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Der Aufruhr der Ausgebildeten: Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung
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eBook277 Seiten3 Stunden

Der Aufruhr der Ausgebildeten: Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung

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Über dieses E-Book

Das Jahr 2011 war das Jahr der unerwarteten und sich weltweit immer weiter ausbreitenden Proteste. In verschiedenen arabischen Ländern haben Demonstranten so lange aufbegehrt, bis sie ihre Regime zu Fall gebracht und deren Potentaten verjagt hatten. Und seitdem in Manhattan die Bewegung "Occupy Wall Street" entstanden ist, scheint das Aufbegehren nun auch im Epizentrum des internationalen Finanzkapitals angekommen zu sein. Die Protestaktionen gegen das Banken- und Finanzsystem sind zudem mittlerweile auf alle anderen Erdteile übergesprungen; inzwischen wird in mehr als 1000 Städten in über 80 Ländern demonstriert. Millionen sind auf die Straße gegangen und fordern eine wirksame Politik zur Kontrolle der Finanzmärkte und zur Bekämpfung der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Auch wenn es in Deutschland bislang nur Zehntausende waren, so ist auch hier der Impuls der Occupy-Bewegung angekommen. Noch nie zuvor ist eine Protestbewegung hierzulande von der Bevölkerung, zu Teilen aber auch von der Politik, so sehr begrüßt worden. Ihr Ziel, die Macht der Banken zu beschneiden, wird von über 80 Prozent der Deutschen geteilt. Was ist das aber für eine Bewegung? Wer sind ihre Akteure, was sind ihre Ziele und was macht ihre Erfolgsaussichten aus? Haben sie wirklich eine Chance, die destruktiven Dynamiken der internationalen Finanzmärkte einzudämmen oder gar aufzuhalten?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Okt. 2012
ISBN9783868545616
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    Buchvorschau

    Der Aufruhr der Ausgebildeten - Wolfgang Kraushaar

    2012

    I Ein junger Mann namens Mohammed

    Auch an diesem Freitagmorgen – es ist der 17. Dezember 2010 – wartet er im Zentrum der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid auf seine Kunden. Er heißt Mohammed Bouazizi, ist 26 Jahre alt, soll zwar das Abitur gemacht, aber wegen mangelnder finanzieller Voraussetzungen nicht studiert haben können. Mehrfach hatte er versucht, bei der Armee unterzukommen oder irgendeine andere staatliche Stelle zu bekommen. Doch vergeblich. In seiner Perspektivlosigkeit war er sogar entschlossen, sein Heimatland zu verlassen. Aber auch diese Versuche, entweder per Schiff nach Sizilien oder auf dem Landweg nach Libyen zu gelangen, waren misslungen. Jedes Mal wurde er von der Grenzpolizei abgefangen. Das erste Mal musste er zur Strafe zwei Wochen im Gefängnis verbringen, das zweite Mal gleich ein halbes Jahr.

    Als fliegender Obst- und Gemüsehändler, der seine Waren von einem Holzkarren aus anbietet, ist er seit dem Tod des Vaters der Haupternährer seiner Familie – der Mutter wie seiner fünf jüngeren Geschwister. Da er jedoch über keine Genehmigung verfügt, zeichnet sich wie schon an anderen Tagen zuvor ein Problem ab. Als kurz nach 11 Uhr die Polizistin Faida Hamdi erscheint, um sich nach den erforderlichen Papieren zu erkundigen, muss er passen. Als Vertreterin des Ordnungsamtes ist die 45-Jährige gezwungen, ihm den Handel zu untersagen. Da der junge Tunesier in der Vergangenheit bereits mehrmals mit den Ordnungskräften in Konflikt geraten ist, geht sie sogar so weit, sein Obst und Gemüse zu beschlagnahmen.

    Was danach in der 250 Kilometer südlich von Tunis gelegenen und rund 40000 Einwohner zählenden Provinzstadt genau geschehen ist, lässt sich später nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren.² Von vielen Einwohnern wird behauptet, dass Bouazizi die Maßnahme nicht akzeptiert habe. Schließlich sei ein Streit entstanden, in dessen Verlauf die – für einen Straßenhändler einen ganz besonderen Wert repräsentierende – Waage konfisziert worden sei und die Beamtin dem jungen Mann obendrein auch noch eine Ohrfeige gegeben habe. Doch für diese und andere nur wenig abweichende Darstellungen gibt es keine Augenzeugen.

