Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ich, Conrad Lyriman
Ich, Conrad Lyriman
Ich, Conrad Lyriman
eBook533 Seiten8 Stunden

Ich, Conrad Lyriman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Auf verschlungenen Wegen gelangt ein Manuskript aus dem frühen 15. Jahrhundert in die Hände eines Archivmitarbeiters. Ein Sensationsfund! Es handelt sich um die Erinnerungen des Berner Kaufmanns Conrad Lyriman, der der Stadt Basel die Fehde erklärte.

Der Streitfall ist in mehreren Archiven belegt. Doch so zahlreich die Quellen sind, über Vorgeschichte, Ausmass und Dauer des Konflikts verraten sie nichts. Viele offene Fragen bieten Freiraum für Interpretationen: Was veranlasste Meister Conrad zu diesem Schritt? Weshalb gelang es den Obrigkeiten Berns und Basels jahrzehntelang nicht, den Zwist zu schlichten? Welche Rolle spielten der Oberstzunftmeister aus Basel und die Bürgermeistersgattin aus Konstanz, die Glasmacher aus dem Breisgau und die Räuberbande eines Simmentalers? Das Konvolut von mehreren Hundert Blättern gibt nun Aufschluss über die Hintergründe des damaligen Geschehens. Verfasser ist Conrad Lyriman selbst. Von allem, was er hatte, ist ihm nur seine Tochter geblieben. In krakeliger Handschrift zeichnet er für sie auf, wie alles war.

Oder ist auch das nur eine Spielart einer möglichen Interpretation?
SpracheDeutsch
HerausgeberZytglogge Verlag
Erscheinungsdatum11. März 2024
ISBN9783729624221
Ich, Conrad Lyriman

Ähnlich wie Ich, Conrad Lyriman

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ich, Conrad Lyriman

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ich, Conrad Lyriman - Hansjörg Roth

    Inhalt

    Cover

    Vorsatz

    Impressum

    Titel

    Vorwort des Herausgebers

    Erster Stoß

    Der Frischling

    Zweiter Stoß

    Die Biene

    Dritter Stoß

    Das Wiesel

    Vierter Stoß

    Der Wolf

    Fünfter Stoß

    Der Keiler

    Nachwort des Autors

    Dank

    Anhang

    Monatsnamen

    Orts- und Straßennamen

    Über den Autor

    Über das Buch

    empty

    Hansjörg Roth

    Ich, Conrad Lyriman

    Autor und Verlag danken für die Unterstützung:

    emptyempty

    Burgerliche Gesellschaft zu Kaufleuten

    Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

    © 2024 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Thomas Gierl

    Coverbild: Staatsarchiv Basel-Stadt, Politisches A 2

    Umschlaggestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig

    eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

    ISBN ePub: 978-3-7296-2422-1

    www.zytglogge.ch

    Hansjörg Roth

    Ich,

    Conrad Lyriman

    Roman

    empty

    Vorwort des Herausgebers

    Das dunkle Leder war speckig und abgegriffen. Keine Titelei, die Aufschluss über den Inhalt gegeben hätte. Nur auf der Innenseite des Buchdeckels ein etwas ausgebleichter Stempel: Lade IV, Regal 17.B – E. A. Leiermann.

    Das dicke Buch war in paraffinbeschichtetes Papier eingewickelt und auf altmodische Weise verschnürt. Sowohl Absender als auch (meine) Adresse fehlten. Der Postbote konnte es also nicht in den Briefkasten gelegt haben. Aber wer dann?

    War es ein Versehen? War ich der richtige Empfänger?

    Im Buchinnern lag ein Umschlag mit folgendem Brief:

    Sehr geehrter Herr

    Ich ersuche Sie höflich, den Inhalt in gefälligen Augenschein nehmen zu wollen. Vielleicht, dass Sie eine Verwendung finden. Sei es zur Abgabe in ein Archiv oder ein Museum. Möchte auch sein, dass Sie als (wie ich erfahren habe) handschriftkundiger Fachmann es lesen wollten – wozu ich leider nicht befähigt bin –, um über letztgültige Verwendung zu verfügen.

