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Die Mitläuferin: Ein Leben in zwei Deutschländern
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Die Mitläuferin: Ein Leben in zwei Deutschländern
eBook298 Seiten4 Stunden

Die Mitläuferin: Ein Leben in zwei Deutschländern

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Über dieses E-Book

Dörte, die Heldin der Handlung und mediale Erzählerin, steht vor einer, alle bisherigen Dimensionen sprengenden Konfliktsituation, einem Wendepunkt ihres Lebens. Sie erinnert sich, wie alles begann, woher sie kommt, was sie prägte, wie sie aufging in der Zweisamkeit mit einem Partner und zu sich fand, wie sie zusammen mit ihrem Mann alles aufgibt, aufbricht zu nie erfahrenen Ufern und ankommt in einem neuen Leben.
In einer novellistischen Reflexion erzählt sie locker und leicht, naiv und phantastisch über das Leben einer Akademikerin in der DDR, gestaltet ein Frauenbild, das typisch zu sein scheint und den unglaublichen Wandel, der in ihr vorgeht, nachvollziehbar macht. Gleichzeitig vermittelt sie dem Leser plausibel, wie ein selbständiges Leben in der DDR möglich war und doch dazu führte, die DDR zu verlassen. Sie erzählt, wie die Flucht geplant wurde, diese über Ungarn von der Pleiße an die Isar führt und wie sie ankommt in einem anderen Land. Erneut stellt sie sich fremden Herausforderungen, und in atemberaubend kurzer Zeit nimmt sie quasi dieselbe Position ein, die sie in der DDR hatte.
Ihre stolze Zuversicht schöpft sie aus dem ehrlichen Ringen um eine vernünftige, anerkannte Position, egal in welchem Leben, in das sie sich aber immer ganz hineinbegibt, in dem sie sich ständig ändert und doch immer dieselbe bleibt. Bestimmend bei allem ist ihr sicheres Gefühl für Werte, die sie von ihren Eltern übernommen hat, und die Partnerschaft, in der sie lebt.
Die spannend erzählte Geschichte schlägt einen weiten Bogen zurück bis in das Leben ihrer Eltern, lässt das Besondere, Schicksalhafte ihres Lebensweges so im allgemein Menschlichen aufgehen, dass die Konflikte ihrer Anpassung in den unterschiedlichen deutschen Gesellschaften sie immer liebenswert erscheinen lassen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Juni 2015
ISBN9783732336777
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    Buchvorschau

    Die Mitläuferin - Astrid Zeven

    Es ist ein sonniger, noch etwas kühler Märztag. Aber der Frühling liegt schon in der Luft. Das kann man selbst in dieser Stadt der Kohlefeuerung förmlich riechen, wo der Rauch aus zahlreichen Schornsteinen schwer auf den Dächern liegt. Es ist eine schöne Stadt mit einer nun bald tausendjährigen Geschichte, die ihre Spuren hinterlassen hat, ebenso wie der Staat, der es sich nicht immer leicht machte mit sich und den anderen und jetzt am Ende seines vierten Jahrzehnts steht. Man hatte sich viel vorgenommen, vielleicht zu viel. An der Peripherie wächst eine neue Stadt empor, mit riesigem Aufwand aus der grünen Wiese gestampft, eines der vielen Fünfjahrplanprojekte, wie sie vielerorts in der Republik entstanden, als Kontrastprogramm zu den schönen, stolzen Jugendstilvillen, denen man die Pracht vergangener Jahre trotz des abbröckelnden Putzes noch ansehen kann.

    Doch heute, an einem so zauberhaften Vorfrühlingstag, fällt das nicht ins Gewicht. Dörte bemerkt dies ebenso wenig wie das zaghafte Grün der großen Platanen entlang der Straße, in der sich das Sprachinstitut befindet, in dem sie als Hochschullehrerin arbeitet. Sie beendet ihren Unterricht wie jeden Freitag, verabschiedet ihre Studenten in das Wochenende, setzt sich sofort ins Auto und fährt nach Hause. Obwohl sie heute der etwas skurrilen Schönheit ihrer Stadt keine Aufmerksamkeit schenkt, ist es, als würde die Stimmung, die sie umgibt, sich ihr dennoch vermitteln. Unterwegs versucht sie, sich zur Ruhe zu zwingen, und wünscht inständig, dass bloß kein Unfall, keine verstopfte Kreuzung sie aufhalten möge. Nichts soll sie daran hindern, die ihr zugedachte Rolle in dem von ihrem Mann Götz und dessen bestem Freund Johannes ausgedachten Szenario zu spielen.