    Unstrittig ist hingegen, dass sich Bouazizi nach dem Zwischenfall zur Präfektur begibt, um seine Waage zurückzuverlangen. Als ihm das nicht gelingt, will er einen Vorgesetzten sprechen. Doch auch das wird ihm versagt. Frustriert, vielleicht auch zornig geht er nach Hause. Kurz darauf, es ist inzwischen Mittag, zieht er aus Protest mit seinem Holzkarren vor den Sitz des Gouverneurs. Dort nimmt er eine offenbar mit Benzin gefüllte Flasche in die Hand, ergießt sie über seinem Kopf und setzt sie in Brand. Der 26-Jährige steht wie eine lodernde Fackel vor dem Gouverneurssitz. Die Passanten sind schockiert, können aber nicht mehr rechtzeitig eingreifen. Als die Flammen erstickt sind, gibt es an dem Körper kaum noch Partien, die nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sind.

    Einer der Augenzeugen alarmiert per Mobiltelefon Bouazizis Cousin Ali, einen Supermarktbetreiber, der sofort zum Ort des Geschehens eilt. Als er dort eintrifft, bekommt er gerade noch mit, wie Mohammeds von den Flammen entstellter Körper auf eine Trage gehievt und von einem Krankenwagen abtransportiert wird. Geistesgegenwärtig nimmt er die gespenstisch anmutende Szene mit seinem Smartphone auf. Zusammen mit Aufnahmen von protestierenden Jugendlichen wird die Sequenz von einem seiner Freunde, nachdem dieser die Bilder ein wenig zusammengeschnitten und mit Musik unterlegt hat, auf facebook geladen und noch am selben Abend von dem arabischen TV-Sender Al Jazeera ausgestrahlt.

    Der Nachrichtenkanal führt dazu ein Interview mit Ali Bouazizi, der so vor einem Millionenpublikum über den tragischen Fall seines Cousins berichtet. Der habe zwar ein Diplom gemacht, behauptet er, aber keine entsprechende Arbeit finden können, sei in einen Streit verwickelt und vor seiner Selbstverbrennungsaktion von der Polizei verprügelt worden. Der Sendebeitrag insgesamt wird anschließend wieder auf facebook gestellt. Durch diese mediale Kombination verbreitet sich das Drama des 26-Jährigen aus Sidi Bouzid in Windeseile. Das schreckliche Ereignis wird binnen weniger Stunden für arabische Jugendliche, die sich in einer ähnlich perspektivlosen Situation befinden, zum Fanal. Bereits am Tag darauf beginnen junge Leute auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Mohammed Bouazizi ist ihr Idol.

    Während in vielen christlichen Ländern dem Weihnachtsfest entgegengefiebert wird, brechen in verschiedenen Teilen Tunesiens Unruhen aus. Tausende junger Leute protestieren gegen die hohen Lebensmittelpreise, die anhaltende Arbeitslosigkeit und die Inaktivität ihrer Regierung. In einem in der Nähe von Sidi Bouzid gelegenen Ort gehen die Sicherheitskräfte am 24. Dezember besonders rigoros gegen Demonstranten vor. Zwei von ihnen werden von der Polizei erschossen. In ironischer Weise bezeichnen die Demonstranten ihren Aufstand als »Jasmin-Revolution«. Sie verwenden absichtlich dasselbe Etikett, das ihr Regent, der 75-jährige Zine el-Abidine Ben Ali, gebraucht hatte, um seine am 7. November 1987 erfolgte Machtergreifung zu beschönigen. Indem nun auch die Aufständischen von einer »Jasmin-Revolution« sprechen, diese Metapher sozusagen okkupieren, beanspruchen sie, einen solch blumigen Ausdruck für ihre politischen Vorhaben allein rechtmäßig im Mund zu führen.

