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Kaisers Bart: 13 Essays über Lesen und Schreiben, "große" Männer und starke Frauen, Literatur und Musik, Scheusale und Genies
Kaisers Bart: 13 Essays über Lesen und Schreiben, "große" Männer und starke Frauen, Literatur und Musik, Scheusale und Genies
Kaisers Bart: 13 Essays über Lesen und Schreiben, "große" Männer und starke Frauen, Literatur und Musik, Scheusale und Genies
eBook351 Seiten4 Stunden

Kaisers Bart: 13 Essays über Lesen und Schreiben, "große" Männer und starke Frauen, Literatur und Musik, Scheusale und Genies

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Über dieses E-Book

Dem Gewicht nach halten sich die Themen der dreizehn kürzeren und längeren Essays irgendwo zwischen Haupt- und Staatsaktionen einerseits und den Kleinigkeiten des Alltags andererseits auf. Den ernsten Zeiten ihrer Veröffentlichung angemessen, behandeln manche von ihnen internationale oder persönliche Katastrophen (wie den Tod eines Kindes), andere hingegen wenden sich, freudvoller, erfüllenden Beschäftigungsmöglichkeiten des Geistes oder gar dem höheren Humbug zu. Sogenannte große Männer treten auf – Scheusale wie Genies – und starke Frauen auch, dicke Bücher finden zwischen den Seiten Platz, und bedeutsame Musik tönt aus ihnen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Nov. 2022
ISBN9783347749474
Kaisers Bart: 13 Essays über Lesen und Schreiben, "große" Männer und starke Frauen, Literatur und Musik, Scheusale und Genies

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    Buchvorschau

    Kaisers Bart - Michael Thumser

    Die gewaltigste der Welten

    Bemerkungen über das Buch,

    das Lesen und das Schreiben

    Nimm und lies!

    Das Buch des Lebens ist mit nur vier Buchstaben geschrieben: A – T – C – G. Für Adenin und Thymin, Cytosin und Guanin stehen die Lettern. Und nicht mehr als zwei Wörter können die Buchstaben bilden: Ausschließlich in den Paarungen A mit T und C mit G treten die vier Moleküle auf. In uns Menschen wie in allen, selbst den kleinsten Lebewesen formen sie die Sprossen der DNS, der Desoxyribonukleinsäure, des submikroskopischen, doppelt in sich verschraubten Riesengebildes in den Zellen, auf dem lückenlos alles aufgeschrieben steht, was unsere höchst komplexe Leiblichkeit von der abrieselnden Hautschuppe bis zum Wunderwerk unseres Gehirns ausmacht.

    Mit so viel Beschränkung in der Natur hält unsere menschliche Einfallskraft schwerlich mit. Auf über sieben Mal so viele Buchstaben müssen deutschsprachige Autorinnen und Autoren zurückgreifen: Wenn man die drei Umlaute und das Eszet mitzählt, sinds dreißig. Je nach Kulturkreis dürfen es auch mehr oder weniger sein: Mit 74 Schriftzeichen lernen die Khmer in Kambodscha umzugehen; mit lediglich elf kommt das Rotokas aus, mit dem sich gut viertausend Bewohner der pazifischen Salomonen-Insel Bougainville verständigen.

    Aber bleiben wir im eigenen Land. Seit mindestens zwölf– bis dreizehnhundert Jahren ernährt es unsere Köpfe redlich mit einer nicht mehr zu überschauenden Masse an Literatur unterschiedlichster Anlässe und Anliegen, Umfänge und Qualitäten. Wer rät uns wozu, und warum? So einfach wie Augustinus, dem noch ziemlich frühchristlichen Bischof von Hippo, wird es uns nicht gemacht. Als 31-jähriger Intellektueller strebte er nach geistiger und geistlicher Orientierung, nach Sinn und Ziel seines weiteren Lebens, als ihn im Jahr 386 die Stimme eines arglos spielenden Kindes unverhofft auf Schrift und Buch, nämlich die Heilige Schrift der Bibel, des Buchs der Bücher, verwies: „Tolle! Lege!" (so berichtete Augustinus später in seinen BEKENNTNISSEN) rief das Kind seinen Kameraden zu, „Nimm und lies! Da griff er nach einer scheinbar x-beliebigen Schriftrolle aus Papyrus oder Pergament – denn „Bände, gebundene Bücher im heute gebräuchlichen Wortsinn, kamen erst im fünften Jahrhundert auf –, und was ihm dabei in die Finger geriet, war der RÖMERBRIEF des Apostels Paulus. Dort stieß sein wahlloser Blick auf eine Stelle, die ihm riet, aller Maßlosigkeit abzuschwören, den leiblichen Begierden zu wehren und den „Herrn Jesus Christus anzuziehen". So konnte aus dem Gottsucher mit der Vorgeschichte eines Genussmenschen doch noch ein Heiliger und Kirchenvater der katholischen Christenheit werden.

