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Die Bibel ins Heute schreiben - E-Book: Erkundungen in der Gegenwartsliteratur
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eBook433 Seiten5 Stunden

Die Bibel ins Heute schreiben - E-Book: Erkundungen in der Gegenwartsliteratur

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Über dieses E-Book

Jahrhundertelang schrieben nicht nur Exegeten, sondern vor allem auch Dichter und Literaten die Bibel weiter. Erstaunlich genug: Gerade in der zeitgenössischen Literatur werden biblische Sprachformen, Stoffe, Motive und Figuren vielfältig aufgegriffen, weiter- und umerzählt oder ganz neu gedeutet. Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter oft gerade solche, bei denen man es nicht von vornherein erwartet, sind dabei ganz eigene Exegeten. Der zweite Band der Reihe "Bibel und Literatur" erschließt diese facettenreichen Um- und Weiterschreibungen der Heiligen Schrift schwerpunktmäßig an Literatur nach 1989 in Werk- und Autorenporträts zu Sibylle Lewitscharoff, Adolf Muschg, Thomas Hürlimann, Arnold Stadler, Ralf Rothmann, Christian Lehnert, Ulrike Draesner, Ingo Schulze, Uwe Kolbe, Ulla Hahn, SAID, Friedrich Christian Delius, Durs Grünbein, Elfriede Jelinek, Ferdinand Schmatz, Paul Nizon, George Tabori, Peter Henisch, Dagmar Nick, Reinhard Jirgl u.a.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. März 2020
ISBN9783460510821
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    Buchvorschau

    Die Bibel ins Heute schreiben - E-Book - Christoph Gellner

    Literaturverzeichnis

    I. Bibel und Literatur: Zeitgenössische Panoramasplitter. Hinführung

    Zwei Szenen, zwei Spiegelungen unseres Themas, je ein Textbeispiel von einer Autorin und einem Autor – das soll am Anfang stehen.

    Lissabon: die Stadt, die wegen des Erdbebens von 1755, das Voltaire von der Leibniz’schen Theodizee kurierte, für die Erschütterung des überkommenen Gottesglaubens steht. In Pascal Merciers Bestsellerroman Nachtzug nach Lissabon (2004) kommt ein Berner Altphilologe in Portugal einem geheimnisvollen Buchautor auf die Spur, der aus altem Adelsgeschlecht stammt und sich als Atheist versteht. Insbesondere beeindruckt Raimund Gregorius die Rede des 17-jährigen Amadeu de Prado anlässlich der Schulabschlussfeier, die „EHRFURCHT UND ABSCHEU VOR GOTTES WORT überschrieben ist. Er brauche die „mächtigen Worte der Bibel, „die unwirkliche Kraft ihrer Poesie […] gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen" (Mercier 2008, 275f.). Zugleich setzt sich der spätere Arzt und Poet scharf von der Verteufelung des Körpers und des selbständigen Denkens ab, von einer Kirche, die „Dinge als Sünde brandmarkt, die zum Besten gehören, was wir erleben können (ebd., 276). Gleichwohl will er nicht verzichten auf „Worte, an denen wir von früh auf gelernt haben, was Ehrfurcht ist, auf „Worte, die uns wie Leuchtfeuer waren, als wir zu spüren begannen, daß das sichtbare Leben nicht das ganze Leben sein kann" (ebd., 277).

    Bei aller Ehrfurcht gilt Prados gezielte Abscheu der dunklen Grausamkeit Gottes, wie sie sich in der abgründig-beunruhigenden Erzählung Gen 22,1–19 zeigt, die von Abraham, seinem Sohn „und dem Schlachtbeil" erzählt (Ott 2007, 80):

    Es sind Worte, die von Abraham verlangen, den eigenen Sohn zu schlachten, wie ein Tier. Was machen wir mit unserer Wut, wenn wir das lesen? Was ist von einem solchen Gott zu halten? Einem Gott, der Hiob vorwirft, daß er mit ihm rechte, wo er doch nichts könne und nichts verstehe? […] Hat Hiob nicht jeden Grund zu seiner Klage? (Mercier 2008, 277)

    Pointiert bringt der junge Prado seine Ambivalenz gegenüber der Heiligen Schrift auf den Punkt, geht seine Bewunderung für die Bibel als einem poetischen Buch doch einher mit dem Abscheu vor Gottes Grausamkeit: „Ich brauche die Heiligkeit von Worten, die Erhabenheit großer Poesie. All das brauche ich. Doch nicht weniger brauche ich die Freiheit und die Feindschaft gegen alles Grausame. Denn das eine ist nichts ohne das andere. Und niemand möge mich zwingen zu wählen." (ebd., 282)

