zu sterben.²

    Langham Hotel, London

    11. Dezember 1873

    Mark Twain

    1

    18. Juni. Squire Hawkins saß auf der in dieser Gegend Stile genannten Pyramide großer Holzscheite vor seinem Haus und betrachtete den Morgen.

    Die Örtlichkeit hieß Obedstown, Ost-Tennessee. Man konnte nicht erkennen, daß sich Obedstown auf dem Gipfel eines Berges befand, denn die Landschaft bot nichts, um dies anzudeuten – aber es war wirklich so, es war ein Berg, der sich über ganze Landkreise erstreckte und sehr allmählich anstieg. Der Bezirk führte den Namen Die Buckel von Ost-Tennessee und genoß einen Ruf wie Nazareth, soweit es sich darum handelte, was an Gutem von dort kommen könnte.

    Das Haus des Squire war eine doppelte Blockhütte, die sich im Zustand des Verfalls befand. Zwei oder drei dürre Hunde lagen schlafend um die Schwelle herum und erhoben traurig ihre Köpfe, wenn Frau Hawkins oder die Kinder beim Hinein- oder Herausgehen über ihre Körper hinwegschritten. Über den graslosen Hof war Unrat verstreut. In der Nähe der Tür stand eine Bank, auf der sich ein blechernes Waschbecken, ein Krug mit Wasser und ein Kürbis befanden. Eine Katze hatte aus dem Krug zu saufen begonnen, aber die Anstrengung überstieg ihre Kräfte, und sie hatte zum Ausruhen innegehalten. Am Zaun standen ein Seihapparat mit Asche zur Bereitung von Lauge und nicht weit davon ein eiserner Topf zum Kochen von Schmierseife.

    Dieses Gebäude bildete den fünfzehnten Teil von Obedstown. Die anderen vierzehn Häuser waren so zwischen den hochstämmigen Fichtenbäumen und zwischen den Maisfeldern zerstreut, daß jemand, der allein seinen Augen traute, mitten in der Stadt stehend glauben mußte, sich auf dem Land zu befinden.

    Squire Hawkins trug seinen Titel, da er der Postmeister von Obedstown war. Der Titel gehörte eigentlich nicht zum Amt, aber in diesen Gegenden mußten die vornehmen Bürger stets irgendwelche Titel tragen. So war die übliche Höflichkeit auf Hawkins ausgedehnt worden. Die Briefpost traf einmal pro Monat ein, und es kam bisweilen dazu, daß drei bis vier Briefe auf einmal abgeliefert wurden. Doch selbst ein solch reichliches Zuströmen füllte den ganzen Monat des Postmeisters nicht aus, und daher führte er in der Zwischenzeit einen Kramladen.

    Der Squire betrachtete den Morgen. Er war balsamisch und still, die duftenden Lüftchen waren mit den Wohlgerüchen von Blumen erfüllt, Bienen summten durch die Luft, überall ringsum flüsterte es von jener Ruhe, die Waldlandschaften den Sinnen zuführen. Über alles breitete sich jene unbestimmte, angenehme Melancholie aus, die eine solche Zeit und solche Umgebungen einflößen.

    Bald traf die US-Post zu Pferde ein. Es gab diesmal nur einen Brief und der war für den Postmeister selbst. Der langbeinige Jüngling, der den Briefträger spielte, blieb eine Stunde, um mit den Leuten zu plaudern, denn er hatte keine Eile. Und in kurzer Zeit hatte sich die männliche Bevölkerung des Städtchens versammelt, um zu helfen. Alle waren in selbstgewebten Jeans gekleidet. Blau oder Gelb – andere Farben kamen nicht vor. Alle trugen einen Hosenträger – mitunter auch zwei – aus daheim gestricktem Garn. Einige hatten Westen, aber nur wenige hatten Röcke an. Die sich zeigenden Westen und Röcke waren jedoch eher malerisch als sonst etwas, denn sie waren aus recht phantasievollen Kattunmustern nach Schildpattart gefertigt – eine Mode, die unter den Mitgliedern der Gemeinde, die einen über dem gewöhnlichen Niveau stehenden Geschmack besitzen und die Mittel haben, sich stilgerecht zu kleiden, noch heutigen Tags vorherrscht. Jeder kam mit den Händen in den Taschen an. Bisweilen holte man eine Hand zu irgendeinem Zweck heraus, aber sie ging, nachdem sie ihren Dienst getan hatte, immer wieder zurück, und wenn es der Kopf war, den sie bedient hatte. So behielt der zerfetzte Strohhut die schiefe Stellung, die er dadurch bekommen hatte, daß er gelüftet und unterwühlt worden war, so lange, bis das nächste Bedürfnis sich zu kratzen die seine geneigte Lage veränderte. Es waren viele Hüte anwesend, aber keiner saß aufrecht und nicht zwei von ihnen waren in dieselbe Stellung verschoben. Wir sprechen hierbei gleichzeitig von Männern, Jünglingen und Knaben. Und wir sprechen ebenfalls von diesen drei Alterstrufen, wenn wir sagen, daß jeder Einzelne entweder rohen Blättertabak kaute, der in seinen eignen vier Pfählen zurechtgemacht war oder denselben in einer Pfeife schmauchte, die aus einem Maiskolben gefertigt war. Nur wenige trugen einen Bakkenbart, keiner trug einen Schnurrbart, einige hatten einen dicken verfilzten Haarbüschel unter dem Kinn, der die Kehle verbarg und das einzige hier als korrekt anerkannte Vorbild auf dem Gebiet der Bärte war. Aber kein Teil des Gesichts hatte bei irgendeinem der Leute seit einer Woche ein Rasiermesser gesehen.