    Nun rangiert zwar die Bibel auf Platz eins der am häufigsten gedruckten und am weitesten verbreiteten Bücher der Welt, doch verlangen die wenigsten Druckwerke von uns, wie Augustinus zu Asketen zu werden. Überhaupt gelingt es einer vergleichsweise verschwindenden Zahl von Büchern, uns überhaupt unter die Augen zu kommen: 2019 erschienen etwa 70.400 Neuveröffentlichungen allein auf dem deutschen Markt, 2020 waren es mit 69.200 geringfügig weniger – wer kennt die Titel, nennt die Namen der Verfasserinnen und Verfasser? Im Jahr 2017 fluteten gar stolze 86.000 Neuerscheinungen den Handel. Die Statistik umfasst Broschüren von achtzig oder 120 Seiten ebenso wie schwergewichtige Wälzer von acht- oder dreizehnhundert. Manche Seite nimmt elegant mit dreißig Druckzeilen vorlieb, auf anderen drängen sich unübersichtlich 42 oder mehr. (In diesem Buch sinds meist gefällige 32.) Etwa dreihundert Wörter fassen wir – vorausgesetzt, wir sind durch regelmäßige Lektüre geübt je Minute auf, mithin fünf Wörter pro Sekunde, je nachdem, wie lesefreundlich uns das Druckbild entgegenkommt und, vor allem, welche Hindernisse der Text unserem Verständnis in den Weg stellt.

    Jeder Blick in die Buchempfehlungen der Zeitungsfeuilletons, erst recht jeder Besuch einer Bibliothek, aber auch schon der Blick, der über die Regale unserer eigenen Buchbestände schweift, scheint uns aufzufordern: „Nimm und lies!"; und uns zugleich abzustoßen: Du kannst lesen, so viel und lang du magst, du wirst günstigstenfalls das Eingangstor zur Welt der Literatur passieren und höchstens ein paar Schritte weit in ihr Reich vorstoßen. So betrachtet freilich: nur so betrachtet –, wird das Riesenangebot des Geschriebenen uns nicht bloß einschüchtern, sondern erschlagen. Sollen wir aus zwei oder drei Titeln einen für uns auswählen, entscheiden wir uns vielleicht geschwind; reihen sich zweihundert oder zwanzigtausend vor uns auf, greifen wir verschreckt womöglich nach keinem einzigen. Für den Dichter Heinrich Heine war „von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, die der Bücher die gewaltigste". Wir haben allen Grund, sie zu bestaunen; aber sie kann uns bremsen, lähmen, niederzwingen.

    Jedoch, wo uns das widerfährt, sitzen wir einem Missverständnis auf. Nicht als Meer zahlloser geschlossener Buchblöcke zwischen doppelt so vielen Buchdeckeln breitet sich jene Welt vor uns aus, sondern sie tut es im Buch, in jedem einzelnen, sobald wir es öffnen oder als E-Book digitalisiert auf Bildschirm oder Display laden. „Bücher lesen heißt, wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben, über die Sterne: Schöner, zudem treffender als Jean Paul, der besessene Bücherexzerpierer, Bücherschreiber und Büchernarr, kann mans nicht sagen. Und jede dieser „Welten gehört jedem von uns ganz allein, weil ein jeder kraft seiner unaustauschbar vielschichtigen Eigenheiten einen Text zwangsläufig ganz individuell und also anders wahrnimmt, deutet und begreift als irgendein anderer. Schon jedes simple Wort unserer sich aus gerade mal dreißig Buchstaben formierenden Sprache versteht und gebraucht jeder auf seine eigene Weise. Ein Wunder, dass unserer Verständigung mit- und unserem Verständnis füreinander die Kraft nicht ausgeht.