    Inliegendes Buch stammt aus dem Nachlass meiner Tante. Sie lebte achtundsechzig Jahre im ehemaligen Klarissenkloster «Paradies», Kanton Thurgau, das auch nach dem Kauf, Umbau und der Umnutzung durch eine großindustrielle Firma noch zwei Klosterschwestern beherbergte. Von diesen beiden ist meine Tante als Letzte im vergangenen Herbst (aus naheliegenden Gründen kinderlos) verstorben.

    Den Nachlass hatte sie seinerzeit von ihrem Vater (meinem Großvater) geerbt, der sich im Laufe seiner Jahre eine derart umfangreiche Bibliothek zugelegt hatte, dass er jedes Buch mit einem Standortstempel versehen hat. In Ermangelung genügenden Platzes hatte meine Tante dieses überdimensionale Erbe im ehemaligen Refektorium des Klosters unterstellen können. Nun aber mit ihrem Tod dieses Mandat beendet und die Bibliothek (leider) an mich als einzigen Erben übergegangen ist, kommt mir in meinem ebenfalls schon vorgerückten Alter die Bürde zu, aus denselben, oben angesprochenen Platzgründen das Wichtige vom weniger Wichtigen zu scheiden.

    Deshalb dieses Paket an Sie mit der Bitte um freundliche Akzeptanz. Ob es sich bei seinem Inhalt um ein Tagebuch handelt, wie meine Tante bei meinen seltenen Besuchen hin und wieder angedeutet hatte, kann ich, wie gesagt, nicht beurteilen. Auch wie es überhaupt zu meinem Großvater gelangt ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Möglich, dass es schon länger im Besitz unserer Familie war.

    Vielleicht, dass es Ihnen von nützlicherem Wert sein könnte als mir?

    Mit verbindlichstem Dank und Gottes Gruß.

    Benedikt Leiermann

    Ich muss gestehen, dass mich der Brief etwas ratlos machte.

    Vieles ließ auf interessante Familienverhältnisse schließen, aber noch viel mehr wurde dabei verschwiegen. Wie allgemein bekannt, sind die Angaben zur Provenienz eines Objekts ebenso wichtig wie das Objekt selbst, damit es in einen größeren Sachkontext gestellt werden kann. Hier aber fehlten wichtige Details, angefangen beim genauen Absender und Datum bis hin zu ..., aber ich schweife ab.

    Nun ist es schon so, dass ich seinerzeit als noch amtierender Hilfsassistent des hiesigen Staatsarchivs manches Dokument aus Privatbesitz zugestellt bekommen habe. Insofern durfte ich mich auch im vorliegenden Fall durchaus als geeigneten Empfänger betrachten. Nur hatte es sich dabei meistens um Schriftstücke gehandelt, die jemand auf dem Trödelmarkt erworben hatte und deren Echtheit überprüfen lassen wollte. Oder deren Erwerb nachträglich eine Art Gewissensbisse verursachte – denn es handelt sich dabei ja immer um ein Zeugnis von gewissem historischem Wert –, weshalb der eine oder andere Besitzer fand, ein sachgerecht klimatisiertes Archiv sei vielleicht doch der bessere Aufbewahrungsort als die eigenen vier wohltemperierten Wände. (Was ich nur bestätigen kann.)

    Das vorliegende Exemplar aber überraschte mich gleich in mehrfacher Hinsicht. Erstens umfasste das Buch mehrere hundert Blätter und war in einer Handschrift geschrieben, die, obwohl die braune Tinte stellenweise verblasst war, eindeutig aus der Zeit um 1400 stammen musste. Diese Koinzidenz – ein solcher Umfang aus einer solch frühen Zeit – war allein schon außergewöhnlich. Zweitens wiesen die Blätter (allesamt aus Papier, kein Pergament) zwar Spuren von Mäusefraß und falscher Lagerung auf. Doch mussten diese Blessuren bereits vor der Niederschrift bestanden haben, denn der Text schlängelte sich achtsam um die ramponierten Stellen herum. Und drittens waren die Blätter beidseitig so eng und in einer derart ungelenken Handschrift beschrieben, dass der Text unmöglich von einem damals ausgebildeten Berufsschreiber hätte stammen können.