    Die Nachbarn standen einige Augenblicke da und betrachteten nachdenklich den Briefträger, während dieser sprach. Aber bald begann sich Ermüdung zu zeigen, und einer nach dem anderen kletterten sie auf die oberste Stange eines Riegelzaunes und blieben dort mit eingezogenen Schultern und ernsten Gesichtern wie ein Schwarm von Mäusefalken hocken, die sich zum Abendschmaus versammelt haben und auf den Zapfenstreich warten. Der alte Damrell sagte: »Sin wohl noch keine Nachricht nicht da vom Richter, wahrscheinlich nicht?«

    »Kann ich wahrhaftig nicht sagen. Die Einen meinen, er wird gleich hier sein, die Anderen denken, nein. Russ Mosely, der sagte dem alten Hanks, es könnte sein, daß er morgen oder übermorgen nach Obeds kommen täte, dächt er.«

    »Na, ich wollte, ich wüßte es. Ich habe eine schöne Sau mit Ferkeln im Gerichtshaus stehen und keinen Platz nicht für sie draußen. Wenn der Richter hier Gericht abhalten will, muß ich sie wohl rausnehmen. Ich meine, ich will‘s morgen tun.«

    Der Sprecher preßte seine dicken Lippen wie die dem Stiel zugekehrte Seite einer Tomate zusammen und schoß mit einer Ladung Tabaksjauche eine Hummel tot, die sich sieben Fuß entfernt von ihm auf ein Krautblatt niedergelassen hatte. Einer nach dem anderen der verschiedenen Kauer preßte einen Schuß Tabaksaft heraus und feuerte ihn mit festem Zielen und tadelloser Genauigkeit auf die Verewigte ab.

    »Was ist unten an den Forks los?« fuhr der alte Damrell fort.

    »Weiß nich. Der alte Drake Higgins, der ist letzte Woche unten in Shelby gewest. Schaffte sein bißchen Korn runter, konnte das mehrste davon aber nicht los werden, es war keine Zeit nicht zum Verkaufen, sagt er, und so nahm er‘s wieder mit herauf und will warten bis zum Herbst. Redet davon, er will nach Missouri – ne ganze Menge von die Leute da unten reden davon, sagt der alte Higgins. Können sich hier nicht mehr ihr Brot verdienen in solchen Zeiten wie diese. Si Higgins ist nach Kentucky hinüber gewest und hat da ein hochnäsiges Mädel aus eine von die erste Familien geheiratet. Der ist, wie die Leute sagen, mit ein ganzen höllischen Haufen voll Sparren und Graupen im Kopf nach den Forks zurückgekommen. Er hat da allerhand Kram mitgebracht und das alte Haus aufgewichst damit, wie sie‘s in Kentucky machen, sagt er, und es sind weiß Gott Leute von Turpentine hergekommen, um es zu sehen. Er hat Zeug genommen und es drinnen über und über mit Tünche beschmiert.«

    »Was is das, Tünche?«

    »Weiß nich. Er nennt‘s so. Die alte Madam Higgins, die sagte es mir. Sie sage, sie hätte keine Lust, sich in einem solchen verdammten Loch herumzusuhlen wie ein Schwein. Meinte, wär Dreck oder sonst so was Ekliges, das kleben bleiben tut und alles zudeckt. Sie nennt‘s Tünche.«

    Dieses Wunderding wurde ziemlich lange und in beinahe lebhafter Weise erörtert. Aber bald darauf gab es in der Nachbarschaft der Schmiedewerkstatt eine Beißerei zwischen zwei Hunden und die Besucher glitten von ihren Sitzen wie Schildkröten herab und gingen mit einem Interesse, das fast an Eifer grenzte, zum Schlachtfeld. Der Squire blieb zurück und las seinen Brief. Dann seufzte er und saß lange ins Nachdenken versunken da. Von Zeit zu Zeit sagte er: »Missouri, Missouri. Nun, nun, nun, alles ist so unsicher.«

    Schließlich sagte er: »Ich glaube, ich werde es tun. Man würde hier ja geradezu verfaulen. Mein Haus, mein Hof – kurz und gut alles um mich herum zeigt, daß ich im Begriff bin, eines von diesen Rindviechern zu werden – und ich war doch in anderen Zeiten ein ordentlicher Mann.«

    Er war nicht älter als fünfunddreißig Jahre, aber er hatte ein ausgezehrtes Aussehen, das ihn älter erscheinen ließ. Er verließ den Holzstoß, trat in den Teil seines Hauses, welcher der Kramladen war, verkaufte einen Liter vom dicken Sirup und eine Tafel Bienenwachs für ein Waschbärenfell an eine, in selbstgewebtem Stoff gekleidete alte Frau, steckte seinen Brief weg und trat in die Küche. Hier war seine Frau gerade mit der Konstruktion von Apfelkuchen beschäftigt. Ein schmuddeliger Bengel von zehn Jahren träumte über einer plumpen Wetterfahne, die er selbst gebastelt hatte. Seine kleine Schwester, nahezu vier Jahre alt, tunkte Maisbrot in die Brühe, die in einer Bratpfanne zurückgeblieben war, wobei sie sich die Mühe gab, nicht über eine mit dem Finger gezogene und die Pfanne in der Mitte teilenden Grenze hinaus zu tunken, denn die andere Seite gehörte dem Bruder, dessen Grübeleien ihn für den Augenblick seinen Magen vergessen ließen. Eine Negerfrau³ war an einem gewaltigen Kamin mit Kochen beschäftigt. Mittellosigkeit und Armut herrschten an diesem Ort.

    »Nancy«, sagte Hawkins zu seiner Frau, »ich habe mich entschlossen. Die Welt ist mit mir fertig und vielleicht sollte ich auch mit ihr fertig sein. Aber schon gut – ich kann warten. Ich werde nach Missouri gehen. Ich will nicht in diesem toten Land hier bleiben und mit ihm verfaulen. Ich habe es schon eine Weile auf dem Herzen gehabt. Ich werde meinen Kram hier, einerlei, was ich dafür kriege, verkaufen und einen Wagen mit Gespann kaufen, dich und die Kinder draufsetzen und mich fortmachen.«

    »Wohin es dir zu gehen paßt, paßt es auch mir, Si. Und ich meine, mit den Kindern kann es in Missouri nicht schlechter als hier gehen.«

    Seine Frau zu einer Besprechung unter vier Augen in ihrem gemeinsamen Zimmer winkend sagte Hawkins: »Nein, sie werden besser dran sein. Ich habe hauptsächlich an sie gedacht, Nancy« Sein Gesicht leuchtete auf. »Siehst du diese Papiere hier? Nun, sie bekunden, daß ich siebzigtausend Morgen in diesem Landkreis als Eigentum belegt habe – denk mal, was für ein ungeheures Vermögen das eines Tages sein wird! Ach Nancy, ungeheuer drückt es nicht aus – das Wort ist zu schwach. Ich sage dir, Nancy…«