    Am 28. Dezember kommt es dann zu einer denkwürdigen Begegnung. Im Krankenhaus von Ben Arous trifft Präsident Ben Ali mit einem Tross an Sicherheits- und Gefolgsleuten ein, um den schwerverletzten jungen Mann aus Sidi Bouzid, um den sich ein großer Teil der tunesischen Gesellschaft sorgt und über dessen Schicksal die ganze arabische Welt informiert ist, zu besuchen. Das Ganze wirkt jedoch wie eine Inszenierung. Denn mit Bouazizi kann niemand mehr sprechen, auch der Präsident nicht. Sein Körper ist von Mullbinden so weit eingehüllt, dass der 26-Jährige eher wie eine Mumie wirkt, die man aus einer ägyptischen Pyramide hervorgeholt hat. Lediglich im Mundbereich ist eine Öffnung zu erkennen, die mit Schläuchen verbunden ist. Ben Ali, der sich von seinem theatralischen Akt offenbar verspricht, dass von ihm eine gestisch-propagandistische Wirkung zur Eindämmung der Unruhen ausgeht, lädt Bouazizis Mutter in seinen Palast ein und macht ihrer Familie ein Geldgeschenk in Höhe von umgerechnet rund 10000 Euro. Und er präsentiert der Öffentlichkeit – im Sinne eines Ablenkungsmanövers – eine für das Unglück des jungen Mannes Schuldige.

    Während Ben Ali seine Goodwill-Aktion in Szene setzt, wird in Sidi Bouzid die Polizeibeamtin Faida Hamdi festgenommen und nach Gafza in eine Gefängniszelle gebracht. Dort bleibt sie – ohne dass es irgendwelche Beweise für ihren tätlichen Übergriff gibt – wochenlang eingesperrt, ohne einem Untersuchungsrichter vorgestellt worden zu sein. Auch in diesem Fall bewegt sich die vom Regime geübte Rechtspraxis außerhalb der von einem Rechtsstaat als verbindlich geltenden Normen.

    In der Zwischenzeit versuchen andere an ihrer Situation verzweifelnde junge Leute Bouazizis Vorbild nachzueifern. Zunächst zündet sich in Ariana ein 17-jähriger Schüler an, der zuvor eine Demonstration organisiert hat. Als er vom Direktor seiner Schule herbeizitiert wird, schüttet er sich in dessen Büro ein Lösungsmittel über den Kopf und zündet es an. Wie der Vertreter einer Lehrergewerkschaft bekannt gibt, ist er nur kurze Zeit später in einem Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen. Anders ergeht es einem gleichaltrigen arbeitslosen Jugendlichen in Kasserine. Als er sich mit Benzin übergießt und anzündet, gelingt es Passanten, die Flammen noch rechtzeitig zu ersticken. Er kommt mit leichteren Verletzungen davon. Es wird jedoch nicht die letzte derartig spektakulärer Verzweiflungstaten bleiben.

    Für Mohammed Bouazizi – darin sind sich die Mediziner von Anfang an einig – gibt es keine Rettung mehr. Am 4. Januar 2011 erliegt der junge Tunesier schließlich im Krankenhaus von Ben Arous seinen schweren Verletzungen. An seiner Beerdigung beteiligen sich über 5000 Menschen. Die Menge der Trauernden bildet selbst eine Manifestation des Protests. Einer ihrer Sprecher, ein junger Mann namens Attia Athmouni, beschreibt noch einmal, wie alles geschah und wie Mohammed Bouazizi schließlich im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Das schmucklose Grab liegt außerhalb der Stadt. Es ist umgeben von Kakteen, Oliven- und Mandelbäumen.