    Ohne Zwischenfälle gut zu Hause angekommen setzt sie sich ans Telefon, das erwartungsgemäß kurz nach zwölf klingeln müsste. Vorausgesetzt, alles ist wie geplant abgelaufen.

    Wie immer in schwierigen Situationen kuschelt sie sich in den recht kommoden, nun schon einhundert Jahre alten Schaukelstuhl, der ihr ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Endlos lange braucht der Zeiger der Wanduhr, bis er sich auf die nächste Minute zu bewegt. Dörte versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Alles dreht sich um die Frage, ob Götz die Kraft hätte, den waghalsigen Plan durchzuführen, und es tatsächlich fertigbringen würde, was die beiden Freunde als letzten Ausweg angesehen haben.

    Er ist zwischen die Mühlsteine geraten, wie man so sagt, und dies in einer Gesellschaft, die gerade ihn während der vergangenen vierzig Jahre wesentlich geprägt hat. War doch die DDR sein Land, das er sich zwar nicht ausgesucht, das ihm jedoch ermöglicht hat, zu dem zu werden, der er heute ist: Hochschullehrer an einer der ältesten Universitäten Deutschlands, zu deren bekanntesten Studenten kein Geringerer als Johann Wolfgang Goethe einst gehörte, an der aber auch Radistschew und der letzte große Universalgelehrte Leibniz gewirkt hatten. Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass er zu diesem spektakulären Mittel greift, um sich aus der Schusslinie zu katapultieren, gehen Dörtes Gedanken weit zurück in die Vergangenheit.

    Vor fünfzehn Jahren war sie eine junge Frau von sechsundzwanzig Jahren, recht passabel aussehend, allein erziehende Mutter eines sechsjährigen Jungen, beruflich in den letzten Jahren recht erfolgreich, in Liebesdingen einigermaßen genussfähig und erfahren und eigentlich rundherum zufrieden. Es konnte so weitergehen, fand sie. Natürlich gab es Augenblicke, in denen die Sehnsucht nach einem wirklichen Partner kam, einer, zu dem sie unbedingtes Vertrauen haben und der auch ihre in den letzten Jahren noch gewachsenen Ansprüche erfüllen könnte. Das Leben allein war ja nicht nur schön und herrlich frei. Da gab es auch die vielen Momente, in denen man einen Partner brauchte, mit dem man reden konnte, ohne jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen, mit dem man keine Taktik zu machen brauchte, einen Menschen, dem man seine Unzulänglichkeiten und Schwächen offenbaren konnte. Sie bemühte sich, dieses Gefühl der Leere nicht allzu oft an sich herankommen zu lassen. Schließlich traf man die partnerfähigen Männer nicht so häufig, und wenn, dann waren sie meistens verheiratet. Und zu der Sorte Frauen, die auf den Märchenprinzen warten, gehörte Dörte noch nie. Sie war auch nicht mehr bereit, in dieser Hinsicht Kompromisse oder Abstriche zu machen. Sicher hätte sie schon längst wieder verheiratet sein können, aber immer, wenn sie sich das Leben mit dem gerade aktuellen Mann nach zehn Jahren vorzustellen versuchte, war die Antwort: Nein, das ist nicht der Richtige. Natürlich wäre es ihren Eltern lieber gewesen, wenn ihre Tochter in sogenannten ordentlichen Verhältnissen gelebt hätte. Denn deren ziemlich freies Leben war ihnen ja nicht entgangen, und insbesondere ihr Vater glaubte, recht feste moralische Vorstellungen haben zu müssen. Dennoch hielten sie sich in dieser Frage sehr zurück mit ihren Kommentaren. Ihr Vater versuchte ein einziges Mal, seiner Tochter einen Mann zu verschaffen, einen gutsituierten Junggesellen, Ingenieur, sie arbeiteten in einem Betrieb. Dieser Mann, den Dörte recht nett fand, war aber ständig mit seinem Freund zusammen, so dass der Gedanke, er sei vielleicht schwul, nicht ganz abwegig war. Um das nun genauer herauszufinden, lud Dörte ihn einmal allein zu sich ein. Es gelang ihr, ihn zu verführen, was allerdings eine ziemlich enttäuschende Erfahrung war. Sexuell war er eine Niete. Damit stand fest, das könnte nie etwas werden. Ihrer Mutter erzählte sie von dem Erlebnis, und als ihr Vater ihr wieder einmal diesen Mann schmackhaft machen wollte, meinte seine Frau Friederike: Also Vater, das schlag dir aus dem Kopf. Das ist kein Mann für unsere Tochter; worauf der Vater verständnislos den Kopf schüttelte und dabei blieb, die Vorteile des Mannes aufzuzählen. Ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, war damit alles gesagt, und es blieb auch der letzte Versuch ihres Vaters, sie unter die Haube bringen zu wollen.