    Die zweite Szene führt uns nach Klagenfurt, zum 36. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb: „‚Wer schreiben will, muss lesen‘, hatte der Leiter einer Schülerschreibwerkstatt gesagt, ‚wer zum Beispiel die Bibel nicht gelesen hat, hat vieles verpasst, wer fabulieren lernen will, kann es von der Bibel lernen‘" (in Winkels 2012, 33). Die deutsch-russische Autorin Olga Martynova (*1962) gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis 2012: mit einer welthaltig-unterhaltsamen Schelmengeschichte über einen Jungen namens Moritz. Der zerbricht sich den Kopf, wie er die Eisverkäuferin, in die er verliebt ist, ansprechen soll: „Ich werde sagen: ‚Hi!‘, lautet der Titel der Geschichte. Zudem entdeckt Moritz, wie sich erzählen lässt. Wie „Die Presse aus Wien schrieb, ermöglicht es diese Erzählkonstellation der gebürtigen Sibirierin, die erst mit 30 Jahren Deutsch lernte, „eine Jugendsprache zu verwenden, die den großen Mythen der Weltliteratur Leichtigkeit und Luftigkeit verleiht (ebd., 193). Ein bravouröser Klagenfurt-Sprech- und Lesetext: eine Coming-of-Age-Story, zugleich ein kunstvolles Familien- und Geschichtstableau „von der Vertreibung aus dem Paradies über Pharaonentöchter bis zum bunten Migrantenallerlei eines vierstöckigen Mietshauses (ebd., 199).

    Die in St. Petersburg, damals noch Leningrad, aufgewachsene und heute in Frankfurt lebende Schriftstellerin bezeichnet sich selbst als eine neugierige Agnostikerin. „Ich gehe nicht in die Kirche, nein, betont sie im Interview. „Aber Bilder und Begriffe, die aus religiösen Quellen stammen, haben nach wie vor großes ästhetisches Potenzial. (in Heidemann 2016) Ihr Klagenfurt-Text, das Moritz-Kapitel aus Martynovas 2013 erschienenem Roman Mörikes Schlüsselbein, belegt dies eindrucksvoll. Was Olga Martynova an der Bibel reizt, sind nicht religiös-theologische Interessen, sondern ästhetische. Nicht von ungefähr erfährt Moritz mit dem ersten erotischen Erwachen auch seine literarische Initiation: „Hätte Adam Eva geliebt, wäre nichts passiert" (in Winkels 2012, 32): Das ist der Ausgangspunkt einer eingeschobenen Geschichte, die er in seinem Notizbuch skizziert. „Hätte Adam Eva geliebt, wäre nichts passiert. Aber Adam liebte Eva nicht. Sie war eine ihm vom Herrn gegebene Frau. So eine Frau, die alles mit einem teilt, die das Leben managt, sich kümmert" (ebd.). Erfrischend humorvoll, witzig und leicht skurril stellt sie die Lust am Fabulieren und erzählerischen Variieren vor Augen. Probiert Moritz doch regelrecht aus, wie die biblische Geschichte vom Genuss der verbotenen Frucht im Paradiesgarten (Gen 3,6) um-, fort- und weitergeschrieben werden könnte:

    Hätte Adam Eva geliebt, hätte er anders reagiert, als sie ihm sagte: „Schau, eine Frucht. Schmeckt auch. Koste mal, hat mir ein Kerl von nebenan gegeben. Was tat Adam? Er kostete, klar, warum nicht. Er war nicht wählerisch und aß alles, was sie ihm auftischte. Hätte Adam Eva geliebt, hätte er sich gefragt: „Von was für einem von nebenan bekommt meine Frau Geschenke?

    „Eva, hätte er gesagt, „bring das Ding sofort zurück und sprich nie wieder mit dem Typen von nebenan. „Mensch, hätte Eva gesagt, „er ist so ein netter, ein Engel von einem Wurm! „WURM?!", hätte Adam gesagt. Und er hätte den Feind erkannt und erschlagen. (ebd., 32f.)

    1 / Schriftstellerinnen und Schriftsteller schreiben die Bibel ins Heute

    Die Bibel hört auch in unserer Zeit nicht auf zu wirken, ja, sie erzielt nicht selten Wirkungen, wo man es am wenigsten vermutete: „Sie ist ein Buch und das Buch, sie ist wie alle Bücher und doch mehr als jedes Buch", streicht ein aktueller Sammelband Das Buch in den Büchern. Wechselwirkungen von Bibel und Literatur heraus (Pollaschegg/Weidner 2012, 33). In der Tat: „Ohne Zahl sind die stofflichen, motivischen, thematischen, stilistischen und kompositorischen Referenzen literarischer Texte auf die Bibel, die dabei im selben Maße als kultureller Wissensspeicher wie als ästhetisches, religiöses und gesellschaftliches Reflexionsmedium sichtbar wird" (ebd., 10).