    Aus rein professionellen Gründen interessierten mich natürlich noch andere Details. Beispielsweise die Anordnung der Blätter. Diese hat man sich nicht etwa als lose Einzelblätter vorzustellen, sondern als die damals üblichen Viertelbögen, die in mehreren sogenannten «Lagen» ineinandergelegt und gebündelt waren. Die meisten wiesen zudem Wasserzeichen auf, vor allem das «Dreiblättrige Kleeblatt» oder den «Handschuh», die seit den 1410er-Jahren in vielen Archiven zu finden sind und auf eine Papierproduktion aus Oberitalien hinweisen. Hingegen konnten Faden und Bindung des Buches wiederum nicht aus der Zeit der Niederschrift stammen, sondern verrieten eine Bindetechnik, die erst rund ein Jahrhundert später üblich wurde.

    Da ich Sie hier aber nicht mit Fachsimpelei langweilen will, zurück zum Wesentlichen.

    Sollte es sich bei meinem Exemplar tatsächlich um ein Tagebuch handeln (wie Sie sehen, hatte mich die Euphorie bereits in diesem frühen Stadium so gepackt, dass ich es schon als mein Exemplar ansah) – zudem aus einer Zeit, deren Alltag noch weitgehend schriftlos verlaufen war –, dann wäre das eine historische Sensation!

    Erste Lebensbeschreibungen sind zwar schon aus der Antike bekannt. Doch als eigentliche Autobiografien – und als eine solche müssten diese Aufzeichnungen gelten – sind auf dem Gebiet der heutigen Schweiz vor allem die des Berner Ratsherrn Ludwig von Diesbach (1452–1527) zu nennen und, wohl am bekanntesten, jene Thomas Platters (1499–1582), der seinen Lebensweg vom Walliser Hirtenbub zum Basler Universitätsrektor beschrieben hat.

    Und tatsächlich. Schon die Lektüre der ersten Seiten bestätigte meine Vermutung. Doch zeigte sich, dass es nicht die Aufzeichnungen einer seinerzeit bekannten Persönlichkeit waren, sondern die eines Verfassers, der aus eher bescheidenen Verhältnissen stammte. Und je weiter ich in die Lektüre eintauchte, desto deutlicher wurde, dass hier auch kein versierter Chronist am Werk gewesen sein konnte.

    Vielmehr handelte es sich um eine Ansammlung dessen, was dem Schreiber ganz persönlich wichtig erschienen war und was er in seiner ganz eigenen Sichtweise und Befindlichkeit hatte festhalten wollen. Damit stellte sich die Frage, wie zuverlässig ein gesellschaftlich eher unbedeutender Zeitgenosse aus der Spätzeit des Hundertjährigen Krieges das damals Erlebte, Gehörte und Geschaute schriftlich hatte wiedergeben können.

    Tat er dies zu Beginn noch in einem etwas hölzernen Stil, so scheint sich sein Duktus mit fortlaufender Schreibtätigkeit stellenweise auch lustvoller entwickelt zu haben, obwohl seine Geschichte, was den Inhalt betrifft, sich letztlich kaum an Tragik überbieten lässt.

    Mehr aber sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Das Tagebuch wurde, wie Sie sehen, weder einem Archiv noch einem Museum ausgehändigt, sondern sollte – das jedenfalls war meine Überzeugung – einer interessierten Öffentlichkeit nicht länger vorenthalten bleiben.

    Dazu musste das Manuskript transkribiert und in heutiges Deutsch übersetzt sowie in einen modernen Datenträger eingelesen werden, wobei sprachlich veraltete Eigenheiten der Authentizität zuliebe unverändert belassen wurden. Als einzige, kleine Eingriffe erlaubte ich mir, über die einzelnen Buchteile, gleichsam als Leitmotiv, einen Titel zu setzen und zu gewissen Ereignissen eine präzisierende Fußnote anzufügen.

    Dass ich das Original danach für mich behalten habe, muss hier zwar nicht weiter interessieren, doch erschien es mir angesichts der obgenannten, mühevoll geleisteten Bearbeitung durchaus legitim, es als kleines Pour le Mérite in meinen Besitz zu überführen. Zumal der Schreiber des Begleitbriefes es ja explizit mir überlassen hatte, über die «letztgültige Verwendung zu verfügen».