    Tage-, ja wochenlang wird das Haus der Bouazizis nun von Reportern aus aller Welt belagert. Die Journalisten wollen eine möglichst anschauliche Darstellung der Geschichte haben, die für sie als Fanal wie als Geburtstunde der »Jasmin-Revolution« gilt. Zwei seiner Geschwister, sein Bruder Salem und seine Schwester Leila, widersprechen der von der Presse verbreiteten Darstellung, ihr Bruder habe Selbstmord verübt. Leila erklärt, er habe die Schande nicht ertragen können, von einer Frau geohrfeigt worden zu sein. Deshalb habe er sich mit Benzin übergossen. Dabei sei aus Versehen ein Funke übergesprungen und habe den Brand entfacht. Das schreckliche Ereignis sei kein Suizid, sondern ein Unfall gewesen. Damit würde das am weitesten verbreitete Deutungsmuster hinfällig, Mohammed habe sich aus Protest gegen die Verhältnisse in seinem Land, die Willkür der Polizei, die Perspektivlosigkeit der Jugend, die horrende Arbeitslosigkeit, den Mangel an Freiheitsrechten und anderes mehr das Leben genommen. Die Familie Bouazizi, so betonen die beiden Geschwister, sei völlig unpolitisch. Doch die Zweifel an dieser Darstellung liegen auf der Hand. Wahrscheinlich können die Geschwister einen Selbstmordakt deshalb nicht akzeptieren, weil er im Islam einen schweren Verstoß gegen den Glauben darstellt.

    Durch die zahlreichen Interviews stellt sich aber auch heraus, dass einige der über Mohammed verbreiteten Informationen Stilisierungen oder schlicht Unwahrheiten darstellen. So versichern seine Mutter ebenso wie seine fünf Geschwister, dass er kein Abitur gemacht habe, geschweige denn studieren wollte. Als sein Vater starb, war er erst 14 Jahre alt und offenbar froh, dass er noch die mittlere Reife absolvieren konnte. Weil seine Familie bitterarm war, musste er Geld nach Hause bringen. Deshalb besorgte er sich einen Holzkarren und eine Waage. Auf einem Großmarkt kaufte er allmorgendlich Obst und Gemüse, zog dann vier Kilometer weit bis ins Zentrum von Sidi Bouzid und versuchte dort die Lebensmittel unter die Leute zu bringen. Von seinen Einkünften, die in der Woche nicht mehr als umgerechnet 40 Euro betragen haben sollen, lebte die gesamte Familie. Da er keine Lizenz besaß und deshalb ständig mit Ordnungskräften aneinandergeriet, war der Konflikt, der am 17. Dezember zur Eskalation führte, in gewisser Weise von Anfang an vorherbestimmt. Eines – darin stimmen die ansonsten so stark divergierenden Berichte überein – darf unabhängig von der Frage, ob er von der Polizistin geohrfeigt worden ist oder nicht, wohl als gesichert gelten: Mohammed Bouazizi hatte sich von den offiziellen Stellen seiner Stadt schikaniert, gedemütigt und in seinem Stolz verletzt gefühlt. Ein halbes Jahr vor seiner Selbstverbrennung, meldete Al Jazeera, habe die Polizei sogar eine Geldstrafe von umgerechnet 124 Euro gegen ihn verhängt, das Äquivalent für nicht weniger als drei seiner Monatseinnahmen.

    Mittlerweile weiten sich die Unruhen immer weiter aus. Die jungen Leute treten mit einem unerwarteten Selbstbewusstsein auf und skandieren ein ums andere Mal: »Nieder mit Ben Ali!«, »Ben Ali muss weg!« Gleichzeitig gehen die Sicherheitskräfte immer brutaler vor. Demonstrationen in Kasserine, Thala, Rgueb, Meknessi, Feriana, Kairouan und Sousse werden von der Polizei mit Waffengewalt aufgelöst. Dabei kommen offiziellen Angaben zufolge 14 Menschen ums Leben; in Berichten westlicher Presseagenturen ist dagegen von 23 Todesopfern die Rede, und auf einer von der Menschenrechtsorganisation Nationaler Rat für Freiheit in Tunesien (CNLT) vorgelegten Liste werden gar die Namen von 50 Toten aufgeführt. Am 11. Januar greifen die Proteste auf die Hauptstadt Tunis über. Sie sind so stark und umfangreich, dass sich das Regime genötigt sieht, Universitäten und Schulen zu schließen. Man will offenbar verhindern, dass staatliche Einrichtungen zu einem Hort der Unruhe werden.