    Eine Chance, von uns für gut befunden zu werden, geben wir einem Buch überhaupt erst dann, wenn wir annehmen dürfen, es in Inhalt und Form einigermaßen begreifen zu können. Dann öffnen wir uns als Leser mit derselben Haltung, aus der heraus Jean Paul seine Bücher schrieb: Er verfasste sie wie „Briefe an Freunde, nur eben wie „dickere. Natürlich bleiben einem, wie im Leben überhaupt, auch beim Lesen Enttäuschungen nicht erspart, bei Büchern aber lassen sie sich recht leicht verkraften, hat doch, wie der britische Dramatiker John Osborne trostreich vermerkte, „auch das schlechteste Buch seine gute Seite: die letzte".

    Ob gut, ob schlecht: Von der literarischen Qualität eines Manuskripts hängt sein Erfolg auf dem Buchmarkt erfahrungsgemäß nur teilweise ab. Um dessen Launenhaftigkeit zu belegen, liefert das besonders unberechenbare Phänomen des Bestsellers ein prägnantes Beispiel. Für ihn gibt es zwar keine verbindliche wissenschaftliche Definition, Verlage und Handel setzen den Begriff jedoch zumeist ein, sobald hunderttausend Exemplare eines Titels verkauft worden sind; ein Wert, der folglich lediglich das Interesse der Kunden abbildet. Übrigens gibt es das Lehnwort Bestseller länger als man denken sollte: Seit 1889 ist es belegt, 1895 erschien in den Vereinigten Staaten erstmals eine „Bestsellerliste". Die des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL beeinflusst das Branchengeschäft hierzulande stark.

    Als Musterstück darf etwa DER NAME DER ROSE gelten, der von vielen Codes durchzogene Mittelalter-Kriminalroman des italienischen Semiotikers Umberto Eco. 1980 kam er als IL NOME DELLA ROSA in Mailand heraus und wurde seither zigmillionenfach in aller Welt verkauft. Doch noch 1982 wollte nicht jeder Fachmann an einen Triumph glauben. Für lächerliche fünfzehntausend Euro hätte der Suhrkamp-Verlag die deutschen Übersetzungsrechte kaufen können und schlug sie aus. „Das war Pech", gab später das Lektorat zu, wahrscheinlich habe niemand im Premium-Haus das Original gelesen. Stattdessen griff Hanser zu und machte ein grandioses Geschäft.

    Die fatale Fehleinschätzung erinnert an eine ganze Reihe von Autoren, die ausersehen waren, berühmt zu werden, obwohl zunächst Verlage reihenweise nichts von ihnen wissen wollten. Der geläufigste Fall: die Streiche des Zauberlehrlings Harry Potter zum Schluss siebenbändig, in etwa siebzig Sprachen übersetzt, über eine halbe Milliarde Mal verkauft. Der einstigen Sozialhilfe-Empfängerin Joanne K. Rowling beschied der Hype ein Vermögen, größer als das der royalen Windsors. Dabei druckte der kleine Verlag Bloomsbury 1997 vorsichtig erst einmal nur hundert Exemplare von Band eins, und auch die nur, weil das achtjährige Töchterchen des Verlegers als Erstleserin dem skeptischen Papa verzaubert dazu riet. Mindestens acht Verlage hatten zuvor Nein gesagt.

    Über die Häufigkeit von Ablehnungen berichtet die Mythologie des Buchmarkts oftmals wenig glaubhaft. Mehr als tausend Absagen will der US-Amerikaner Ray Bradbury Anfang der Fünfzigerjahre mit FAHRENHEIT 451 erhalten haben. Petra Hammesfahr erzählt von 159 Zurückweisungen, bis das Haus Rowohlt ihre SÜNDERIN akzeptierte, die ihr 1999 den Durchbruch bescherte. Sieben Jahre zuvor hatte SCHLAFES BRUDER reißenden Absatz gefunden; nur dass 24 Verlage das Buch vordem dankend an Robert Schneider zurückgeschickt hatten, bis sich Reclam in Leipzig erbarmte und die Nebenrechte alsbald profitabel in alle Welt veräußerte. Sehr ähnlich erging es Patrick Süskind mit seinem tödlich duftenden, schließlich von Diogenes in Zürich edierten PARFÜM, dem Überraschungshit des Jahres 1985; neun Jahre lang führte der SPIEGEL es auf seiner Bestsellerliste. Sogar PIPPI LANGSTRUMPF geriet für die Schwedin Astrid Lindgren zur schweren Geburt: Im Verlag Bonnier graute dem Chef vor der anarchischen Titelheldin bei der Vorstellung, was wohl geschähe, „nähmen sich Kinder diese Göre zum Vorbild"; fügsam entschärfte Lindgren die Abenteuer, überließ sie dann aber trotzdem einem anderen Verlag. Den Griff zur Schere verweigerte hingegen Thomas Mann: Als er 25-jährig die weit mehr als tausend Manuskriptseiten seiner BUDDENBROOKS dem Verleger Samuel Fischer offerierte, fand der sich zwar zur Veröffentlichung bereit, aber nur, wenn der noch fast namenlose Jungdichter sein Werk um die Hälfte kürze. Mann blieb mannhaft und das Buch erschien in der Urgestalt. Eine Zeit lang verbreitete es sich, wie befürchtet, zögerlich, dann umso rascher und trug seinem Verfasser den Nobelpreis ein. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