    »Um der Barmherzigkeit willen, Si…«

    »Warte, Nancy, warte – laß mich ausreden. Ich habe im Geheimen wochenlang aufgrund dieser großartigen Eingebung gekocht und geraucht und muß jetzt reden, sonst platze ich! Ich habe kein Wort verlauten lassen – keiner Seele – habe meine Verfassung unter Schloß und Riegel gehalten, aus Furcht etwas fallen zu lassen, das selbst diesen Tieren hier sagen könnte, wie die ihnen vor der Nase funkelnde Goldmine zu finden ist. Nun ist nichts weiter notwendig, um dieses Land zu halten und für die Familie zu bewahren, als daß wir jährlich die geringfügigen dafür fälligen Steuern – es sind fünf oder zehn Dollar – bezahlen. Der ganze Landstrich würde jetzt, wenn man ihn verkaufte, nicht mehr als den dritten Teil eines Cents pro Morgen einbringen, aber künftig werden Leute froh sein, den Morgen für zwanzig Dollar, fünfzig Dollar, einhundert Dollar zu kriegen. Was würdest du dazu sagen«, (hier dämpfte er seine Stimme zu einem Geflüster und schaute sich ängstlich um, ob nicht ein Horcher in der Nähe wäre) »wenn der Morgen tausend Dollar kostete? Nun, du magst große Augen machen und mich anstarren. Aber es ist so. Du und ich, wir mögen den Tag vielleicht nicht mehr sehen, aber sie werden ihn sehen. Merke es dir, ich sage, sie werden ihn sehen. Nancy, du hast von Dampfbooten gehört und hast vielleicht geglaubt, daß es welche gibt – natürlich hast du es geglaubt. Du hast gehört, wie diese Rindviecher hier dumme Witze über sie gerissen und sie Lüge und Schwindel genannt haben – aber sie sind keine Lügen und keine Schwindeleien, sie sind Wirklichkeit. Sie werden eines Tage noch wunderbarere Dinge sein, als sie es jetzt sind. Sie werden eine Revolution in den Weltfragen hervorrufen, vor der es einem schwindeln wird, wenn man sie betrachtet. Ich habe die Augen offen gehalten – ja ich habe die Augen offen gehalten, während andere Leute schliefen, und ich weiß, was kommt.

    Selbst du und ich, wir werden den Tag sehen, an dem Dampfboote diesen kleinen Turkey-River bis auf zwanzig Meilen zu unserem Land heraufkommen werden – und bei hohem Wasserstand werden sie es sogar ganz erreichen. Und das ist noch nicht alles, Nancy – es ist noch nicht die Hälfte. Es gibt noch ein größeres Wunder: die Eisenbahn! Diese Würmer hier haben noch nicht einmal davon gehört – und wenn sie davon hören, werden sie es nicht glauben. Aber es ist wieder eine Tatsache. Wagen, die über den Erdboden zwanzig Meilen in der Stunde hinfliegen – Himmel und Erde, denk dir mal, Nancy! Zwanzig Meilen in der Stunde! Es wirbelt einem der Kopf. Eines Tages, wenn wir, du und ich, in unseren Gräbern liegen, wird es eine Eisenbahn geben, die sich Hunderte von Meilen erstreckt – den ganzen Weg von den Städten der Nordstaaten bis nach New Orleans – und sie wird nicht weiter als dreißig Meilen entfernt von diesem Land vorbeigehen – vielleicht sogar ein Stück davon berühren. Ja, weißt du wohl, daß sie in einigen von den östlichen Staaten aufgehört haben, Holz zu verbrennen? – Und was denkst du wohl, was sie verbrennen? Kohle!« – Er neigte sich zu ihr hin und flüsterte wieder: »Es liegen in diesem Land ganz ungeheure Massen davon. Du kennst doch das schwarze Zeug, das aus der Böschung am Seitenbach heraustritt? – Gut, das ist es. Du hast es für Felsen gehalten, und das haben hier alle getan, und sie haben kleine Dämme und solche Dinge aus ihnen gebaut. Einer wollte einen Schornstein daraus bauen. Nancy, ich glaube, ich wurde im Gesicht so weiß wie ein Bettlaken. Warum? Nun, es hätte Feuer fangen und alles verraten können. Ich zeigte ihm, daß es zu bröckelig wäre. Dann wollte er ihn aus Kupfererz bauen – aus prächtigem gelben Erz, das vierzig Prozent Metall enthielt. Es liegen Vermögen auf Vermögen in Kupfererz auf unserem Land. Die Idee dieses Narren jagte mir einen Todesschrecken ein, einen Schmelzofen in seinem Hause einzurichten, ohne daß er es wußte – eine Idee, die ihm seine blöden Augen geöffnet hätte. Dann wollte er den Schornstein aus Eisenerz bauen. Es liegen hier Berge von Eisenerz, Nancy – ganze Berge davon. Ich wollte mich nicht auf den Zufall verlassen – ich hing mich ihm an die Fersen – ich verfolgte ihn – ich ließ ihn nicht mehr allein, als bis er ihn wie alle anderen Schornsteine in diesem traurigen Land aus Lehm und Holzknüppeln gebaut hatte. Fichtenwälder, Land für Weizen, Land für Mais, Eisen, Kupfer, Steinkohlen – warte bis die Eisenbahnen und die Dampfboote kommen! Wir werden den Tag niemals sehen – niemals, niemals in dieser Welt – nimmer, nimmermehr, Kind. Wir haben uns weiter zu placken und weiter und unsere Brotrinden in Mühsal und Armut zu essen, ohne Hoffnung und ohne Trost – aber sie werden in Kutschen fahren, Nancy. Sie werden leben wie die Fürsten der Erde, sie werden umworben und verehrt, ihre Namen werden von Ozean zu Ozean bekannt sein. Ach, lieber Gott! Werden sie jemals hierher zurückkommen, mit der Eisenbahn und dem Dampfboot und sagen: ›Dieses Fleckchen Erde soll unberührt bleiben – diese elende Hütte soll heilig gehalten werden – denn hier haben unsere Eltern für uns gelitten, für uns gedacht, die Fundamente unserer Zukunft so fest wie die Berge gelegt!‹«