    An den beiden darauffolgenden Tagen macht Ben Ali einige Zugeständnisse, um die Protestierenden zu beschwichtigen. Zunächst verspricht er die Freilassung von Demonstranten und die Einrichtung einer Kommission, die die landesweit angeprangerten Korruptionsfälle untersuchen, strafrechtlich verfolgen und künftig möglichst unterbinden soll. Dann kündigt er an, dass die Sicherheitskräfte nicht mehr auf Protestierende schießen würden und er bei den für 2014 vorgesehenen Wahlen nicht mehr kandidieren werde.

    Doch keiner dieser Schritte scheint zu einer Entspannung zu führen. Der Unmut ist unverändert stark. In den Blogs heißt es inzwischen: »Es gibt kein Zurück mehr.« Die Proteste gehen unverändert weiter. Ben Ali resigniert schließlich, gibt am 14. Januar den Machtkampf auf und flieht nach Saudi-Arabien. Ein Regierungssprecher verkündet, dass die Regierung aufgelöst worden sei, und kündigt die Durchführung von Neuwahlen für den Zeitraum innerhalb der nächsten sechs Monate an. Die Amtsgeschäfte des Präsidenten werden zunächst noch zusätzlich von Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi wahrgenommen. Kurz darauf setzt der tunesische Verfassungsrat den Parlamentspräsidenten Fouad Mebazaâ für die Übergangszeit als geschäftsführendes Staatsoberhaupt ein.

    Am selben Tag, an dem sich Ben Ali Hals über Kopf absetzt, veröffentlicht der in der Schweiz erscheinende Tages-Anzeiger unter der Überschrift »Sidi Bouzid, mon amour« einen emotionsgeladenen Text. Er stammt von einem Autor namens Taoufik Ben Brik, einem tunesischen Journalisten und Regimekritiker, der ein halbes Jahr im Gefängnis saß. Seine Worte vermitteln etwas von den in dem nordafrikanischen Land unter Jugendlichen bereits so lange aufgestauten Gefühlen. Sie wirken wie ein Manifest der Namenlosen.

    »Es brauchte Männer wie Bäume, um meinem Land Sauerstoff zuzuführen. Um die Straßen anzuzünden, zu entflammen. Tunesien hatte keine Seele mehr, keinen Notausgang. Und Sidi Bouzid stand wie ein Mahnmal für die Verzweiflung: einige Häuserhaufen um eine drei Kilometer lange Hauptstraße in der ärmsten Region Tunesiens. Sidi Bouzid ist so hässlich, so trostlos, so voll von Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, dass man als Bewohner jeden Tag verdammte, an dem man in diesem Ort aufwachte. Doch es fehlte den Menschen die Kraft, sich gegen das aufzulehnen, was sich wie eine ewige Fatalität anfühlte: gegen Hunger, Wucher, Repression. Kinder haben auf eine Mauer von Sidi Bouzid diesen Satz geschrieben: ›Seit zwanzig Jahren säen wir Scheiße.‹ Bis zu diesem hehren Tag, als Tunesien erwachte. In Sidi Bouzid, ausgerechnet. Niemand kann sich genau erklären, wie es zur Explosion kam, aber was erfüllt sie uns mit Freude! Mohammed Bouazizi kam aus Sidi Bouzid. Der junge, arbeitslose Mann übergoss sich auf offener Straße mit Benzin und zündete sich an, er starb an den Verletzungen. So sehr litt er unter den täglichen Demütigungen. War er etwa der Prophet, der brennende Mohammed in einem Land ohne Seele? Seine extreme Geste war ein Schock, ein Weckruf. Es brauchte Männer wie ihn, Männer wie Bäume, um dem Volk Mut zu machen, die Angst zu überwinden, die Eselshaut vom Körper zu reißen, die man uns übergestreift hatte. Die Kinder der Intifada von Sidi Bouzid gehören keiner Partei an, keiner Gewerkschaft. Sie identifizieren sich mit Mohammed Bouazizi. Sie erkennen sich in dessen Schicksal. Sie lehnen sich auf gegen dieses triste Leben ohne Ziel. Sie haben erlebt, wie ihre Väter und Großväter erniedrigt wurden, wie sich deren Rückgrat langsam beugte. Lange schien es, als hätten sie keine Kraft mehr für die Revolution. Obschon sie den Hass ihrer Vorfahren geerbt hatten, den Frust und den Abscheu. Nun bricht es aus ihnen heraus. Für die Kinder von Sidi Bouzid und für die Kinder Tunesiens sind das Tage der Trunkenheit. Sie wollen endlich mit erhobenem Haupt leben können.«³