    Nun liegt es in der Vitrine meines Wohnzimmers. Vorbei sein Dämmerdasein in dunklen Klosternischen. Die Vitrine lässt sich staubdicht verriegeln und ist, seien wir ehrlich, somit eigentlich gar kein so viel schlechterer Ort als ein klimatisiertes Archiv, n’est-ce pas?

    Doch zum Schluss, ich spüre Ihre Neugier, steht natürlich noch eine ganz besondere Frage im Raum. Nämlich, inwiefern obgenannter E. A. Leiermann beziehungsweise sein Enkel Benedikt beziehungsweise dessen Tante mit dem Tagebuchschreiber aus dem 15. Jahrhundert verwandt gewesen sein könnten.

    Das ließ sich bis zur Stunde nicht herausfinden. Doch was nicht ist, kann noch werden ...

    N. E. Bouleaux

    (Hilfsarchivar im Ruhestand)

    Erster Stoß

    Der Frischling

    Ein merkwürdiger Tag geht heut zu End. Mittst im Hornig stehen wir, und gleichwohl knospen die Weidenbüsche und schwärmen die Stare vorüber. Auch gab’s ein ungewöhnlich Leuchten am Abend, als ob die Sonne lieber aufsteigen denn untergehen möcht. Doch hier, in dem Gaden, wo ich sitz, ist das Dämmerlicht so blass, wie es sein soll zu der Jahreszeit.

    Dies schreibe ich, Conrad Lyriman, einst Burger der Stadt Bern, einstmals in Recht und Ehren, aber nun versehrt an Leib und Gut und gealtert vor der Zeit. Ich schreib’s mit unbeholfner Hand, denn spät erst hab ich gelernt, mit Gänskiel und Tinte zu fuhrwerken, und das Alter, das in meinen Gelenken hockt, macht’s auch nicht leichter.

    Dennoch will ich nichts auslassen, mag’s noch so mühsam sein, und nichts beschönigen, wär’s mir auch noch zum Vorteil. Denn nicht um meinetwillen schreib ich’s. Auch nicht, weil ich denk, dass das, was das Leben mir an Gutem zugeworfen hat, sei mein alleiniger Verdienst gewesen. Sondern schreiben will ich’s um meines lieben Mägdleins willen, dem wir den Namen Mechtild gegeben haben, damals, in guten Tagen, bevor das Schicksal seinen Anlauf nahm.

    Und mögen andere gern auf eine Zeit hoffen, die besser sein soll als die jetzige, so glaub ich nicht, dass eine solche bald kommen wird. Denn lang hab ich nach meinem Recht gesucht und weder Müh noch Not gescheut, um’s zu erlangen, und gleichwohl ist es mir verwehrt geblieben.

    Darum schreib ich mit nichts als der Hoffnung, dass dereinst eine himmlische Gnad mir zusprechen mög, was ich auf Erden nicht hab finden können. Noch mehr aber in der Hoffnung, dass du, mein lieb Mägdlein, dies lesen und mir eins Tags vergeben willst. Denn du bist das Einzige, was mir geblieben ist auf der Welt. Auch wenn ich nicht weiß, wo du jetzt bist.

    Merkwürdig auch ist der Tag, weil ich hier die ersten Zeilen schreib, und das hab ich dem Sämu zu verdanken und dem Winter, der mich um ein Haar niedergerungen hat.

    Mit einem Stoß Papier ist er gekommen, der Sämu, und einem Holzkästlein obendrauf, vorgestern, wie ich das erst Mal wieder hab auf Beinen stehen können.

    Die Tag davor aber bin ich in einem Dunkel gewesen, nahe dem Tod, weiß nicht, wie lang, und hab gegen ein Fieber gestritten, von dem ich auch nichts weiß. Doch mählich ist’s gewichen, und ein Gesichtlein hat sich über mich gebeugt. Aber erkannt hab ich’s nicht und auch nicht, was es gesprochen, sondern bin gleich in den nächsten Schlaf verfallen.

    Später ist das Gesichtlein zurückgekehrt und hat gesagt, es heiße Gita und sei des Sämu Ehweib und die Mutter seiner Kinder. Da sah ich zum erst Mal, wo ich war: in einem fremden Bett, in einem fremden Gaden und bei fremden Leut. Und wie ich nick, weil ich das Gesichtlein diesmal wohl verstand, oder die Gita, wie ich’s von jetzt an nennen will, so ist sie gleich hinausgelaufen und mit einer Suppe wiedergekommen. Doch kaum, dass ich sie hab riechen können, wurd’s mir dunkel, und bin erst am Abend wieder aufgewacht.