    »Du bist eine große, gute, edle Seele, Si Hawkins, und ich bin damit geehrt, die Frau eines solchen Mannes zu sein«, sagte Frau Hawkins, und die Tränen standen ihr dabei in den Augen. »Ja, wir wollen nach Missouri gehen. Du bist hier unter diesen im Dunkeln tappenden dumpfen Kreaturen nicht an deinem Platz. Wir werden eine höhere Stelle finden, wo du mit deinesgleichen umgehen kannst, wo man dich verstehen wird, wenn du sprichst – und wo man dich nicht anstieren wird, als ob du mit fremden Zungen redest. Ich würde mit dir überall hingehen – überall hin in der weiten Welt. Ich wollte lieber, mein Körper würde verhungern, als daß dein Verstand in diesem einsamen Land hungerte und verkümmerte.«

    »Du sprichst ganz ehrlich, mein Kind. Aber wir werden nicht verhungern, Nancy. Weit davon entfernt. Ich habe einen Brief von Eschol Sellers – der eben jetzt ankam. Ein Brief, der – na, ich will dir eine Zeile daraus vorlesen.«

    Er flog aus der Stube. Ein Schatten verwischte den Sonnenschein auf Nancys Gesicht – es spiegelte sich Unbehagen darauf und Enttäuschung. Eine Reihe beunruhigender Gedanken begann ihr durch den Kopf zu gehen. Nichts davon laut sagend saß sie mit ihren Händen im Schoß da, dann und wann faltete sie dieselben, dann öffnete sie sie wieder, tippte die Spitzen der Finger aneinander, seufzte, nickte mit dem Kopf, lächelte, hielt gelegentlich damit inne und schüttelte den Kopf. Dieses Gebärdenspiel war der Ausdruck eines unausgesprochenen Selbstgesprächs, das ungefähr die folgende Gestalt hatte: »Ich fürchtete schon, daß es das sein würde – ja ich fürchtete es. Indem er uns in Virginia zu reichen Leuten machen wollte, brachte uns Eschol Sellers beinahe an den Bettelstab. Wir mußten uns in Kentucky niederlassen und von vorn anfangen. Indem er uns in Kentucky ein Vermögen zu verschaffen suchte, machte er uns wieder zu Krüppeln, und wir mußten hierher ziehen. Indem er uns hier reich machen wollte, brachte er uns fast ganz herunter. Er ist eine ehrliche Seele und meint es so gut wie nur jemand in der Welt, aber ich fürchte, ich fürchte, er ist zu flüchtig in seinen Berechnungen. Er hat prächtige Ideen, und die gute, großmütige Seele will immer ihre Chancen freigebig mit seinen Freunden teilen, aber es scheint, daß immer etwas in die Quere kommen und alles verderben muß. Niemals hab ihn für richtig ausgewogen gehalten. Aber ich mache meinem Mann keinen Vorwurf, denn ich weiß, wenn dieser Mann den Kopf von einem neuen Einfall voll hat, so kann er eine Maschine beschwatzen. Er wird jedem, der ihm zehn Minuten zuhören will, an diesen Einfall glauben machen – ja, ich glaube, er würde einen Taubstummen überzeugen und auf seine Seite bringen, wenn man ihn nur an eine Stelle setzte, wo er beobachten könnte, wie seine Augen sprechen und seine Hände die Erklärung geben. Was für einen Kopf er hat! Als er dort in Virginia auf die Idee kam, in aller Stille ganze Wagenladungen von Negern in Delaware, Virginia und Tennessee aufzukaufen, nachdem er Schriften unterschrieben hatte, sie ihm in einem Ort in Alabama abzuliefern, er sie anzunehmen und da drüben zu einem bestimmten Termin zu bezahlen hatte und in der Zwischenzeit ein Gesetz durchzubringen war, daß es ab einem gewissen Tag jedermann verboten sein sollte, Neger in den Süden zu verkaufen – so ungefähr lautete der Plan – gnädiger Himmel, was würde der Mann damals für eine Menge Geld verdient haben! Die Preise für Neger würden in die Höhe gegangen sein, viermal höher als die vorherigen. Aber nachdem er Geld damit vertan und schwer gearbeitet hatte, sie alle vertragsgemäß ausgeliefert waren und alles eben im besten Zuge war, konnte er die Gesetze nicht durchkriegen, und die ganze Geschichte purzelte um. Dort in Kentucky, wo er jenen alten Döskopp auflas, der zweiundzwanzig Jahre lang an einer Perpetuum-Mobile-Maschine herumerfunden hatte, sah Eschol Sellers auf den ersten Blick die Stelle, an der das Anbringen eines einzigen kleinen Zahnrades das Geschäft sichern würde. Jawohl, ich konnte es so klar wie den Tag sehen, als er um Mitternacht wie toll kam, uns aus dem Bett heraus hämmerte und uns die ganze Geschichte mit leisem Geflüster auseinandersetzte, während die Türen verriegelt waren und das Talglicht in einem leeren Faß brannte. Weltmeere voll Geld steckten in der Entdeckung – jeder konnte das sehen. Aber es kostete eine Menge Geld, dem alten Döskopp seine Erfindung abzukaufen. Und als sie das neue Zahnrad einsetzten, übersahen sie irgendwo etwas – und es war nicht zu gebrauchen. Das Ding, das so viel Mühe gekostet hatte, wollte nicht gehen. Der Einfall, den er hier hatte, sah wirklich so praktisch wie nur irgendwas in der weiten Welt aus. Und wie er und Si die Nächte aufblieben und bei herabgelassenen Vorhängen arbeiteten und ich Wache stand, um nachzusehen, ob keine Nachbarn in der Nähe wären! Der Mann glaubte ehrlich und aufrichtig, daß mit dem schwarzen harzigen Öl, das aus der Uferwand herausschwitzt, von der Si sagt, es wäre Erdöl, ein Vermögen zu erwerben wäre. Und er raffinierte es selbst, bis es fast wie Wasser war. Es brannte wirklich – das ist nicht zu leugnen – ich glaube, es wäre ihm mit der Lampe ganz gut geraten, die er sich hatte machen lassen, damals, als er ein Haus voller reicher Spekulanten zusammengetrommelt hatte, die ihm zusehen sollten. Nur, daß das Zeug mitten in seiner Rede losging und beinahe der ganzen Gesellschaft den Kopf weg riß. Ich bin noch nicht über den Kummer hinweg, den mir das verschwendete Geld machte. Ich bin ganz traurig darüber, daß Eschol Sellers jetzt in Missouri ist, aber ich war froh, als er ging. Ich möchte wissen, was sein Brief sagt. Aber natürlich ist er heiteren Inhalts. Er ist nie schweren Herzens – litt nie in seinem Leben Not – wüßte es nicht, wenn er welche hätte. Es ist bei diesem Mann immer Sonnenaufgang und helles, schönes Wetter – es wird bei ihm freilich auch nie Mittag – sondern die Sonne verschwindet und geht wieder auf. Kein Mensch existiert, der den Schlingel nicht leiden könnte, er meint es gar so gut – aber ich fürchte mich wirklich, wieder mit ihm zusammenzutreffen. Er ist natürlich darauf versessen, uns allen die Köpfe zu verrücken. Gut, da geht die alte Witwe Hopkins fort – es kostet ihr immer eine Woche, um eine Spule Zwirn zu kaufen und ein Knäuel Garn dafür zu geben. Vielleicht kann Si jetzt mit dem Brief kommen.«