    Dörte hatte nach ihrer Scheidung vorübergehend mit ihrem kleinen Björn bei den Eltern gewohnt. Nun sollte mit der Zuweisung einer Neubauwohnung in der nicht weit entfernten Großstadt am mittleren Lauf der Elbe ein neuer Lebensabschnitt für sie und ihren inzwischen schulreifen Sohn beginnen. Obwohl die Studenten aus ihrer Englischseminargruppe ihr rührend geholfen hatten beim Herrichten der Wohnung, war doch nicht alles geschafft worden, bevor Dörte eine Dienstreise zu einer wissenschaftlichen Tagung in den nahegelegenen Harz antreten musste. Siegfried, ihr Vater, tröstete sie. Er kannte seine Tochter ja so genau und wusste, wenn sie sich irgendetwas in den Kopf gesetzt hatte, musste sie es auf Biegen und Brechen durchsetzen. Er versprach also, nach ihrer Rückkehr ein paar Tage Urlaub zu nehmen und dann alle notwendigen Arbeiten zu verrichten. Dörte fuhr dann in jene kleine Stadt im Harz zu ihrer Tagung ohne zu wissen, dass alles ganz anders kommen würde. Noch ahnte sie nicht, was sie in dem etwas schmucklosen, durch zahlreiche Neubauten doch etwas verunstalteten ansonsten aber sehr romantischen Städtchen erwarten sollte.

    Zunächst war alles ganz normal: Unterbringung aus Kostengründen im Internat, das zu der Fachhochschule, in der die Tagung stattfand, gehörte, dann ein Vortrag nach dem anderen mit keiner oder nur mäßiger Diskussion. Es waren ja Leute aus dem Ministerium da, und man wollte nicht auffallen. Beim Essen in der angrenzenden Mensa passierte es in der Pause, dass Dörte, die etwas abseits stehend sich nicht am nun umso reger einsetzenden fachlichen Gegacker ihrer Kollegen beteiligen mochte, plötzlich um Feuer gebeten wurde. Es durchlief Dörte heiß, nachdem sie die ersten Worte miteinander gewechselt hatten. In ihrem Bauch fühlte sie das flaue Flimmern jener Ungewissheit, in der alles zu liegen schien. Sie fragte sich beunruhigt, ja fast bestürzt, was hier anders war als bei den üblichen Männerbekanntschaften, die immer recht kurzlebig gewesen waren. War es das Äußere, das ihren Blick länger auf ihm verweilen ließ als normal? Nein, gutaussehende, sportliche Typen hatte sie in den letzten Jahren mehrere zu ihren Verehrern gezählt. Das war es also nicht allein. Was aber sonst? War es, weil seine Augen so eine Offenheit und Güte ausstrahlten, oder gar, dass er mit einem schnittigen, himmelblauen WARTBURG (Automarke in der DDR) angekommen war? Nun, das war immerhin nicht zu unterschätzen, denn einen flotten Wagen zu fahren, war schon etwas anderes als das Volksauto, TRABANT. Aber auch Männer mit einem besseren Auto hatte sie mehr als einen gehabt. Was war es also, was sie, ihr fast die gewohnte Selbstsicherheit raubend, so gefangen nahm? Rauchend plauderten sie und machten sich lustig über die Wichtigtuerei der Leute aus dem Ministerium. So stellte Dörte bald fest, dass er auf sie zugekommen war, weil sie alleine stehend ihren Gedanken nachgegangen war. Das gefiel ihm. Sie stellten Gemeinsamkeiten fest und verabredeten für den nächsten Abend einen Treff in einem Tanzlokal. Schon auf der Fahrt dahin war Dörte überrascht. Auf ihre kesse Frage hin ließ er sie ohne zu zögern, ganz selbstverständlich mit seinem Auto fahren. Er kannte sie doch gar nicht, wusste nichts über ihre Fahrkünste. Für die meisten Männer galt immer noch: Eine Frau am Steuer, da hieß es doch aufpassen. Selbst bei ihrem Vater hatte Dörte diese Erfahrung machen müssen. Sie besaß seit kurzem den Führerschein, und vorher hatte er immer gesagt, dass sie natürlich mit seinem Auto fahren könne. Als sie aber die Fahrprüfung bestanden hatte, musste er sich zuerst von ihrem Fahrverhalten überzeugen, und so durfte sie ihn in die nahegelegene Kreisstadt fahren. Es war eine schreckliche Fahrt. Ihr Vater hatte sie so nervös mit seinen dauernden Einwänden gemacht, dass sie unterwegs anhielt, auf den Beifahrersitz wechselte und erklärte: Mit deinem Auto werde ich nie wieder fahren!