    Vorgestern also stand der Sämu da und sprach, er sei vor Tagen im Tobel gewesen, drüben beim Eggberg, wie er Holz und Reisig gesucht hab. Da hab er ein Gezeter gehört von ein paar Krähen, die auf und nieder gefletzget seien, und wie er herzukam, hab er gesehen, dass sie sich um einen Rosskadaver zankten. Den hatten wohl Wölfe aufgebrochen, denn Eingeweid und Blut lagen weit herum. Aber dann hab er auch Fußspuren entdeckt, einen Steinwurf weg, zu einer Schneewehe hin. Dort sei ein toter Wolf gelegen mit einem Dolch zwischen den Lefzen. Unter der Wehe aber hab er ein Stoffbündel gefunden, und das sei ich gewesen, halb erfroren und mit aufgerissenem Arm, sonst aber unversehrt. Das hätt ich wohl dem Ross zu verdanken gehabt, das die Meute so satt gemacht hat, dass sie weitergezogen ist, ohne noch mit mir Vorlieb zu nehmen, denn solches wär für mich gewiss bös ausgegangen. Da hab er mich unter dem Schnee hervorgezogen, Holz und Reisig von seinem Schlitten geschüttet und stattdes mich nach Haus gebracht.

    Hab ihn angeguckt, als erzählt er’s von irgendwem, doch wusst ich jetzt, warum meine Linke so streng verhaftet war in Bändern und Stangen, dass ich sie nicht rühren konnt. Und wie ich auf den Arm schau, weht eine Erinnerung heran. Ich seh einen Wald, seh einen Weg, der ist vereist, und mein Ross, das stürzt, wirft mich ab, steht wieder auf, desmindest es versucht, aber nicht kann, denn der Vorderlauf ist verdreht. Dann, von irgendwo, ein langgezogen Heulen und gleich die Antwort aus vielen Kehlen, hinter mir, neben mir. Ich will aufs Ross, will’s erzwingen, trotz verdrehtem Lauf, aber seh den Schatten nicht. Der schnellt aus dem Dunkel, wirft sich heran, schmeißt mich in Schnee und Gezweig mit heißem Schnauf. Werf mir den Arm vors Gesicht, da schlägt ein Schmerz drein gleich hundert Zangen, mit Teufelskraft, als wollt einer nimmer loslassen, was er sich als Beute ausgewittert hat. Die ander Hand zum Gürtel, heraus die Klinge und hinein in die Zangen, hinein ins Fell, hinein ins Röcheln. Wieder und wieder, dass das Fleisch zerreißt, die Sehnen brechen und der Schnauf in einem Jaulen endet.

    Dann Stille. Vor mir, über mir. Legt sich mit letzter Schwere auf mich, begräbt mich im Schnee. Fern hör ich die Meute, aber nichts von meinem Ross.

    Nichts auch jetzt, woran ich weiter denken kann. An keine Wehe und nicht, wie ich unter sie gekommen bin. Einen Augenblitz nur hab ich’s gesehen, aber genug, um zu wissen, was geschehen ist vor Tagen.

    Er hab die Klinge aus dem Wolfsmaul gezogen, sagt der Sämu, und nach dem Ross geschaut. Oder nach dem, was davon übrig war. Auch ein Schwert hab er am Sattel gefunden, das steh dort drüben an der Wand, aber sonst nichts gesehen, was noch von Wert gewesen wär. Außer dem Sattel und dem Zaumzeug. Aber das hab er nicht unter dem Ross hervorlösen mögen, denn die Meute hätt wiederkommen können, da wollt er sich nicht länger versäumen. Das könnten wir dann mitsammen tun, wenn’s mir wieder besser ginge. So hab er mich nach Haus gebracht.