    Und er kam wirklich.

    »Die Witwe Hopkins hat mich aufgehalten – ich habe gar keine Geduld mit solchem ermüdenden Volk. Nun hör, Nancy – hör mal auf das Folgende: ›Komm schnurstracks nach Missouri! Warte nicht erst noch lange und sorge dich nicht um einen guten Preis, sondern verkaufe deinen Kram für das, was du kriegen kannst. Komm her, sonst könnte es für dich zu spät werden. Schmeiß deine Siebensachen, wenn es notwendig ist, weg und komm mit leeren Händen her. Du wirst es niemals bereuen. Es ist die großartigste Gegend – das reizendste Land – die reinste Luft – ich kann es nicht ausdrükken, keine Feder kann ihm volle Gerechtigkeit zukommen lassen. Und es füllt sich mit jedem Tage mehr – die Leute kommen von überall her. Ich habe den großartigsten Gedanken auf Erden – und ich will dich daran teilnehmen lassen, denn wir haben genug und es bleibt noch übrig. Aber den Mund halten – nicht ein Wörtchen davon anmerken lassen – die Sache ganz für dich behalten. Du wirst sehen. Komm! – Rasch! – Hurtig! – Auf nichts warten.‹ Es ist der alte Junge, Nancy, ganz und gar der alte Junge! Nicht wahr?«

    »Ja, ich denke, es ist noch ein wenig von dem alten Klang in seiner Stimme. Ich glaube, du – du willst noch immer gehen, Si?«

    »Gehen? Nun, das will ich wohl meinen, Nancy. Es ist natürlich alles nur ne Chance, und die Chancen haben sich uns, wie ich zugeben will, nicht eben freundlich gezeigt, aber was auch dabei herauskommt, meine alte Frau, für dich ist gesorgt. Gott sei Dank!«

    »Amen!« kam es leise und ernsthaft.

    Und mit einer Rührigkeit und Plötzlichkeit, die Obedstown verblüffte und ihm fast den Atem nahm, beeilten sich die Hawkins in ihren Vorbereitungen, sodaß sie in vier kurzen Monaten damit fertig waren und in jene große geheimnisvolle Leere hinaus wanderten, die jenseits der Buckel von Tennessee lag.

    2

    Gegen Ende der dritten Tagesreise dachten die Wanderer gerade an das Aufschlagen ihres Lagers, als sie im Wald auf eine Blockhütte stießen. Hawkins hielt die Zugtiere an und betrat den Vorgarten. Ein etwa zehnjähriger Knabe saß, das Gesicht in seine Hände gebeugt, an der Tür der Hütte. Hawkins näherte sich und dachte, seine Schritte würden die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich lenken, aber das war nicht der Fall. Er machte einen Augenblick halt und sagte dann: »Komm, komm, kleines Kerlchen, du darfst nicht vor Sonnenuntergang einschlafen.«

    Mit dem Ausdruck der Ermüdung kam das kleine Gesicht aus den Händen heraus – ein Gesicht, an dem Tränen herabflossen.

    »Ach, das tut mir leid, das gesagt zu haben, mein Junge. – Sag mir, was gibt es denn?«

    Der Knabe deutete mit einer kaum sichtbaren Geste an, daß das, was ihn bekümmerte, im Haus sei, und machte Hawkins zum Vorbeigehen Platz. Dann ließ er sein Gesicht wieder in seine Hände fallen und wiegte sich hin und her wie jemand, dessen Kummer zu tief ist, um in Ächzen oder Stöhnen oder lautem Aufschreien Erleichterung zu finden. Hawkins trat hinein. Es war ein höchst ärmlicher Ort. Sechs oder acht Landleute beiderlei Geschlechts und mittleren Alters waren um einen Gegenstand in der Mitte der Stube gruppiert. Sie waren geräuschlos geschäftig und sprachen nur flüsternd. Hawkins nahm den Hut ab und trat näher. Ein Sarg stand auf ein paar Hockern. Die Nachbarn waren eben damit fertig geworden, die Leiche einer Frau hinein zu legen – einer Frau mit einem verhärmten, sanften Gesicht, das mehr den Ausdruck einer Schlafenden als einer Toten hatte. Eine alte Dame winkte Hawkins zur Tür und sagte ihm flüsternd: »Seine Mutter, das arme Kind! Starb letzte Nacht am Fieber. Es war ihr nicht zu helfen. Aber so ist es besser für sie – besser für sie. Ihr Mann und zwei andere Kinder starben im Frühjahr. Seitdem hat sie ihren Kopf nicht mehr aufrecht gehalten. Sie ging mit gebrochenem Herzen herum und hatte für nichts mehr Sinn, als für Clay – das ist der Kleine dort. Sie betete Clay an und Clay betete sie an. Sie schienen gar nicht zu leben, nur wenn sie zusammen waren, sich einander ansahen, einander liebevoll streichelten. Sie ist drei Wochen krank gewesen. Sie glauben gar nicht, was das Kind gearbeitet hat und wie es zum Doktor gelaufen ist und Medizin geholt hat und wie es die Zeiten nachgehalten hat, in der sie einzunehmen war, und die Nächte aufgeblieben ist und sie gepflegt und sie bei guter Laune zu erhalten versucht hat, wie ne erwachsene Person. Und letzte Nacht, wie es mit ihr immer mehr bergab ging und sie ihr Gesicht von ihm abwendete und ihn nicht mehr kannte, da wollte es einem das Herz brechen, als man sah, wie er auf das Bett hinaufstieg und seine Wange an die ihre legte und sie so jammervoll rief und wie sie nicht mehr antwortete. Aber nach und nach erholte sie sich ein bißchen und sah sich wild um, und dann sah sie ihn und sie tat nen lauten Schrei und riß ihn an ihre Brust und drückte ihn fest an sich und küßte ihn immer und immer wieder. Aber das nahm ihr die letzten armen Kräfte, die sie noch hatte, und so fielen ihr nach und nach die Augenlider zu, ihre Arme fielen herunter und dann sahen wir, daß es mit ihr aus war, die arme Frau! Und Clay, er – oh Gott, das arme mutterlose Kind! – ich kann davon gar nicht reden – ich kann davon gar nicht reden.«