    Als ein Werk der Weltliteratur, das wie kein anderes die Dichtung aller Epochen prägte und inspirierte, ist die Bibel das am meisten literarisch ausgeschöpfte Buch. Jahrhundertelang schrieben nicht nur Exegeten, sondern auch bildende Künstler, Musiker, Dichter und Literaten die Bibel weiter. Mehr noch als durch die persönliche Lektüre wird die Kenntnis und Erinnerung der Heiligen Schrift durch Literatur und Kunst wachgehalten, die die Bibel illustriert und ausdeutet.

    Die kirchlich-katechetische ebenso wie die künstlerisch-kreative Rezeption der Bibel zeigt, wie unser Vorverständnis durch ein weites Feld vielfältiger Interpretation geformt ist. Jeder Leser, jede Hörerin der Bibel ist in die Kette ihrer Auslegung gestellt, deren Stimmenvielfalt einen Gedächtnis- und Echoraum fortlaufender Tradition und Applikation bilden, der ihren Text wie ein Kokon umgibt. Wer als Schriftstellerin oder Schriftsteller auf die Bibel Bezug nimmt, bezieht sich nicht nur auf das Buch der Bücher, sondern – zumindest implizit, häufig bewusst und explizit – auch auf dessen plurale religiös-spirituelle und kulturelle Wirkungsgeschichte.

    Worum es in diesem Buch geht

    Erstaunlich genug: Gerade in der zeitgenössischen Literatur werden biblische Sprachformen, Stoffe, Motive und Figuren vielfältig aufgegriffen, berichtigt, weiter- und umerzählt oder ganz neu gedeutet. Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter oft gerade solche, bei denen man es nicht von vornherein erwartet, sind dabei ganz eigene Exegeten. Vielfach gebrochen, verfremdet und gegen den Strich gebürstet, erfahren die scheinbar vertrauten, oft zur Floskelhaftigkeit abgeschliffenen und verharmlosten biblischen Texte, Gestalten und Sujets unter ihren Händen aktualisierende Neu- und Umgestaltungen, zeitgenössisch pointierte Neuvergegenwärtigungen, die die Bibel buchstäblich ins Heute schreiben.

    Darin liegt eine doppelte Herausforderung: Einerseits vermag die Fachgermanistik ohne fundierte Bibelkenntnis einen Großteil der modernen Literatur kaum zu erschließen. Karin Schöpflin beklagt im Vorwort ihrer Übersichtsdarstellung Die Bibel in der Weltliteratur zu Recht, „dass biblische Bezüge bei der Lektüre literarischer Werke viel zu wenig bedacht werden" (Schöpflin 2011). Durch das vielfach konstatierte Schwinden biblischen Wissens im neuen Jahrtausend verschärft sich diese Situation. Andererseits werden Theologie und Kirche durch die Literatur mit einem Fortwirken der Bibel und ihrer diagnostisch-erhellenden Enthüllungskapazität konfrontiert, das als Ausdruck zeitgenössischer Wirklichkeitsdeutung eingespielte Plausibilitäten im Umgang mit der Heiligen Schrift aufbricht und heilsam in Frage stellt. Gegen alle Abnutzung, Verharmlosung und Entschärfung gewinnt sie so wieder die aufstörende Brisanz und Aktualität eines ungemein erfahrungsgesättigten Lebensbuches.

    Kein Wunder, dass sich auf dem Grenzgebiet von Theologie und Literatur im Lauf der letzten Jahrzehnte ein profilierter Forschungszweig herausgebildet hat, der sich mit den facettenreichen Neu-, Gegen-, Fort- und Weiterschreibungen der Bibel im Raum der Dichtung beschäftigt. Gleichzeitig entstand im angloamerikanischen Bereich eine breite Diskussion über die Bibel als Literatur, die im deutschsprachigen Raum sowohl in der Bibelwissenschaft als auch im literaturwissenschaftlichen Kontext zunehmend rezipiert wird. Vereinzelt haben Bibelexegeten zudem begonnen, die literarisch-künstlerische Wirkungsgeschichte der Heiligen Schrift in die theologische Arbeit einzubeziehen. Exegese, die sprach- und vermittlungsfähig bleiben will, tut gut daran, die literarische Rezeption biblischer Texte stärker zu berücksichtigen und fruchtbar zu machen.