    Und derweil die Gita meine Wunden ausgewaschen hab, sei er zum Kloster gegangen, bei dem sein Hof im Zins steh, und hab dem Abt erzählt, wie er mich gefunden und ob er wohl eine Hilfe bekäm für meinen Arm, für den Fall, dass die Gita mich nicht gesundpflegen könnt. Und wirklich hat ihm der Abt den Bruder Arzt mitgegeben, damit er den Kranken ins Kloster bringe, falls die Wunde allzu schlimm wär. So seien sie mit einem Karren aufgebrochen, und der Bruder sei zwei Tag auf dem Hof geblieben und hab meinen Arm gesäubert, in Schienen verhaftet und mit Holder, Lindenblüte, Weidenrinde und viel Gebet einen Sud und warme Umschläg gemacht. Und wie der Bruder sah, dass wohl kein Wundfieber zu befürchten und eine Klosterpflege nicht vonnöten sei, sondern auch von der Gita bewerkstelligt werden könnt, ließ er die restliche Arzenei da und meinte, in ein paar Tagen werd das Fieber wohl vergehen, denn es sei ein heilsam, reinigend Fieber. Und hat uns der Güte Gottes anbefohlen.

    Wie nun der Sämu dastand mit seinem Papierstoß und ich fragend drauf hin nick, meinte er, auch den hätt er vom Kloster. Dort brauche man ihn nicht mehr, hab der Abt gesagt, weils Papier vom falschen Liegen grau geworden sei und keiner der Brüder im Kontor mehr drauf schreiben wolle.

    Er hat nicht «Kontor» gesagt, sondern «Schreibstub». Aber für mich ist alles ein Kontor, wo man am Pult steht und mit Gänskiel und Tinte aufs Papier kratzt. Sei’s von Klosterbrüdern oder unsereins, damals, vor langer Zeit, in einem andern Leben. An das ich mich wohl erinnern kann, mich aber nicht erinnern möcht.

    Und wie ich weiterfrag, was es soll, legt der Sämu den Stoß auf ein Brett an der Wand und sagt, so rasch sei das Fieber dann doch nicht gewichen, sondern hab noch Tage in mir geschwelt. Auch hätt ich einiges dahergeredet im Schlaf und mich hin und her geworfen dabei und manches Mal auch aufgeschrien. Und weil’s recht wirre Flausen waren, die ich da vor mich hingefiebert hätt, sei die Gita unruhig geworden. Ob der Sämu ihr da wirklich eine Christenseele ins Haus gebracht hab oder nicht etwa den Gottseibeiuns. Da sei er nochmals zum Kloster, vielleicht dass man ihm eine zweite Arzenei geben könnt gegen das Fieber. Aber auch einen Wirkspruch gegen die Flausen.

    Doch der Abt hab nur gefragt, ob des Sämu Gast denn schreiben könne, was doch eine gar seltsame Frage war, denn was sollte das gegen ein Fieber helfen? Er wisse es nicht, hab der Sämu geantwortet, denn bisher hätt er mit mir noch nichts Gescheits reden können. Da sprach der Abt mit einem Klosterbruder, und der brachte eben das Papier mit dem Kästlein obendrauf. Das sei, meinte der Abt, gegen die wirren Flausen, denn die beste Abhilfe sei, sich selbige von der Seele zu schreiben. Und wie der Sämu zögerte, hab der Abt ihm noch ein weiteres Kräutersäcklein mitgegeben. Das sei fürs Fieber, hat er gesagt, denn erst müsse dieses weichen, eh man was andres tun könne. Da hab die Gita auch aus dem zweiten Säcklein einen Sud gemacht und ihn mir in halbwegs wachen Zeiten eingeflößt.

    Doch auch davon wusst ich nichts, und das wurmte mich schon. Denn wie mich die Gita so bemutternd an die Brust genommen hat, daran hätt ich mich schon gern erinnert.

    Da ich nun aber wach sei, fuhr der Sämu fort, und wohl auch bald wieder ganz beinander wär, käm mir gewiss auch das Erinnern zurück. «Denn das Erinnern ist wie ein umgekehrt Fieber», sagte er. «Das Fieber kommt und geht nach einer Zeit. Das Erinnern aber geht zuweilen fort, um wiederzukommen zu besserer Stund.» Wie weit aber das Papier von Nutzen sei, wisse er auch nicht, denn Lesen und Schreiben sei nicht sein Ding. Da halte er sich lieber an die Gita und ihre Kräuter und an ein gut Gottvertrauen.