    Da die Proteste in Tunesien nicht abklingen und der politische Druck weiter anhält, erlässt der tunesische Justizminister am 26. Januar gegen Ben Ali, dessen Ehefrau Leila Trabelsi und andere Familienmitglieder einen internationalen Haftbefehl und bittet zu diesem Zweck auch Interpol um Mithilfe. Rund drei Wochen später geht das tunesische Außenministerium noch einen Schritt weiter und ersucht die Regierung Saudi-Arabiens um die Auslieferung des einstigen Präsidenten. Über ihn heißt es inzwischen, dass er einen Hirnschlag erlitten hätte und im Koma liege. Für diese Nachricht gibt es jedoch keine offizielle Bestätigung. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich dabei lediglich um den Versuch handelt, zu verhindern, dass Ben Ali vor Gericht gestellt und wegen seiner Untaten verurteilt werden kann. Genau das beabsichtigt jedoch die tunesische Regierung. Tunesiens amtliche Nachrichtenagentur TAP meldet wiederum ein paar Wochen später, dass gegen Ben Ali und seine Frau Anklage wegen »Verschwörung gegen die innere Sicherheit« erhoben worden sei. Zu den 18 Anklagepunkten gehörten auch »Anstiftung zu Chaos, Mord und Plünderung«. Laut Justizministerium wurden gegen Ben Ali auch Klagen wegen Drogenkonsums, Drogenhandels und Mordes eingereicht.

    Es erscheint geradezu unglaublich. Der Selbstmord eines jungen Straßenhändlers löst in Tunesien einen Aufruhr aus, der sich wie ein Flächenbrand über die meisten arabischen Staaten ausbreitet und schließlich als »Arabischer Frühling« Tausende junger Leute in den unterschiedlichsten Ländern und Erdteilen dazu ermuntert, ebenso gewaltlos wie fantasievoll gegen die Bankenkrise und soziale Ungerechtigkeit zu protestieren. Ein junger Araber hat vermutlich ganz unfreiwillig für eine globale Welle des Protests gesorgt. Er selbst vereinigte in seiner Person alle Momente, die im Lauf der darauffolgenden Monate noch eine herausragende Rolle spielen sollten: Schulbildung, soziale Deprivation, berufliche Perspektivlosigkeit.

    Das Europäische Parlament hat ihn inzwischen mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet. Und die in London erscheinende Times, eine der renommiertesten Tageszeitungen der Welt, ernannte ihn zur »person of the year«.

    II Die Schauplätze

    In der Geschichte der Städte repräsentieren Plätze nicht nur die Zentren der Gesellschaft, auf denen Versammlungen und Märkte durchgeführt wurden, sondern häufig auch die Ausgangspunkte für Revolten und Rebellionen. Das war so mit der Place de la Concorde in Paris, die unter Ludwig XV. ursprünglich als Place Royale geschaffen, dann 1792 in Place de la Révolution umbenannt worden war. Das galt auch für den Platz des Himmlischen Friedens in Peking, wo chinesische Studenten etwa 1919 dagegen demonstrierten, dass ihr Land durch den Versailler Vertrag einem japanischen Protektorat unterstellt wurde. Plätze besaßen eine merkantile, eine öffentliche und häufig auch eine politische Funktion. Sie waren eine Art Wetterstation für die in der Bevölkerung vorherrschende Stimmung, sie waren potenziell aber immer auch für diejenigen ein Forum, die mit ihrer Lage unzufrieden waren und auf Veränderung drangen.

    Das war im Zuge des Arabischen Frühlings und der Occupy-Bewegung nicht anders. Fast überall sind es

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