    Als sie nun jenen neuen Bekannten, einen Hochschullehrer aus der altehrwürdigen Messestadt, fragte, ob er auf seiner Heimfahrt nicht einen kleinen Umweg durch den Harz machen und sie nach Hause bringen wolle, und er daraufhin, ohne lange zu überlegen, sagte, er fände den Vorschlag toll, imponierte das Dörte sehr. Diese Unkompliziertheit gefiel ihr. Was er aber noch nicht wusste, war, dass sich Dörtes Wohnung, von der sie ihm erzählt hatte, noch in einem ziemlich unbewohnbaren Zustand befand. Unterwegs versuchte sie, ihm dies schonend beizubringen, damit die Wirklichkeit ihn nicht desillusionierte. Dem war aber keineswegs so. Vielmehr merkte sie, dass so ein Chaos zu richten für ihn kein Problem darstellte. Offenbar kam es ihm auf etwas anderes an, denn es wurde nicht lange geredet, sondern nach ein paar Stunden waren die notwendigen Arbeiten vollbracht. Immer wieder gab es angenehme Unterbrechungen auf dem Teppich, den sie gerade auslegten. Dörte sah keinen Grund, sich zimperlich zu zeigen, und so wurde es ein ziemlich intensiv ausgelegter Raum.

    Nein, auch seine beeindruckenden Fähigkeiten als Liebhaber waren es nicht allein, wenn es Dörte auch sehr gefiel. Sie hatte in der Vergangenheit zwar mehr gute als schlechte Liebhaber gehabt, doch er hatte tatsächlich ein paar Saiten in ihr zum Klingen gebracht, an denen vorher offensichtlich noch nicht gezupft worden war, jedenfalls nicht so.

    Was also war es, das in ihr den Gedanken aufkommen ließ, der aber schnell wieder verdrängt wurde, ob das etwa der Mann war, von dem sie schon in ihren Jungmädchentagen gewusst hatte, dass er existiert, und dass sich ihre Wege früher oder später kreuzen würden? Schon am allerersten Abend hatten sie ganz interessante Gespräche zu den Vorträgen und darüber hinaus. Es gab kein Thema, für das sich dieser Mann nicht interessierte, zu dem er nicht eine Position erkennen ließ. Wenn die Gedanken allzu sehr mit ihr spazieren gingen, rief sich Dörte gewaltsam auf den Boden der Tatsachen zurück, denn schon am ersten Abend in der Tanzgaststätte hatte er ihr gesagt, dass er verheiratet sei. Dass er es sagte, ehrte ihn zwar, bestätigte aber letztlich nur die These aller alleinstehenden Frauen, die ihre Kollegin in die Worte fasste: Schade, die besten Männer sind immer schon verheiratet! Nun, damit hatte sie wohl nicht Unrecht. Dörte hatte zwar keine Skrupel, ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann zu haben, denn ihrer Meinung nach war jeder Mensch für das, was er tut, selbst verantwortlich. Sie sah deshalb auch nie ihre Verantwortung darin, eine fremde Ehe zu schützen. Aber Komplikationen wollte sie als Tochter ihres Vaters eben auch nicht haben. Ihr war immer klar, dass das nur kurze Abenteuer sein könnten. Bis sich ein Mann wegen einer Geliebten von liebgewordenen Gewohnheiten, seiner Frau und eventuell seinen Kindern trennt, da müsste es schon etwas mehr sein als eine heiße Leidenschaft. Gerade verantwortungsvolle Männer werfen nicht einfach ein Leben weg. Nein, da war sie ziemlich illusionslos und wollte sich auf keinen Fall falsche Hoffnungen machen, weil sie ihn da wohl nicht richtig eingeschätzt hätte, und schön geredet hat sie sich die Dinge eigentlich nie. So verabschiedeten sie sich nach einem aufregenden Wochenende ohne die meist üblichen Versprechungen. Er brachte Dörte, die ihre Eltern noch besuchen wollte, noch bis in die Nähe ihres Elternhauses und gab ihr seine private Telefonnummer. Aber nie und nimmer hätte sie ihn zu Hause angerufen. Sie wollte sich davor schützen, sich zu stark zu engagieren, hatte sie sich doch nach ihrer Scheidung fest vorgenommen, nie mehr eines Mannes wegen zu leiden.