    Hab den Papierstoß angeschaut, denn ein solcher liegt ja auch nicht grad so alle Tag vor einem. Schon gar nicht in einem Bauerngaden, wo man nichts von keinem Buchstaben nicht weiß. Und waren die Bögen auch leer und unbeschrieben, so konnt ich doch schon was aus ihnen lesen. Nämlich, wie sehr die beiden Leute mir bisher gut gewesen sind, seit sie mich dem Winter entrissen haben, ohne zu fragen, ob es lohnt und was es bringt, wo sie doch selber noch drei kleine Mäuler zu füttern hatten. Und das rechne ich ihnen hoch an, denn ein solches versteht sich nicht von selbst in diesen Zeiten.

    Ja, stünde es mir zu, so wollt ich ihnen alles bis auf den letzten Batzen entgelten und auch gern darüber hinaus. Doch weiß ich, und sie ahnen’s wohl auch, dass ich das nie werd tun können. Denn alles, was mein ist, trag ich auf dem Leib, und den letzten Batzen hab ich schon vor Tagen ausgegeben. Der Rest aber ist dahin samt meinem Ross, aufgefressen von Wölfen und Krähen. Doch nicht nur von solchen aus Fell und Federn mit Reißzähnen und Hackschnäbeln, sondern auch von solchen, deren Zähne und Krallen aus Betrug und Verleumdung bestanden. Die einem aber nicht minder gut das Fleisch vom Gebein zu reißen wussten.

    Denn was mir in die Hand gekommen ist all die Jahr, ist ihr auch wieder entfleucht, und was mich froh gemacht hat, war zuweilen Glück. Aber das Glück ist ein falsch Luder, denn es narrt einen und spricht: «Sei unbesorgt, dir wird’s nie mangeln!» Und während’s noch spricht, das Luder, sieht’s zu, wie einem schon alles zwischen den Fingern zerrinnt gleich dem Sand im Stundenglas. Selber aber spürt man’s nicht, das Zerrinnen, sondern erst, wenn’s zu spät ist und man nackt und bloß dasteht wie zur Stund, da der Mutterschoß einen in die Welt gepresst hat, und man nie gedacht hätt, sich so wiederzufinden: als fremden Gast bei armen Leut, ohne Batzen im Sack, aber mit Flausen im Kopf.

    Bin aufgestanden vom Bett, das nicht meines war, und hab des Sämu Händ ergriffen. Hab sie gedrückt und ihm ein «Dankheigisch» gesagt. Und wiewohl das ein gar mager Wort ist, hab ich doch alles, was mir im Herzen stand, hineingelegt. Und ich glaub, der Sämu hat’s verstanden, denn er wurd etwas verlegen und sagte, die Gita hab grad eine Suppe ob dem Feuer, ich soll doch rüberkommen. Dann verschwand er aus dem Gaden.

    Einen Tag hab ich’s liegen lassen, das Papier, denn erst wollt ich zu besseren Kräften kommen. Hab ein paar Schritt vors Haus gemacht und die frische Winterluft eingeschnoben, auch wenn sie durch den Mantel, den mir der Sämu gegeben hat, etwas modrig roch. Bin zum Koben rüber mit den Schweinen und den Geißen und der mageren Kuh und hör die Gita rufen: «Bleib nicht zu lang da draußen!»

    Ja, dacht ich, die Luft tut gut. Aber dass ein Frauenzimmer einem was nachruft, weil’s in Sorg um einen ist, das tut grad zweimal gut.

    Auch die kleinen Mäuler lugten von der Tür her zu mir. Zwei Mägdlein, wohl sechs und sieben Jahr, und ein Bub, ein wenig älter. Da stand ich in der Stille und im Schnee, und der Himmel über mir war gleich grauen Daunen. Und wie ich dasteh, war’s mir, als käm was über mich. Als wär die Luft wie nie zuvor und die Ruhe und das Licht grad wie der letzte Tag von allen Tagen. Als wären alle Tag mitsammen grad zu diesem einen da geworden. Frisch und kalt, mit Schnee und Eis und kahlen, schwarzen Bäumen. Doch durch die Ruhe wehte was herüber, und das klang wie ein Krächzen. Wohl aus denselben Schnäbeln, die sich vor Tagen um mein Ross gestritten hatten. Nun denn, so soll mein armer Kumpan euch die Mägen füllen, hab ich gedacht. Denn ihr habt ihn ja nicht gefällt, sondern ich hab’s getan. Ich allein mit meinem wahnhaften Ritt durch den Winter.