    „Schriftsteller haben schon lange gewusst, dass die Bibel eigentlich alle Geschichten enthält, die sich denken lassen", stellt Michael Krüger (*1943) den ungeheuren Stoff heraus, der die Bibel zu einem gigantischen Geschichtenbuch macht. „Sie weiß alles über Liebe und Macht, Strafe und Vergebung, Schuld und Sühne, Gewalt und Erlösung. Alle Geschichten, die wir erleben (und oft erleiden), sind in ihr eingeschlossen." (in Vilshofen 2003, 8) Michael Krüger setzt in seinem Vorwort zur Anthologie Biblische Geschichten neu erzählt hinzu, eigentlich komme es „nur darauf an, sie […] in unsere Sprache zu übersetzen" (ebd.). Damit kommt ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher intertextueller Bezugnahmen und literarischer Auseinandersetzungen in den Blick – vielfältige Wechselbezüge zwischen Bibel und Literatur in Anknüpfung und Widerspruch, als Fortschreibung wie als Umdeutung der Heiligen Schrift.

    Das aber heißt: Zwischen Verfremdung und Neuschöpfung, Zustimmung und Absetzung oder Abweichung, zwischen Bibeltreue und Bibelkritik loten Schriftstellerinnen und Schriftsteller – oft bewusst außerhalb des Glaubenshorizonts von Synagoge und Kirche – neue existenzleitende Sinnmöglichkeiten der Bibel aus. Die nämlich stellt ein schier unerschöpfliches Sprach-, Motiv- und Deutungsreservoir bereit für die Selbstauslegung und Selbstaufklärung des Menschen, für Zeit-, Lebens- und Weltdeutung. Zu Recht betonen Andrea Polaschegg und Daniel Weidner, dass „die Geschichte der wechselseitigen Abwehr und Adaption von Bibel und Literatur eine vielstimmig-vielförmige „bibelliterarische Gemengelage im Spannungsfeld zwischen Bruch und Tradition (Polaschegg/Weidner 2012, 26) darstellt. Dabei zeigt sich einmal mehr: „Wer die Bereiche Literatur auf der einen Seite, Theologie auf der anderen mit einem ‚und‘ verknüpft", so der Würzburger Pastoraltheologe Erich Garhammer in seinem jüngsten Buch Erzähl mir Gott, „muss wissen, dass dieses ‚und‘ nicht harmlos sein kann oder je war, sondern höchst spannungsgeladen." (Garhammer 2018, 12)

    Darum soll es gehen in diesem Buch, das die vielfältigen Adaptionen und Transformationen biblischer Sprachformen, Stoffe, Motive und Figuren im Raum der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schwerpunktmäßig nach 1989 in prägnanten Werk- und Autorenporträts erschließt. Motiv- und autorenbezogen werden thematisch bedeutsame Einzelwerke und herausragende Werkkomplexe beleuchtet, wobei maßgebliche lebens-, werk- und zeitgeschichtliche Kontexte ebenso in den Blick genommen werden sollen wie literaturtheologische Rückblenden zur besseren Einordnung. Ganz unterschiedliche individuelle Profile sowie autorenspezifische Schreibweisen und Haltungen sind herauszuarbeiten. Sie sind in ihrer Vielfalt auf keinen Nenner zu bringen, nicht vorschnell auf eine Tendenz zu reduzieren und lassen erst im Gesamten die Umrisse eines Panoramas entstehen, das keine Vollständigkeit beanspruchen kann.

    Gewiss lässt sich beobachten, dass die Literaturwissenschaft dazu tendiert, Relevanz und Dignität ihres Gegenstandsbereichs „entlang der Differenzlinie ‚ästhetisch versus religiös‘ zu konstituieren und sich allein für Ersteres zuständig zu erklären, während die theologische Forschung dazu neigt, Bibelallusionen in literarischen Texten eo ipso als Ausweis eines religiösen Gehalts dieser Texte zu lesen" (Polaschegg/Weidner 2012, 32). Beides gilt es zu vermeiden. Bibelrezeption ist nicht pauschal ein „Phänomen von Religiosität in der Gegenwartsliteratur" (Braun 2018, 17). Michael Braun verweist selbst auf existentielle und ästhetische Motivationslagen, exemplarisch treten sie etwa bei Pascal Mercier und Olga Martynowa zu Tage. Nicht wenige Autoren und Autorinnen, denen die religiöse Bedeutung der Bibel gleichgültig ist, lesen sie als literarisches Meisterwerk und großes Menschheitsbuch.