    Clay war von der Tür verschwunden, aber er kam jetzt herein. Die Nachbarn traten ehrerbietig auseinander und machten ihm Platz. Er lehnte sich über den offenen Sarg und ließ schweigend seine Tränen fließen. Dann streckte er seine kleine Hand aus und glättete ihr das Haar und streichelte das tote Gesicht liebevoll.

    Nach einem Weilchen zog er die andere Hand, die er hinter sich gehalten hatte, hervor und legte der Toten drei oder vier wilde Blumen auf die Brust, beugte sich über sie und küßte die starren Lippen wieder und wieder. Dann wendete er sich ab und ging zum Haus hinaus, ohne jemanden von der Gesellschaft anzusehen.

    Die alte Dame sagte zu Hawkins: »Sie hatte diese Art Blumen immer gern. Er holte ihr jeden Morgen welche und sie küßte ihn immer dafür. Sie waren von irgendwoher aus dem Norden gekommen – sie hielt hier Schule. Der liebe Gott weiß, was nun aus dem armen Jungen werden soll. Kein Vater, keine Mutter nicht, auch keine Verwandten. Niemand, zu dem er gehen kann, niemand nicht, der sich um ihn kümmerte – und wir alle hier müssen uns doch so zusammennehmen, damit wir mit den großen Familien zurechtkommen.«

    Hawkins verstand. Alle Augen waren fragend auf ihn gerichtet. Er sagte: »Freunde, ich bin selbst nicht gut versorgt, aber dennoch möchte ich einer heimatlosen Waisen nicht den Rücken zukehren.

    Wenn er mit mir gehen will, werde ich ihm eine Heimat geben und mit Liebe für ihn sorgen. Ich werde für ihn tun, was ich erhoffte, daß es ein anderer für mein eigenes Kind täte, wenn es in Not wäre.« Einer nach dem anderen kamen die Leute auf ihn zu, drückten dem Fremden mit herrlichem Wohlwollen die Hand. Ihre Augen sagten, was ihre Hände ausdrücken und ihre Lippen nicht aussprechen konnten.

    »Wie ein wahrer Mensch gesprochen«, sagte einer.

    »Sie waren vor einer Minute noch ein Fremder für mich, aber jetzt nicht mehr«, sagte ein anderer.

    »Das heißt Brot auf das Wasser geworfen – der Herr wird es wiederkehren lassen zu seiner Zeit«, sagte die alte Dame, die wir vorher sprechen hörten.

    »Sie werden in meinem Hause campieren, so lange Sie sich hier aufhalten«, sagte jemand. »Wenn für Sie und ihre Leute nicht Platz genug ist, so wird mein Volk ausrücken und auf dem Heuboden campieren.«

    Ein paar Minuten später, während die Vorbereitungen für das Begräbnis erledigt wurden, erschien Herr Hawkins bei seinem Wagen, den kleinen Elternlosen an der Hand und erzählte seiner Frau alles, was sich begeben hatte, und fragte sie, ob er Unrecht daran getan hätte, ihr und sich selbst diese neue Sorge aufzubürden. Sie sagte: »Wenn du Unrecht getan hast, Si Hawkins, dann ist es ein Unrecht, das am Tage des Gerichts heller leuchten wird, als das Rechte, das mancher Mensch vor dir getan hat. Und es gibt keine dem gleichkommende Anerkennung, die du mir geben kannst, als daß du dies tust und erledigst und meine Zustimmung voraussetzt. Ja, komm her zu mir, du armer mutterloser Knabe, und laß mich dir deinen Kummer abnehmen und ihn dir tragen helfen.

    Als das Kind am Morgen erwachte, war ihm, als ob ein ruhiger Traum hinter ihm läge. Aber langsam nahm die Verwirrung in seinem Gemüt Gestalt an und er erinnerte sich seines großen Verlustes, der geliebten Gestalt im Sarg, seines Gesprächs mit dem großherzigen Fremden, der ihm eine Heimat anbot, des Begräbnisses, bei dem die Frau des Fremden ihn am Grab bei der Hand hielt, mit ihm weinte und ihm Trost zusprach. Und er erinnerte sich, wie diese neue Mutter ihn in dem benachbarten Farmhaus in sein Bett eingewickelt und ihm durch Liebkosungen die Erzählung von dem, was ihn bedrückte, entlockt und dann zugehört hatte, wie er sein Gebet sprach und ihm mit einem Kuß gute Nacht gesagt und ihn in einem Zustand verlassen hatte, in dem sein wundes Herz beinahe geheilt und sein gequälter Geist beruhigt war.

    3

    Was auch die sich langsam hinschleppende Reise für die übrigen Auswanderer gewesen sein mag, für die Kinder war sie ein Wunder und ein Entzücken, eine Welt voll Zauber, von der sie glaubten, daß sie mit den geheimnisvollen Zwergen und Riesen und Kobolden bevölkert sei, die in den Geschichten eine Rolle spielten, die die Negersklaven ihnen des Abends an dem vor Schauder erzitternden Küchenfeuer erzählt hatten.