    Immer wieder ergeben sich Anlässe, die Kompetenz der Publizistenzunft und der Verlagsbranche anzuzweifeln. Sie auszutesten, wagte 1968 die Redaktion der Satirezeitschrift PARDON. Zum Versuchsobjekt erkor sie Robert Musils MANN OHNE EIGENSCHAFTEN, der es nach seiner Veröffentlichung 1931 und 1933 zwar nicht zum Bestseller per definitionem brachte, aber schon früh als einer der wichtigsten deutschsprachigen Romane des zwanzigsten Jahrhunderts firmierte. Aus dem (Fragment gebliebenen) Mammutwerk zogen die Journalisten zentrale Episoden heraus und veränderten die Namen der Figuren, kaschierten behutsam einige wenige allzu verräterische Situationen und tippten die fakeFassung mit der Schreibmaschine ab. Dann schickten sie – unter dem Verfassernamen eines „Technischen Abteilungsleiters" die acht Seiten an namhafte Autoren, Rezensenten und Universitätslehrer sowie an Verlage im deutschsprachigen Raum. Von den 46 Adressaten antworteten zehn überhaupt nicht; keiner von den 36 übrigen durchschaute den Streich, keiner erkannte Musil als Autor und die Außerordentlichkeit der Prosa. Als „Unterhaltungsliteratur von teils „primitiver Ausdrucksweise zerrissen sie die Textprobe und schickten sie, schon mal mit dem Ausdruck der Häme und Verärgerung, zurück; darunter, wohlgemerkt, auch der Rowohlt-Verlag, der Musils Hauptwerk allein vertrieb und gutes Geld damit verdiente.

    Der verstörende Vorfall hätte postum den verzweifelten Herman Melville, heute hochgerühmten Klassiker englischsprachiger Erzählkunst, trösten können: Mit Pauken und Trompeten fiel 1850 sein ozeantiefes, teils dokumentarisches Walfänger-Epos MOBY DICK bei der Kritik durch und wird seither als eine der weltgrößten Prosaschöpfungen und als Wegweiser für den Roman der Klassischen Moderne gefeiert. Den sensationellen Aufschwung erlebt Melville nicht mehr, geknickt endete er als Zöllner. Nicht anders erging es Giuseppe Tomasi di Lampedusa mit seinem einzigen Roman. DER LEOPARD entstand 1954, blieb aber liegen, weil kein Verlagshaus ihn der Veröffentlichung für wert erachtete. 1957 starb der Autor und wurde im Jahr darauf zum Star, nachdem sein Schriftstellerkollege Giorgio Bassani das Manuskript entdeckt und die Herausgabe veranlasst hatte. 1959 legte man dem Verblichenen den begehrten Strega-Preis gleichsam aufs Grab. Der Neurologin Lisa Genova war das Glück da holder: Für 450 Dollar ließ sie 2009 ihren Erstling STILL ALICE um eine demente Harvard-Professorin auf eigene Kosten drucken und verkaufte die Bände aus ihrem Auto heraus. Dann machte das Internet den Roman zum Superseller. An die Verfilmung von 2014 ging gar ein Oscar. Dazu hat es Jean-Jacques Annauds Leinwandfassung vom NAMEN DER ROSE nicht gebracht.