    Neue Aufmerksamkeit für Religiös-Spirituelles

    Was Nachtzug nach Lissabon zu einem Schlüsselroman des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts macht – hinter dem Autorenpseudonym verbirgt sich der Schweizer Philosophieprofessor und Schriftsteller Peter Bieri (*1944) –, ist nicht die scharfe Kritik an Gott, Kirche und institutionalisierter Religion, die die moderne Literatur seit Heinrich Heine durchzieht. In der erzählten Welt des Nachtzug-Romans sind Kirche und Religion allein schon durch ihre fatale Komplizenschaft mit der barbarischen Salazar-Diktatur diskreditiert, gegen die der humanistische Dichterarzt Amadeu (dt. Gottlieb!) Prado im Untergrund kämpft. Was diesen Bestsellerroman zu einem zeitdiagnostisch aufschlussreichen Schlüsseltext macht, ist – in der melancholisch gefärbten Ambivalenz von Ehrfurcht und Abscheu – eine bemerkenswerte neue Offenheit für die Dimension des Transzendenten. „Prados Rückfragen an den Gottesglauben legen den Finger auf deutungsbedürftige Leerstellen des Glaubens, ohne die Verluste zu verschweigen, die mit dem Abschied vom Gottesglauben verbunden sind" (Tück 2010, 37).

    Nicht von ungefähr werden in Nachtzug nach Lissabon sowohl von Amadeu Prado als auch von Raimund Gregorius positiv erfahrene Kirchenbesuche berichtet. „Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt, lautet das Credo des frühreifen 17-Jährigen. „Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirche. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. (Mercier 2008, 275) Trotz seiner scharfen Kritik an dunklen und gewaltsamen Zügen biblischer Gottesüberlieferung, an der Freiheitsberaubung im Namen eines Gottes, der nichts als Gehorsam verlangt, bekundet er „Ehrfurcht für die Bibel und die „unwirkliche Kraft ihrer Poesie; ihre „mächtigen Worte preist er als „Leuchtfeuer für die Ahnung und Sehnsucht, dass das Sichtbar-Zuhandene nicht die ganze Wirklichkeit sein kann.

    Jahre nach dieser Gymnasiastenrede schreibt Amadeu de Prado an seinen ehemaligen Lehrer, Pater Bartolomeu: „Es gibt Dinge, die für uns Menschen zu groß sind: Schmerz, Einsamkeit, Tod, aber auch Schönheit, Erhabenheit und Glück. Dafür haben wir die Religion geschaffen. Was geschieht, wenn wir sie verlieren? Jene Dinge sind dann immer noch zu groß für uns. Was uns bleibt, ist die Poesie des einzelnen Lebens. Ist sie stark genug, uns zu tragen? (ebd., 659) Durch ein solches „Offenhalten der letzten Fragen bei gleichzeitig schmerzlichem Bewusstsein für die Verluste des Glaubens, der ihm als Kind alles gegeben hat, unterscheidet sich Amadeu de Prado in der Tat „von einem fugendicht abgeschlossenen Atheismus. Ja, sein „ausgeprägtes Sensorium für Leerstellen im Gottesdiskurs steht jenseits von religiösem Indifferentismus und bornierter Gottesvergessenheit, „selbst im Akt der Verneinung hält der fromme Atheist das Gespräch über Gott wach" (Tück 2010, 52).

    Überraschend genug: Auch wenn dies kein Massenphänomen ist, lässt sich in der Gegenwartskultur ein bemerkenswerter Vorzeichenwechsel gegenüber Religiös-Spirituellem beobachten, ein bedeutsamer kultureller Klimawandel, ja, ein Unbehagen an immanenter Eindimensionalität („Is that all there is?), das an die Stelle Jahrzehnte lang selbstverständlich-unbefragter Religionsvergessenheit getreten ist. Lange tabuisierte, im gesellschaftlichen Mainstream scheinbar „erledigte Fragen nach Transzendentem werden neu bedeutsam. Gerade im Raum der Gegenwartsliteratur ist in den letzten 15, 20 Jahren eine neue Nachdenklichkeit hinsichtlich der Gottesfrage festzustellen, eine neue Aufmerksamkeit gerade für das, was fehlt, wenn Gott fehlt. Mit Jürgen Habermas kann man von einem „postsäkularen Bewusstseinswandel in der Wahrnehmung von Religion(en) reden, der nicht „als Umkehr säkularer Tendenzen zu verstehen ist, vielmehr als ein „verändertes Selbstverständnis der weitgehend säkularisierten Gesellschaften Westeuropas" (Casanova 2015, 17).

    Ein sensibler Beobachter wie der evangelische Theologe Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD, sieht „die religiöse Lage der Gegenwart „von einer irritierenden Ambivalenz geprägt: Es stehen sich nicht mehr eine feste, selbstgewisse Kirchengläubigkeit und ein ebenso fester, selbstgewisser Atheismus kämpferisch gegenüber, vielmehr stehen die meisten in einem ‚Irgendwo zwischen Glauben und Nichtglauben‘ (R. S. Thomas). (in Bahr 2008, 22f.) Der literaturaffine katholische Systematiker Jan-Heiner Tück weist auf „Suchbewegungen hin, „welche die Grenzen zwischen Glaube, Halbglaube und Nichtglaube durchlässig werden lassen (Tück 2012). Angesichts anthropologischer Grund- und Grenzerfahrungen, existentieller Widerfahrnisse von Glück und Liebe, Unglück, Krankheit, Trauer und Tod gebe es im säkularen Raum „Potenziale zur Verständigung zwischen Gläubigen, Suchenden und Nichtgläubigen" (ebd.). Wie Glaube kein Besitz ist, der vor Irritationen sicher wäre, bleiben auch Nichtglaubenden Erschütterungen nicht erspart – ein methodisch-hermeneutisches Fazit für den Umgang mit Feuilletonkritik und Literaturwissenschaft, deren Text- und Werkerschließungen in diesem Buch ebenso berücksicht werden sollen wie Selbstkommentare von Schriftstellerinnen und Schriftstellern?