    Nachdem sie fast eine Woche lang gewandert war, schlug die Gesellschaft ihr Lager in der Nähe eines ärmlichen Dorfes auf, das sich Haus für Haus zum hungrigen Mississippi hinabsenkte. Der Strom setzte die Kinder über Maßen in Erstaunen, sein Meilen breites Wasser kam ihnen in dem schattigen Zwielicht wie ein Weltmeer vor, und der unbestimmt sichtbare Saum von Bäumen am gegenüberliegenden Ufer wie der Rand eines Kontinents, den sicherlich vor ihnen noch niemand gesehen hatte.

    Onkel Dan‘l (ein Farbiger), vierzig Jahr alt, dessen Frau, Tante Jinny, dreißig Jahre, das junge Fräulein Emily Hawkins, kleiner Herr Washington Hawkins und kleiner Herr Clay, das neue Mitglied der Familie, setzten sich nach dem Abendbrot nebeneinander auf einen umgefallenen Baumstamm und betrachteten und besprachen den wundersamen Strom. Der Mond ging auf und segelte hoch oben durch einen Schleier flockiger Wolken. Der düstere Fluß fing merklich an, unter dem dünn verhüllten Licht zu glänzen. Eine tiefe Stille herrschte in der Luft, wurde in Abständen eher betont, als durch das Kreischen einer Eule, das Bellen eines Hundes oder das dumpfe Niederkrachen einer unterwühlten Uferstelle in der Ferne unterbrochen.

    Die kleine Gesellschaft, die auf dem Baumstamm versammelt war, bestand (zumindest, wenn wir an ihre Naivität, ihre ausgedehnte und umfangreiche Unwissenheit denken) aus lauter Kindern und die Bemerkungen, die sie über den Strom machten, entsprachen diesem Charakter. Eingeschüchtert von der Größe und Herrlichkeit der Szene glaubten sie, daß die Luft voll von unsichtbaren Geistern sei und die leichten Lüftchen von deren Flügelschlag herrührten, sodaß all ihr Geplauder einen Anflug des Übernatürlichen bekam und ihre Stimmen sich zu einem leisen und ängstlichen Flüstern dämpften. Plötzlich rief Onkel Dan‘l aus: »Kinners, da kommt was!«

    Alle rückten dicht aneinander und jedes Herz klopfte schneller. Onkel Dan‘l zeigte mit seinem knochigen Finger stromabwärts. Ein Geräusch wie ein tiefstimmiges Keuchen unterbrach die Stille in der Richtung auf ein bewaldetes Kap, das in der Entfernung von einer Meile in den Strom hinaus vordrang. Plötzlich schoß hinter dem Kap ein grimmiges Feuerauge hervor und entsendete einen langen glänzenden Strahl flimmernd quer über das düstere Wasser. Das Keuchen wurde lauter und lauter, das grell leuchtende Auge größer und immer größer, es blitzte wilder und immer wilder. Aus der dunklen Nacht ringsum entwickelte sich eine ungeheuerliche Riesengestalt und aus deren hohen Doppelhörnern quollen dichte Rauchwolken mit Funken und Sternchen untermischt hervor und wälzten sich in die fernere Finsternis fort. Immer näher und näher kam das Ding, bis seine Langseiten von Lichtflecken zu glühen begannen, die sich im Strom spiegelten und das Ungetüm dort wie ein Fackelzug begleiteten.

    »Was ist denn das? Oh, was ist das, Onkel Dan‘l?«

    Mit tiefer Feierlichkeit erfolgte die Antwort: »Es ist der Allmächtige! Fallt nieder auf eure Knie!«

    Es war nicht nötig, es zweimal zu sagen. Alle miteinander knieten augenblicklich. Und dann, während das geheimnisvolle Keuchen immer stärker und stärker wurde und sich das drohende grelle Leuchten weiter und breiter ausdehnte, erhob sich die Stimme des Negers zum Gebet: »Oh Herr, wir waren mächtig böse und wir wissen, daß wir eigentlich den schlimmsten Ort verdient haben. Aber guter, lieber Gott, wir sind noch nicht bereit, nicht bereit – laß diese armen Kinder es nochmal versuchen – ja nochmal versuchen. Nimm den alten Nigger, wenn du unbedingt jemanden nehmen mußt. – Guter Herr, guter, lieber Herr, wir wissen nicht, wo du hin willst, wir wissen nicht, auf wen du dein Auge geworfen hast, aber wir merken an der Art, wie du kommst, wir merken an der Art, wie du in deinem feurigen Wagen rumfährst, daß irgendwo ein armer Sünder was abkriegen soll. Aber guter Herr, diese Kinder gehören nicht hierher, kommen aus Obedstown, wissen von nichts und sind nicht verantwortlich. Und lieber Gott, guter Gott, es paßt nicht zu deiner Gnade, es paßt nicht zu deiner Barmherzigkeit, es paßt nicht zu deiner Langmut und Güte, wenn du die Lage von so kleine Leute ausnutzt, wo doch so viele erwachsene Leute ganz schön voll von Sünde sind, die da unten gebraten werden müssen. Oh Herr, verschone die kleinen Kinder, reiß die kleinen Kinder nicht weg von ihrem Freund, laß sie nur noch diesmal laufen und nimm dafür den alten Nigger. Hier bin ich, oh Herr, hier bin ich! Der alte Nigger ist parat, oh Herr, der alt…«

    Der flammende und aufwühlende Dampfer befand sich jetzt Seite an Seite mit der Gruppe und nicht einmal zwanzig Schritte von ihr entfernt. Der furchtbare Donner einer herabfallenden Klappe über dem Aschenkasten krachte los, erstickte das Gebet und plötzlich riß sich Onkel Dan‘l unter jeden Arm ein Kind, büxte in den Wald aus und die übrige Gesellschaft folgte ihm auf den Fersen. Dann aber machte er, sich in der tiefsten Dunkelheit sich vor sich selbst schämend, halt und schrie (allerdings recht kläglich): »Hier bin ich, Herr, hier bin ich!«

    Es folgte ein Augenblick ängstlicher Erwartung mit klopfenden Pulsen. Dann wurde zur Überraschung und zum Trost der Gruppe klar, daß die erhabene Erscheinung vorübergegangen war, denn das schreckliche Geräusch, das sie machte, entfernte sich. Onkel Dan‘l stellte sich an die Spitze einer vorsichtigen Auskundschaftung an einen Baumstamm. Es war ganz sicher, der Herr wendete sich eben um eine Sandspitze eine kleine Strecke stromaufwärts, und während sie noch hinsahen, blinzelten die Lichter zum letztenmal. Das Keuchen nahm nach und nach an Hörbarkeit ab und hörte bald ganz auf.