    Wieder zu Hause angekommen, erzählte Dörte den Eltern von dem Abenteuer. Das musste sie ja, da ihr Vater gleich sagte, dass er Urlaub zur Einrichtung ihrer Wohnung genommen hatte. Da konnte sie ihm doch nicht verschweigen, dass alles schon erledigt war und seine Hilfe nicht mehr nötig. Siegfried war mehr als überrascht, wenn auch natürlich nicht gerade böse darüber, dass für ihn nun nichts mehr zu tun blieb. Dörte konnte es selbst noch gar nicht fassen, dass das alles so schnell und fachmännisch gegangen war, obwohl sie, auch was derartige Arbeit betraf, nicht unnötig kompliziert war. Was zudem noch durchaus beeindruckte, war, wie dieser Götz Weseloh ohne Probleme ihre komplizierte Wohnzimmerlampe mit Wechselschaltung zum Leuchten gebracht hatte. Ihre Studenten, immerhin angehende Ingenieure, waren daran verzweifelt. Entweder brannten nur zwei Glühbirnen oder alle vier mit halber Leuchtkraft. Das nun war in ihren Augen also eine Meisterleistung - oder etwa ein Zeichen?

    Trotz dieses nachhaltigen Eindrucks gab sie sich den Befehl, als der WARTBURG sich entfernte, diesen Mann aus ihrem Gedächtnis zu streichen.

    Knapp zwei Wochen später wurde sie plötzlich mitten aus ihrem Seminar ans Telefon gerufen. Das war eigentlich äußerst unüblich, aber der Anrufer hatte gesagt, es ginge um Leben und Tod, und deshalb holte man sie auch ausnahmsweise. Wer war am Telefon? Dieser Götz! Dörte musste sich sehr zusammennehmen, um sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Er sagte, er habe sich überlegt, sie zu besuchen, und in cirka zwei Stunden wäre er da. Sie gab zur Antwort, das passe ja prima, denn an diesem Abend hätte sie die große Einweihungsparty mit ihren Studenten, und es würde sicher viel Spaß geben. Es wurde ein wunderschöner Abend. Götz blieb über Nacht bei ihr, und von da an war es eigentlich klar, dass sie sich nicht wieder loslassen würden. Trotzdem gab es nie eine Absprache zwischen ihnen, wann er wiederkommen würde. Dörte fragte ihn auch nie deswegen. Er rief meistens zwei Stunden vorher an, und wenn nicht, dann stand er auch plötzlich vor der Tür und sagte durch die Sprechanlage auf die Frage, wer da sei: Hier ist der Kaiser Barbarossa oder andere witzige Dinge.

    So entwickelte sich ein faszinierendes Verhältnis. Dörte spürte, da ist ein Mann, der interessiert sich für mehr als dein Bett, obschon das ein wichtiger Punkt war, denn wie ausgehungert stürzten sie sich jedes Mal in die Liebe. Diese einzigartige Leidenschaft hatte Dörte noch nie vorher für einen Mann empfunden. Das war aber kein Wunder, konnte sie mit ihm doch auch über ihre Probleme sprechen. Er hörte ihr zu, wenn sie zum Beispiel von Erziehungsschwierigkeiten mit ihrem Sohn redete. Dörte lebte ständig in Angst, dass ihr Sohn die Unzuverlässigkeit und Verlogenheit seines leiblichen Vaters geerbt haben könnte. Bei dem kleinsten Indiz in dieser Hinsicht war sie in Alarmbereitschaft. So hatte sie ihren Sohn zu einem Judo Kurs angemeldet. Judo hätte sie selbst in jungen Jahren gern gelernt, weil sie es beeindruckend fand, wenn eine zarte Frau im Handumdrehen einen starken Mann aufs Kreuz legt. Es hatte leider bei ihr so nie geklappt, eher war es, wenn auch in etwas anderer Hinsicht, öfters umgekehrt. So versuchte sie, dass Björn es lernte. Offensichtlich gefiel es ihm aber nicht so sehr, denn er fuhr immer brav mit der Straßenbahn weg, kam aber nie an, sondern vergnügte sich die zwei Stunden anderweitig. Als Dörte endlich dahinter kam, war sofort die erwähnte Angst da: Jetzt geht das wieder los mit der Schwindelei, das kann er nur von seinem Vater haben.