    Das Auge liest mit

    Wer Linda Genovas Unternehmungsgeist nacheifern will, darf sich darüber freuen, dass ein Druckwerk aus dem Selbstverlag längst nicht mehr zwingend wie die Jahresberichtsbroschüren provinzieller Sport- oder Kleingärtnervereine aussieht. In puncto Erscheinungsbild und Einbandgestaltung, buchbinderischer Stabilität, Güte des Papiers und Drucks halten Veröffentlichungen aus dem book on demand- oder self publishing-Segment problemlos mit den Produktionen nobler Häuser mit, zumindest sofern Durchschnittsanforderungen nicht überschritten werden. Gut so, denn beim Lesen isst das Auge mit (um einen Kalauer zu wagen) und blitzt gern begeistert auf. In anderen Momenten wendet es sich mit Grausen, so, wenn wir auf Dachböden, in Kellern oder Speicherräumen auf Reste der Buchkollektionen unserer Eltern und Großeltern stoßen. Die einen Bände scheinen gut in Schuss, weil haltbar in Halbleder oder Leinen gebunden, andere aber, in schlichten oder schlechten Karton geklebt, wurden morsch oder fielen der Feuchtigkeit von Jahrzehnten zum Opfer, wenn sie sich nicht gar zu breiigen Zerfallsprodukten auflösten. Dann richtet schon der Bucheinband, abgenutzt, ein- oder aufgerissen, speckigfleckig, Moderdüfte von sich gebend, Ekelbarrieren vor uns auf, die wir auch als hartgesottene Verehrer von Gedrucktem und Geschriebenem nicht leicht überwinden.

    Dagegen erzählen uns Museen und andere Auffanglager für vergangene Pracht aus der Geschichte der hohen Buchkultur, indem sie uns in sparsam erleuchteten, luftdichten, weil klimatisch austarierten Vitrinen exquisite Handschriften und seltene frühe Drucke zeigen. Oft genug wurden die Hüllen solcher Schaustücke von Silber oder Goldblech zum Glänzen animiert, mit Edelsteinen besetzt, durch eindrucksvoll geschnitzte Holz- oder Elfenbeinreliefs veredelt. Solche Einbände wollen als Kleinod Ehrfurcht erwecken oder durch geprägte Eleganz zum Lesen verführen. Ob Fibel oder Foliant, Bibel oder Bestseller: Wie bei allen Konsumgütern kommt es auch bei Büchern auf die Verpackung an.

    Zusätzlich offenbaren Bindung und Hülle, neben künstlerischen und kulturgeschichtlichen Details, Grundsätzliches: Der Buch-Einband veranschaulicht die Idee von etwas Zusammenfassendem, das auch uns als Leser einbindet; der Buch-Umschlag mag auf Heilsamkeit verweisen wie der Umschlag um eine heiße Stirn, ein schmerzhaftes Gelenk; der Buch-Deckel besagt, dass wir es mit einem vielfassenden Gefäß zu tun haben, das wir, um an Substanz, Kern und Gehalt zu gelangen, aufmachen und bei Nichtgefallen wieder schließen dürfen. Zu den zugänglichsten Außenreizen und zugleich zu den ersten Informationsangeboten für das suchende Auge gehört der Rücken des Buchs, der bescheiden seinen Inhalt benennt und durch Schmalheit oder Breite dessen Fülle andeutet, auf sympathische Weise: Anders als so mancher unliebsame Zeitgenosse kehrt uns ein Buch im Wandregal den Rücken ja nicht unnahbar zu; der seine lädt uns ein.

    Mehr aber auch nicht. Kaum Detaillierteres als den Autorennamen und den Titel gibt er uns kund. Wie also sollen wir, namentlich bei einer Neuerscheinung, ahnen, ob es sich für uns lohnt, ihr unwiederbringliche Stunden unserer Lebenszeit zu widmen, ohne vorher wenigstens andeutungsweise über Stoff und Stil des Werks Bescheid zu bekommen? Da hilft manchmal der Klappentext. Ohne Weiteres könnte dies schöne Wort von einem Dada-Poeten oder von einem Unikum wie Christian Morgenstern oder Joachim Ringelnatz erfunden sein, bezeichnet aber durchaus hochsprachlich ein traditionsreiches Werbemittel der Verlage: Bei gebundenen Büchern auf den eingefalteten Klappen des Schutzumschlags, ansonsten auf dem hinteren Buchdeckel stehen Auskünfte über die Verfasserin oder den Verfasser, das Thema, die Schreibart, über weitere Werke oder gewonnene Preise. Nicht selten erheben dabei Medien in kurzen Zitaten die Stimmen, um empfehlend die Leselust zu wecken. So mancher Erzähler, manche Essayistin mag Klappentexte nicht, weil sie nivellierend ein Etikett auf etwas kleben, das sich mit jedem gesuchten und gefundenen Ausdruck und jedem poetischen Moment mehr als viel zu differenziert erweist, um sich derart auf das vereinfachen zu lassen, ‚worum es geht‘. Provozierend wirken Klappentexte, wenn ihre Verfasser aufgeblasen den Eindruck eigener Gelehrsamkeit zu erwecken trachten oder prätentiös, bruchstückhaft und verklausulierend den Inhalt vernebeln statt erhellen. Vielleicht empfiehlt es sich, auf einheimische Lektoren jene Maßnahme auszuweiten, die im totalitär regierten Tadschikistan den Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen 2016 blühte: Sie mussten für sprachlich Unverständliches 180 Euro Strafe zahlen.