    Bscht! Na seht mal, da gibt‘s Leute, die sagen, daß das Beten nichts helfen täte. Ich möchte wohl wissen, wo wir hingeraten wären, wenn das Gebet nicht gewesen wär. Das war‘s, das war‘s!«

    »Onkel Dan‘l, denkst du, daß uns das Gebet gerettet hat?« fragte Clay.

    »Ob ich denke? Weiß ich‘s denn nicht? Wo hattest du deine Augen? Kam denn nicht der Herr soeben – Wuff ! Wuff ! Wuff ! – und ganz fürchterlich schnell heran gesaust – und treibt es denn der Herr so, wenn nichts da ist, was ihm nicht gefällt? Und sah er sich denn nicht nach dieser unserer Gesellschaft hier um und langte er denn nicht schon nach sie? Und denkst du denn, er würde sie laufen gelassen haben, wenn ihn nicht einer drum gebeten hätte. Nein, gewiß nicht.«

    »Denkst du, daß er uns sah, Onkel Dan‘l?«

    »Aber, wie du nur redest, Kind, sah ich denn nicht, wie er ein Auge auf uns hatte?«

    »Hattest du Angst, Onkel Dan’l?«

    »Nein. Wenn man mit Beten zu tun hat, fürchtet man sich vor nichts nicht – sie können einem dann nichts anhaben.«

    »Nun, aber warum bist du denn ausgerissen?«

    »Na, ich – ich – kleiner Herr Clay, wenn einer unter dem Einfluß des Geistes ist, dann weiß er nicht, was er tut. Man könnte so einem den Kopf abreißen, er würde es kaum merken. Da sind die hebräischen Kinder, die gingen durch das Feuer – sie verbrannten sich dabei sehr bedeutend – natürlich sehr bedeutend, aber sie selber wußten nichts davon. Wenn sie Mädels gewesen wären, würden sie vielleicht ihre langen Haare vermißt haben, aber den Brand hätten sie nicht gefühlt.«

    »Ich weiß nicht, mir ist, als wären es wirklich Mädchen gewesen. Ich denke es waren welche.«

    »Hör mal, kleiner Herr Clay, du weißt das besser. Manchmal kann man nicht sagen, ob du sagst, was du meinst, oder ob du sagst, was du nicht meinst, weil du immer beides auf dieselbe Art sagen tust.«

    »Aber woher sollte ich denn wissen, ob es Jungen oder Mädchen waren?«

    »Ach du meine Güte, kleiner Herr Clay, sagt das denn nicht das gute Buch. Nennt es sie denn nicht die hebräischen Kinder? Wenn es Mädchens gewesen wären, würde es da nicht die hebräischen Mädchen heißen? Manche Leute, die lesen können, scheinen nicht acht zu geben, wenn sie lesen.«

    »Na, Onkel Dan‘l, ich denke, daß – mein Gott da kommt wieder einer den Fluß herauf ! Aber es können doch nicht zwei sein!«

    »Wir sind diesmal verloren – wir sind diesmal gewiß verloren! Es gibt keine zwei, kleiner Herr Clay – das ist derselbe. Der Herr kann überall erscheinen in einer Sekunde. Ach du meine Güte, wie das Feuer und der Rauch in die Höhe wirbeln! Das bedeutet, daß er was vorhat, Kinderchen. Er kommt jetzt, wie wenn er was vergessen hätte. Kommt Kinder, es ist Zeit, daß ihr euch auf die Socken macht. Fort, lauft, der alte Onkel Dan‘l wird in die Wälder gehen, um im Gebet zu kämpfen – der alte Nigger wird tun, was er kann, um euch zu retten.«

    Er ging wirklich in die Wälder und betete, aber er ging so weit, daß er selber bezweifelte, ob der Herr ihn hören würde, wenn er vorüber ginge.

    4

    Früh am Morgen kaufte Squire Hawkins in einem kleinen Dampfboot Fahrkarten für sich, seine Familie und seine beiden Sklaven. Bald darauf läutete die Glocke, die Planke für die Postpassagiere wurde eingezogen und das Fahrzeug trat seinen Weg flußaufwärts an. Die Kinder und die Sklaven fühlten sich, nachdem sie herausgefunden hatten, daß dieses Ungetüm ein Geschöpf von Menschenhand war, nicht viel behaglicher als in der Nacht zuvor, als sie es für den Herrn von Himmel und Erde gehalten hatten. Sie fuhren jedesmal vor Scheck zusammen, wenn die Dampfventile ein grimmiges Zischen entsendeten, und sie zitterten vom Kopf bis zu den Füßen, wenn die Aschenklappen donnerten. Das Erbeben des Bootes unter den Schlägen der Räder war das reine Elend für sie.

    Aber natürlich nahm ihnen das Vertrautwerden mit diesen Dingen bald den Schrecken. Dann wurde die Reise auf dem Wasser im Nu ein glorreiches Unternehmen, eine königliche Fahrt mitten durch das innerste Herz und die Heimat der Romantik, eine Verwirklichung ihrer rosigsten Wunderträume.

    Sie saßen stundenlang im Schatten des Lotsenhauses auf dem Hinterdeck und blickten hinaus auf die sich windende Wasserfläche des Stroms, die im Sonnenlicht funkelte. Bisweilen kämpfte das Boot mit der Strömung mitten im Fluß, von der grünen Welt an beiden Ufern weit entfernt.

    Bisweilen hielt es sich dicht an einer Landspitze bei stillem Wasser und hilfreichen Strudeln und glitt so nahe am Ufer dahin, daß das Deck von dem Zweiggeflecht überhängender Weiden gefegt und mit abgerissenen Blättern bestreut wurde. Wendete es sich von diesen Landspitzen ab, so kreuzte es den Fluß regelmäßig alle fünf Meilen, indem es die Buchten der großen Biegungen vermied und so der starken Strömung entging. Zuweilen schoß es hinaus und fuhr entlang des Saums einer hohen felswandartigen Sandbank in der Mitte des Stroms und kam ihr gelegentlich ein wenig zu nah, berührte im seichten Wasser ihr oberes Ende – dann

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