    Die Rezeption von Literatur verarmt, wenn religiöse Spuren überlesen werden oder eine methodisch enggeführte Philologie die anthropologische Verständigung über letzte Fragen blockiert und damit lebensweltliche Sinn-Erschließung einklammert. Schön wäre es, wenn sich das geschulte Auge für die literarischen Feinheiten eines Textes mit dem geschärften Blick für die Grammatik des Menschen verbinden ließe, der nie nur bei sich ist, sondern immer auch über sich hinausgeht. (Tück 2016, 48)

    Durchaus bemerkenswert: Trotz seiner dezidierten Kritik an Kirche und Christentum ist Nachtzug nach Lissabon durchzogen von sinnstiftenden biblischen Zitaten und Anspielungen. Kaum zufällig kommt der Berner Altphilologe mit dem Porzellanfabrikanten José António da Silveira über die Bibel in ein tiefgründiges Gespräch. Schon im Speisewagen des Nachtzugs, wo sie sich erstmals begegneten, hatte Gregorius ihm den hebräischen Wortlaut von Gen 1,3 auf die Serviette geschrieben. Später bittet ihn Silveira, etwas aus der Bibel auf Griechisch aufzuschreiben. Gregorius notiert die Anfangssätze des Johannes-Evangeliums (Joh 1,1–4). Silveira holt seine Bibel, liest die Übersetzung dieser Verse und kommt zum Schluss:

    „Also ist das Wort das Licht der Menschen […] Und so richtig gibt es die Dinge erst, wenn sie in Worte gefaßt worden sind. „Und die Worte müssen einen Rhythmus haben, sagte Gregorius, „einen Rhythmus, wie ihn zum Beispiel die Worte bei Johannes haben. Erst dann, erst wenn sie Poesie sind, werfen sie wirklich Licht auf die Dinge. Im wechselnden Licht der Worte können dieselben Dinge ja ganz unterschiedlich aussehen." (Mercier 2008, 648)

    Die Bibel ist wirklich ein Hammer: Ralf Rothmann

    Noch deutlicher lässt sich bei Ralf Rothmann (*1953) die „neue Offen-, ja, „Unbefangenheit (Langenhorst 2014, 34 u. 342) im Umgang mit Religion beobachten. Rothmann gehört einer jüngeren Schriftstellergeneration an als Pascal Mercier. Seine 1998 erschienene Nach-68er-Jugendbiographie Flieh, mein Freund! exemplifiziert eindringlich die Tendenz zeitgenössischer Erzählliteratur, den banalen Alltagsrealismus durch die Reaktivierung biblisch-religiöser (Sprach-) Muster auf eine „andere Dimension hin aufzubrechen: „Die Bibel ist wirklich ein Hammer. Manchmal jedenfalls, lässt Rothmann seinen „Helden Louis Blaul (Spitzname: Lolly) im coolen Jargon der Zwanzigjährigen ausrufen. Der Romantitel verdichtet gewissermaßen sein Lebensmotto: „Flieh, mein Freund! Sei wie eine Gazelle oder wie ein junger Hirsch auf den Balsambergen! – Hoheslied. Könnte von mir sein. Denn eigentlich möchte ich immer abhauen. (Rothmann 1998, 180; siehe Hld 8,14)

    Lolly wirft einen naiv-kritischen Blick auf die kaputte Welt der Erwachsenen, die ihren Kindern meinen sagen zu müssen, wie spießig sie sind. Er hält seine 68er-Eltern für „eine gottlose Generation, eine Generation ohne Himmel (ebd., 110). Sein Drang, aus diesen Verhältnissen auszubrechen, ist mehr als verständlich. Dass er ihn mit Hilfe der Bibel zum Ausdruck bringt, erstaunt ebenso wie Lollys Einstellung zum Religionsunterricht, den er „ziemlich geil findet:

    Weil es in Glaubenssachen nämlich keine Virtuosen gibt und dieser ganze Leistungskrampf wegfällt und die ewig aufgeweckten, schon vor dem Abi an ihre Doktorarbeit denkenden Klassenbesten endlich mal ein dummes Gesicht machen bei Wörtern wie Wunder, Zerknirschung oder Gnade. – Andererseits: die machtkranke Kirche kannst du natürlich vergessen; jede Mispel ist mehr Jesus als dieser Papst. (ebd., 21)