    Für ein altehrwürdiges Buchjuwel in Samt und Seide, Pergament oder Leder, Edelholz oder Elfenbein verbieten sich Profanationen wie ein Klappentext. Einen hohen Bildungsanspruch repräsentiert es, für den einst glanzvolle Bibliotheken als Tempel des Geistes errichtet wurden. Viele alte Buchhüllen haben eine Aura der Vornehmheit gemein, splitternackt kommt im Kontrast dazu das neuzeitliche E-Book daher. Desungeachtet sagt eine Nobelverpackung über den Inhalt so wenig aus wie ein teures haute couture-Kleid oder eine prunkende Hausfassade. „Außen hui, innen pfui, das gibts bei Büchern auch. Was man dann zwischen zierlichen Buchdeckeln zu lesen bekommt, geht (um noch einen Kalauer zu wagen) zum einen Auge hinein und zum andern wieder heraus. Wo allerdings Inhalt und Schmuck in ihrer Güte in eins fallen, gerade in den „illuminierten, das sind die durch elaborierte Malereien „erleuchteten" Handschriften aus dem Mittelalter, da lässt der Text seine Funktion als Lesestoff und die Ausstattung die des bloßen Zierrats weit hinter sich.

    Buchschmuck: ein schönes Wort. Zweierlei verbindet es, das Wert besitzt und Freude macht: das Buch als Gefäß für Einsichten, Aufschlüsse, Vergnügen; und den Schmuck als eine Zutat, die das Leben und Lesen verfeinert, ohne unverzichtbar zu sein. Vor die Wahl gestellt, ein preiswert-pragmatisches Taschenbuch oder edel gebundenes Schrifttum, die reine Textversion eines Werks oder eine illustrierte Ausgabe zu erwerben, entscheiden sich Bibliophile nicht ungern für die teurere, ansehnlichere Variante. Denn ein schönes Buch verschönt seinerseits unseren Wohn-, Arbeits-, Lebensraum, über seine literarische oder informationelle Substanz hinaus.

    In den Epochen, da Bücher grundsätzlich rare Wertgegenstände, meist Heiligtümer waren – und ihre malerische Auszierung eine Art Gottesdienst –, da verherrlichten die beigegebenen Bilder Episoden aus dem Leben Jesu oder der Heiligen, führten Evangelisten, aber auch weltliche Potentaten in überhöhender Zeichenhaftigkeit vor. Besonders gilt dies für die liturgischen und biblischen Schriftrollen und Codices aus den Jahrhunderten vor der Erfindung des neuzeitlichen Buchdrucks durch Johannes Gensfleisch alias Gutenberg in Mainz ums Jahr 1440.

    Der weltberühmten Malschule auf der Klosterinsel Reichenau im Bodensee entstammen unumstrittene Gipfelleistungen der Buchkunst vor allem des zehnten und elften Jahrhunderts. Voller Symbole, oft auf Goldgrund, stecken die erhabenen Darstellungen in den prächtigen Sakramentaren oder Perikopen, Evangeliaren oder Evangelistaren (also den gottesdienstlichen Gebetbüchern und Bibellesen, den vollständigen oder teilweisen Abschriften der neutestamentlichen Evangelien). Obendrein war die Kultur des Mittelalters nicht nur eine der Bilder, auch der Kalligrafie: Die Schrift selbst diente den heiligen Texten zur Zier. Gutenberg strebte nicht danach, die Ästhetik vieler mönchischer Hand- und Schönschriften mit Hilfe seiner beweglichen Lettern zu überbieten; er bezweckte, ihrem faszinierenden Ebenmaß möglichst nahezukommen.