    Und so gab es immer wieder Dinge, über die sie ihr Herz bei Götz ausschütten konnte. Das ging sogar soweit, dass sie mit ihm über andere Männer sprechen konnte, dann tröstete er sie in ihrem Liebeskummer. Als Dörte sich darüber klar geworden war, welch wichtigen Platz dieser Mann in ihrem Leben eingenommen hatte, sagte sie sich: Besser einen Menschen, zu dem du Vertrauen haben kannst, halb, als einen halben Menschen ganz. Und so erkannte sie, dass es das genau war, was sie suchte, einen Menschen, mit dem sie so durchs Leben laufen konnte. Der Umstand, dass er nicht frei und ungebunden war, und dass es keine richtige gemeinsame Zukunft geben würde, störte sie erstaunlicherweise gar nicht. Er hatte ihr ganz unmissverständlich ziemlich zu Anfang gesagt, dass er sich nie von seiner Tochter, die knapp ein Jahr älter als Björn war, trennen würde. Er selbst hatte als Kind erfahren, wie schlimm es sein kann, als Scheidungswaise groß zu werden. Das wollte er seiner Tochter unter allen Umständen ersparen, weshalb er auch seinerzeit ohne Umschweife die Konsequenz aus einer Studentenliebe ziehend ihre Mutter geheiratet hatte. Dörte hatte diese Einstellung zu akzeptieren, und sie tat es auch. Deshalb nutzten sie die gemeinsame Zeit umso bewusster. Etwas leichter wurde die organisatorische Seite, als Dörte nach ungefähr einem halben Jahr ein Telefon bekam. In Neubauten ging es schneller, da die Anschlussleitungen schon gelegt waren. Sie lernte sehr schnell von Götz: Du musst dich für alle Sachen, möglichst gleich im achtzehnten Lebensjahr, anmelden, egal ob du dir vorstellen kannst, jemals das Geld für ein Auto, Telefon oder einen BUNTFERNSEHER aufbringen zu können, egal, ob du jemals im Leben eine Tiefkühltruhe brauchst, du musst dich anmelden! Wenn es dann soweit ist, und du willst den bestellten Artikel nicht, ist es auch kein Problem. Er hatte offenbar nicht nur mit den landestypischen Problemen weniger Schwierigkeiten als sie mit ihrem manchmal naiven Denken, sondern auch mehr Positionen zu dem, was ihm wichtig war. Vieles, woran sich andere zerrieben, war für ihn eine Kinderei. Sein Telefon zum Beispiel hatte er bekommen, indem er einfach den Schaltstellenleiter seines Wohnbezirkes anrief und ihm mitteilte, er wisse von den Machenschaften, dass Anschlüsse für Bestechungsgeld freigemacht würden, und wenn er, der schon mehrere Jahre angemeldet sei, nicht wenigstens einen Teilanschluss bekäme, müsse er die Sache melden. Prompt war daraufhin ein Zettel in seinem Briefkasten, dass er in den nächsten Tagen mit der Installation eines Anschlusses rechnen könne. Er war eben kein Freund der Korruption und mit seiner gesellschaftlichen Stellung wollte er auch nicht auftrumpfen.

    Einige Wochen später lernte Götz Dörtes Eltern kennen. Wie schon so oft, kam er wieder einmal überraschend, um Dörte zu sehen, traf sie jedoch nicht an, weil sie gerade bei den Eltern zu Besuch war, was für ihn nahelag. Er kannte zwar schon den Ort, aber nicht die Adresse. Außerdem wusste er nicht ihren Mädchennamen. Natürlich hatte er selbstverständlich auch Schwächen. Eine liebte sie besonders. Er merkte sich schlecht Namen und abstrakte Zahlen. Ersteres ist für einen Lehramtsinhaber recht ungewöhnlich, doch Namen und Zahlen erhellten sich ihm mehr durch Beziehungen, die sie verbanden. Oft war das schon sehr ungewöhnlich und komisch, wie so manches an ihm.