    In einem viel zitierten Schriftstellergespräch aus dem Jahr 2000 hielt Rothmann fest, er sei „ja brachial katholisch erzogen worden und „bis zur Pubertät inbrünstig katholisch gewesen. „Schon in der katholischen Kirche mit all dem Gold und dem Glitter und Weihrauch-Pomp drängte sich bei mir die Ahnung auf, das Schöne und das Göttliche – irgendwie sind die eins." (in Richter 2000) Nicht zuletzt durch ihre immer wiederkehrenden Bibellektüren sind Rothmanns Romane und Erzählungen voll von „sakralen Ausdrucksformen, die „längst so sehr säkularisiert worden sind, dass sie fast nur noch auffallen, wenn sie aus diesem weltlichen Bedeutungsnetz herausgerissen werden (Braun 2018, 181). Albrecht Schöne sprach schon im Titel seiner vielgelesenen Studie zur Dichtung deutschsprachiger Pfarrersöhne von der „Säkularisation als sprachbildender Kraft": sie führte nicht nur zur freien Verfügbarkeit biblischer Motive, Metaphern und Vorstellungen, ja, zu ihrer schier grenzenlosen Verbreitung und Vermischung mit anderen Bildfeldern und Denkbildern, sondern verhalf der Literatursprache auch zu einer enormen Vielfalt an keineswegs nur ironisch-satirischen bzw. blasphemischen Ober-, Zwischen- und Untertönen. Im postsäkularen Gegenwartskontext wird daran unter veränderten Vorzeichen bewusst wieder angeknüpft.

    In einem Gespräch mit Anja Maria Richter unterstrich Ralf Rothmann, „dass ihm religiöse Aspekte im konfessionellen Sinn eher fremd seien; vielmehr hätten ihn die Schriften der deutschen Mystiker, vornehmlich die Predigten Meister Eckharts, sowie dessen Nähe zum Buddhistischen, in seinem Tun und Denken beeinflusst" (in Richter 2010, 131). Er würde sich „auch als Christ bezeichnen, ja, sagte Rothmann 2012 in einem weiteren Interview. „Die neben Buddha für mich faszinierendste Erscheinung ist schon Jesus Christus […] Das ist eine Figur, die mir umso näher geht, je älter ich werde. (in Heidemann 2012)

    „In der Bibel meiner Eltern, einem zerschabten Lederexemplar voller Kassenzettel von Schätzlein, hat jemand einen Vers im Alten Testament angestrichen – nicht mit einem Stift, sondern wahrscheinlich mit dem Finger- oder Daumennagel" (Rothmann 2018, 13). Es handelt sich um Gottes Wort an Kain, den Brudermörder (Gen 4,12.14): „‚Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben‘, war da zu lesen. „‚Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden‘. (ebd.) Rothmanns 2015 erschienener Roman Im Frühling sterben erzählt dazu die passend ausgesponnene Geschichte, sie handelt von Walter Urban und Friedrich („Fiete") Caroli, zwei 17-jährigen Melkern aus Norddeutschland, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs im Februar 1945 zwangsrekrutiert werden. Es ist die Geschichte von Rothmanns eigenem Vater, wie so viele Kriegsteilnehmer hat dieser sie zeitlebens verschwiegen. Auf Befehl des Kommandanten wurde er im letzten Kriegsfrühjahr in Ungarn zusammen mit einigen Stubenkameraden ausgesucht, an seinem besten Freund, der desertiert und von den Feldjägern wieder eingefangen worden war, das Todesurteil zu vollstrecken. Hätte er sich geweigert zu schießen, wäre er an die Front geschickt worden.

    Rothmann gibt seiner Erzählung „eine biblische Grundierung" (Braun 2018, 180) und legt damit selbst eine Deutespur, wie sie verstanden werden kann: „als Geschichte eines Kain und Abel des letzten Kriegsfrühlings" (Schambeck 2017, 82). Als Elisabeth, Walters spätere Ehefrau, ihn nach dem Krieg wiederbegegnet und ihn fragt, warum er nicht auf Fiete aufgepasst habe, runzelt Walter die Stirn und antwortet: „Bin ich denn sein großer Bruder? Er kämpfte in einer ganz anderen Einheit" (Rothmann 2018, 222), doch entlastet ihn das nicht. Sein ganzes Leben trägt er den Fluch dieser ihm aufgezwungenen (Un-) Tat mit sich herum. Selber der Versorgungseinheit der Waffen-SS zugeteilt, ist Walter tief erschrocken, als er erfährt, dass die Amerikaner nach Kriegsverbrechern suchen, die „an ihren Tätowierungen, den Blutgruppen zu erkennen seien: „Die sind das Kainsmal. (ebd., 182) In Elisabeths Kammer liest er dann das erste Mal in seinem Leben in der Bibel, er „blätterte in dem alten Lederband, an „ein paar Versen im Buch Mose hielt er inne und „ritzte die Stelle mit dem Daumennagel an (ebd., 225). Das intergenerationelle Trauma verdichtet Ralf Rothmann in dem dem Roman vorangestellten Motto, einem Zitat des Propheten Ezechiel (Ez 18,2): „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. (ebd., 5)