    Umso schmerzlicher, wenn dem Urheber das Wort, der Satz gelungen ist, doch seine Reproduktion missrät. Unausrottbar lebt der „Druckfehlerteufel" fort, mögen auch die Wenigsten von uns noch an den leibhaftigen Beelzebub glauben. Zeugnisse seines satanischen Übelwollens enthält jedes Buch, erst recht jede Zeitung, ungeachtet der Sorgfalt, die Autoren und Redakteurinnen, Lektorinnen und Drucker auf ihr Produkt verwenden.

    „Es irrt der Mensch, solang er strebt", lässt Johann Wolfgang von Goethe in seinem FAUST Gottvater zu Mephisto, dem Teufel, sagen ein kluger Satz: Irrtum ausgeschlossen. Wir irren zum Beispiel, wenn wir Otto als Vornamen des Bundeskanzlers Scholz vermuten; einen Fehler hingegen begeht, wer den richtigen, Olaf, versehentlich mit zwei 1 statt einem schreibt. Im Buchwesen bezeichnet der lateinische Begriff Erratum das eine wie das andere: einerseits die sachlich-fachliche Falschinformation, etwa eine unzutreffende Jahreszahl oder Ortsangabe, zum andern den falsch gesetzten Buchstaben, das vergessene oder unbeabsichtigt stehengebliebene Wort. Früher pflegte man wichtigen Büchern Listen der Errata beizugeben, die sich in sie eingeschlichen hatten: Um getreulich bis zum Schluss der Wahrheit die Ehre zu geben, enthielten die Verzeichnisse Richtigstellungen von Mängeln, die erst unmittelbar vor Auslieferung des fertig produzierten Titels aufgefallen waren. Dergleichen ist heute kaum mehr üblich, gleichwohl pfuscht der „Druckfehlerteufel weiter der Gattung Printprodukt ins Handwerk. Tut ers, wie viele jammern, heutzutage schlimmer als einst? Er tat es immer, und nach Kräften. Als Beleg mag ein tausendseitiges, erstmals 1869 erschienenes Standardwerk des Wiener Gelehrten Gustav Roskoff dienen: Bevor der Leser in den beiden Bänden den jeweils ersten Satz lesen darf, bitten ihn Register um Nachsicht, die keineswegs unmaßgebliche „Berichtigungen aufführen, zum Beispiel: „statt: Schriftstellern, lies: Kirche." Titel des Standardwerks: GESCHICHTE DES TEUFELS.

    Nichts und niemand von uns ist perfekt. Doch ist das Buch imstande, zu unserer Optimierung beizutragen. So wie Schmuck das Buch adelt und veredelt, schmücken wir uns mit dem Buch. Unter den mancherlei Möglichkeiten, Wohnungswände herauszuputzen, halten bis heute wenigstens ältere Bildungsbürger Bücher (zusammen mit CDs) für die ansehnlichste. Dabei dürfen sie sich von Hermann Hesse bestätigt fühlen: Der fand ein Haus ohne Bücher „arm, auch wenn schöne Teppiche seine Böden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken". Ob nun die Bände in den Borden geordnet neben- oder genialisch durcheinander stehen, sie schinden bedeutsam Eindruck; ob verdientermaßen oder nicht eine wohlbestückte Privatbibliothek stellt dem Bewohner das Zeugnis aus, ein informierter Kopf und kultivierter Zeitgenosse zu sein.

    Indes kennt wohl jeder, der Bücher liebt, das lustvolle Problem: Liebend gern kaufen wir mehr von ihnen, als wir lesen können. Macht nichts. Denn in den Bücherregalen, die uns daheim umgeben, lagert ja nicht einfach zentnerweise bedrucktes Papier. Sondern als Nachbarn wohnen die vielen Bände bei uns, als Informanten, Herausforderer oder Widersprecher, Realisten und Fantasten, Fluglehrer oder Tiefbohrer von ein paar Ausnahmen abgesehen lauter wohlgelittene Gefährten. Gern führen wir den durch Jahre gepflegten und vermehrten Schatz Besuchern vor und genießen ihr Staunen: „Was? So viele? Hast du die alle gelesen? Müßige Frage: Auch Regalböden sind Bretter, „die die Welt bedeuten. Einer Rechnung des Schriftstellers und besessenen Schmökerers Arno Schmidt zufolge schaffen es nicht einmal die hartnäckigsten Leser während ihres, sagen wir: 75 Jahre währenden Lektüre-getriebenen Lebens, mehr als allerhöchstens fünftausend Bücher zu verschlingen. Und selbst, wenn wir das zu leisten vermögen, entscheiden wir uns doch mit unserer individuellen Auswahl gegen ganze Bibliotheken voller anderer Bücher, die wir notgedrungen links liegen lassen, obwohl sie unserer Aufmerksamkeit womöglich ebenso wert wären oder sie noch mehr lohnten.