    Es war also an einem schönen Sonntagnachmittag, als der kleine Ort etwas verschlafen im märkischen Sand, umgeben von Schatten spendenden Kiefern, vor sich hin träumte. Kaum jemanden auf der Straße antreffend, war es ein sehr schwieriges Unterfangen, einen Menschen zu finden, dessen Adresse man nicht kannte, den man zwar genau zu beschreiben wusste, aber dessen Haarfarbe die hilfsbereiten Einheimischen irritierte. Erschwerend kam nämlich hinzu, dass die Leute Dörte mit ganz verschiedenen Haarfarben, die sie wechselte wie andere die Bluse, kannten. Erst seit kurzem hatte sie sich auf Rot festgelegt. Dass Götz rothaarige Frauen mochte, wusste sie zu dem Zeitpunkt noch nicht. War dies ein glücklicher Umstand oder Fügung? Er schaffte es trotzdem, sie ausfindig zu machen und spazierte in seiner an Selbstbewusstsein nicht mangelnden Art zielsicher plötzlich durchs Petersensche Gartentor ins Einfamilienhaus von Dörtes Eltern. Dörtes Mutter, nachdem sie wusste, wer er war und zu wem er wollte, bat ihn charmant wie immer zum Kaffee herein, und das war sozusagen das erste gegenseitige Beschnuppern. Dörtes Mutter gefiel der Mann im Leben ihrer Tochter von Anfang an sehr, Siegfried wohl ebenfalls, wenn er auch starke Bedenken hatte. Der Mann war schließlich verheiratet und hatte eine Tochter, und das gehörte sich nun mal nicht. Andererseits wusste er aber sehr genau, dass Dörte sich in diesen Dingen nicht von ihm beeinflussen lassen würde, und deshalb versuchte er es erst gar nicht ernsthaft.

    Ja, Götz war der Mann in ihrem Leben. Durch ihn fing sie an, bewusster zu leben, ihre Umwelt kritischer wahrzunehmen und sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Es passierte nicht selten, dass sie mit ihm nächtelange Diskussionen hatte, bei denen die beiden durchaus nicht immer einer Meinung waren. Da die öffentliche Meinung, in der sie lebte, kaum Kontroverses kannte, war es gerade dieser Umstand, der die Gespräche für sie stets nachhaltig und bewusstseinsbildend machte. Ja es führte sogar dazu, dass sie von einem gewissen Zeitpunkt an einfach wussten, dass sie füreinander bestimmt waren. Jedenfalls ging Dörte nun davon aus. Sie hatte auch mal vorsichtig versucht, ihn über seine Frau zu befragen, denn neugierig war sie natürlich schon, was das für eine Frau war, die das Glück hatte, mit diesem Mann verheiratet zu sein. In der Frage hielt er sich aber ziemlich bedeckt, murmelte nur etwas wie: Sie ist so ähnlich wie du. Daraufhin drang sie dann auch nicht weiter in ihn. Viel später, als sie seine Frau persönlich kennenlernte, war sie allerdings der Meinung, dass es da sehr wohl Unterschiede gäbe. Aber das waren vielleicht auch die Augen der Geliebten, die ihr das verhießen. Jedenfalls war die Ehefrau lieb und nett. Allenfalls etwas Selbstzufriedenheit hüllte sie ein. Umso mehr wusste Dörte es zu schätzen, dass Götz seine Frau ihr gegenüber nicht in Misskredit gebracht hatte, wie das meistens in diesen Fällen passiert. Also das zeigte schon seine Art, so meinte Dörte, wenn derartige Unterschiede nicht nach außen getragen wurden. Dabei zermarterte sich Götz schon den Kopf, ohne dass er Dörte damit belastete, ob und unter welchen Umständen es nicht vielleicht doch eine gemeinsame Zukunft für sie geben könnte. Denn er zweifelte an allem, aber schöpferisch, nicht im Sinne des Agnostizismus oder des Nihilismus, sondern mehr, indem er versuchte, alles in der Bewegung und Entwicklung zu sehen. Sexuell lief zwischen ihm und seiner Frau nicht mehr sehr viel. Sie hatte eine seltene Krankheit, durch die sie sich schon in jungen Jahren in einem

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