    Fabulieren wie die Bibel, fabulieren mit der Bibel: Neben unterschiedlichen Motivlagen (existentiell-anthropologisch, literarisch-ästhetisch, religiös-spirituell) können ganz verschiedene Bezugsgrößen im Spiel sein: biblische Sprachformen und Textgattungen, Stoffe und Motive, Personen, Gestalten und Figuren. In den folgenden drei Abschnitten dieser Hinführung soll dies anhand gezielt ausgewählter ‚Müsterchen‘ aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur näher erhellt werden. Geht es um „Bibel und Literatur, geht es vor allem „um Zitate und Antizitate, um Paraphrasierung, Aktualisierung oder Verfremdung, um Parodierung oder Umdeutung (Seip 2006, 207f.). Um die Breite und Vielfalt der Rezeptionsmöglichkeiten und -muster anschaulich zu machen, stelle ich einen bunten Bogen pointierter Neu-, Gegen- und Weiterschreibungen der Schrift durch zeitgenössische Autorinnen und Autoren vor. Um die für die folgenden Werk- und Autorenporträts zentrale Bedeutung biografischer Prägungen und Entwicklungen zu verdeutlichen, werden exemplarisch Lese- und Lebenserfahrungen drei ganz unterschiedlicher SchriftstellerInnen mit der Bibel vorgestellt. Als motivbezogene Tiefenbohrung stehen die literarischen Bearbeitungen und Neudeutungen der bereits von Olga Martynova angerissenen Schöpfungserzählung(en) der Genesis am Anfang.

    2 / Beginnen wir bei Adam und Eva

    Die Geschichte von Adam und Eva ist wohl die bekannteste Erzählung des Alten Testaments. Kaum ein Text der hebräischen Bibel hat ein so reichhaltiges Fortleben in Theologie, Philosophie und Kunst erfahren, kaum ein anderes biblisches Sujet wurde in der Literatur bis ins 21. Jahrhunderts so oft aufgegriffen wie die Schöpfungserzählungen der Genesis. Die Geschichten von der Erschaffung der Welt und des ersten Menschenpaars (Gen 1–3) stellen so etwas wie den Anfang aller Geschichten dar. Als narrative Erklärungen, warum etwas ist, wie es ist, wird in den biblischen Ur-Geschichten „nicht von einmalig-vergangenem, sondern von bestimmend-wirksamem Geschehen erzählt" (Busslinger-Simmen 1985, 14). Pointiert formuliert der Alttestamentler Erich Zenger: Die Ur-Geschichten der Genesis (Gen 1–11) „erzählen nicht Einmaliges, sondern Allmaliges als Erstmaliges. Sie erzählen, was ‚niemals war und immer ist‘, sie decken auf, ‚was jeder weiß und doch nicht weiß´". Mythisch-poetisch entfalten sie die Grundgegebenheiten der condition humaine und wollen so „helfen, mit diesem vorgegebenen Wissen und Wesen das Leben zu bestehen" (in Müllner 2016, 252).

    Wie die Welt angefangen hat? Schöpfungs-, Ursprungsgeschichten und Weltanfangsspiele sind für Schriftstellerinnen und Schriftsteller immer wieder faszinierend. Dies gilt für Jutta Richters (*1955) Jugendbuch Der Anfang von allem (2008), das einen Bogen von der Erschaffung des Menschen bis zum Brudermord spannt, ebenso wie für Anne Webers (*1964) Prosasammlung Im Anfang war (2000), das die bekanntesten Geschichten des Alten Testaments gegen den Strich bürstet, wobei ironische Verspieltheit mit ernsthaft Bedeutsamem wechselt. In seinem Vermächtnisbuch Als der Himmel noch nicht benannt war geht Dieter Forte (1935–2019) bis in die Zeit zurück, als die Menschen anfingen, „dieser fremden Welt und all den rätselhaften Dingen in ihr Namen zu geben: „Diesen Klumpen Erde zu unserer Welt zu machen. (Forte 2019, 68) Im Verweis auf Bibel und altorientalische Mythen – „In der Bibel stehen die alten Geschichten aus

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