    Aber muss uns das verunsichern? Wohl nicht. Der Platz vor der Bücherwand, wo die Qual der Wahl süßen Druck auf uns ausübt, ist ein Ort vollkommener Freiheit. Zu welchem Band greifen wir als Nächstes: zu diesem? Oder zieht uns jener Rücken doch mehr an? Oder greifen wir zurück auf ein Werk, das wir schon einmal durchquerten? Dass wir kaum mit einem Minimalbruchteil von der Welt des Geschriebenen und Gedruckten vertraut werden, dieser Gedanke soll uns nicht schrecken.

    Papier ist nicht von Pappe

    Über Schrift verfügen die Menschen seit mindestens fünftausend Jahren, über Kleinbuchstaben die Deutschen erst seit zwölfhundert. Ums Jahr 800 kam die „Karolingische Minuskel" auf, die der handverlesenen Schar der Schreibkundigen in den klösterlichen Skriptorien eine bis ehedem ungekannte Flüssig- und Geschwindigkeit im Verfertigen ihrer Kunst bescherte. Von 1838 an entschieden sich die Brüder Grimm in ihrem DEUTSCHEN WÖRTERBUCH für die konsequente Kleinschreibung. Seither kämpfen deren Verfechter unermüdlich, wiewohl fruchtlos für ihre generelle Einführung.

    Mancherorts setzte sich eine andere Art von Kleinstschreibung durch, die sich nicht dem freien Wort und Geist verdankt. Im Fall des Schweizer Dichters Robert Walser ging sie aus einer psychischen Krise hervor: Zwischen 1924 und 1933 bedeckte er ein „Bleistiftgebiet von über fünfhundert Schreibblättern mit sogenannten Mikrogrammen, dramatischen Szenen, Lyrik- und Prosastücken auf kerzengeraden Zeilen in winzigster Schrift fast ohne Korrekturen. Bis weit nach seinem Tod im Schnee 1956 hielt man die Notate für undechiffrierbar; dann gelang es drei geduldigen Forschern, sie zu transkribieren: „Was ich schreibe, wird vielleicht einmal ein Märchen sein … Zu denken ist hier auch an den Marquis de Sade, der, 1785 in der Pariser Bastille einsitzend, auf einer zwölf Meter langen Papierrolle den brutalpornografischen Roman DIE 120 TAGE VON SODOM verfasste, in eng gesetzten Zeilen und in Chiffren, die aussehen wie die schmutzigen Hinterlassenschaften des die Zelle bevölkernden Ungeziefers.

    Gebräuchlicher findet sich Kleinstschreibung in den Botschaften von Gefangenen, denen zu schreiben verboten war und ist und die es also heimlich tun müssen. Wenn sich Häftlinge unerlaubt miteinander oder mit der Außenwelt schriftlich in Verbindung setzen, so heißt das Medium Kassiber: eine Nachricht meist auf Papierfetzen in beinah unsichtbaren Minuskeln. Aus dem Rotwelsch, dem Jargon der Gauner, kommt das Wort, das im hebräischen kethibha (das Geschriebene) wurzelt. Für Verbrecher oder solche, die dafür ausgegeben wurden –, auch für von den Nationalsozialisten internierte Juden waren derlei Miniatur-Episteln nicht selten die einzige Chance, sich eine Freiheit herauszunehmen, die ehrbare Schreiber für die höchste halten: die Wahrheit mitzuteilen. Wo sich der denkende Mensch, sozusagen entzivilisiert, auf sein Ursprüngliches zurückgeworfen sieht, ist ihm Papier als Lebensmittel unerlässlich wie Nahrung, Kleidung, ein trockener Schlafplatz. In Verliesen überall auf Erden, in den Gefangenenlagern aller Kriege, erst recht in den Gulags der Diktaturen kursieren Kassiber, will heißen: Auch im Geheimen, allen Verboten und Bedrohungen trotzend, besteht der Verstand auf Kommunikation.

    Das Mädchen Anne Frank, im Versteck seiner Familie in

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