    Und irgendwo dort drüben musste auch der Eggberg sein mit seinem Tobel. Da werd ich also mit dem Sämu hingehen und Sattel und Lederzeug unter meinem gefallenen Kumpan hervorholen.

    Womit aber soll ich das Papier beschreiben? Etwa mit dem, was ich im Schlaf vor mich hingeschrien hab? Doch wie soll ich’s wissen, wo ich mich an nichts erinnern kann?

    Bin zurück in den Gaden und hab mich vors Wandbrett gehockt. Hab auf den Stoß geschaut und das Kästlein geöffnet. Da lagen drei Gänskiele drin und ein Horn voll Tinte, dazu ein Lämplein mit Öl. Gab mir der Abt etwa wahrhaft ein Licht mit, damit ich schreiben kann, wenn mich nachts die Flausen überkommen? Sonderbare Arzenei.

    Mit dem Daumen hab ich die Bögen angehoben und durchflattern lassen, wie ich’s immer getan hab in unserem Kontor, eh ich ein neu Jahrheft begonnen hab. Damals, wie unser Papier frisch und keines vom Liegen grau gewesen ist. Und auch das Glück noch kein Luder war und mir noch nicht durch die Finger rieselte.

    Flausen? Warum aber soll ich Flausen aufschreiben? Wem würden die nützen? Niemand, deswenigsten mir selbst. Warum also nicht schreiben, was gewesen ist? Schreiben über all die Jahr? Über die Zeit und das Leben? Über das Luder, und wie’s mich so weit hat kommen lassen? Denn für Flausen ist doch ein jed Papier zu schad, mag’s noch so falsch herumgelegen sein, denn dafür kann’s ja nichts. Das allein ist Menschenwerk. So wie auch wir Menschenwerk sind. Denn werden nicht beide, Mensch und Papier, aus dem Nichts geschöpft, aber, kaum sind sie heraus, sogleich in eine Form gepresst und aufs rechte Maß gestutzt? Und geraten nicht auch wir in fremde Händ, von den einen sorgsam entfaltet, aber von andern achtlos verworfen? Und einerlei, wie’s kommt – werden am End nicht auch beide grau und von den Mäusen gefressen? Was also tät das Papier einen besseren Dienst, als für das Leben verwandt zu werden, wo Mensch und Papier gleichsam Verwandte sind?

    Ob ich aber je den Stoß vollschreiben kann? Handkehrum, gibt’s auf der Welt so viel Papier, um ein ganz Leben draufzuschreiben? Seine Farbe ist mir gleich, denn was ich aufschreiben will, braucht keiner in Leder zu binden, sondern soll bloß sein, was ich in Kopf und Herz beisammen hab. Das will ich von mir heruntertragen und in diese Blätter legen. Und bin ich fertig, soll’s der Abt wiederhaben, denn das Papier gehört ja ihm. Vielleicht aber ist’s auch möglich, dass er dich, mein Mägdlein, finden und es dir zu Händen geben könnt. Denn das Papier ist das Eine, aber was draufsteht, soll nur dir gehören. Dann, wenn ich meine Ruh gefunden hab, an einem nicht mehr allzu fernen Tag.

    Du bist in der Stadt Bern geboren, der großen, stolzen. Bist daselbst groß, aber beileib nicht stolz, sondern ein herzensgut Mägdlein geworden.

    Ich aber kam in die Stadt zehn oder elf Jahr, bevor das neue Saeculum begonnen hatte.¹ So, wie’s viele hingezogen hat mit Weib und Kind und ganzer Habe, andere aber nur mit dem, was sie auf dem Leibe trugen. Denn nach der Zeit des Schwarzen Tods² mangelte es der Stadt noch immer an Menschen. Deshalb wollten Schultheiß und Rat aufnehmen, schützen und schirmen einen jeden, der zwei schaffige Händ mitbrächt, und ihn nach Jahr und Tag unter ihr Stadtrecht nehmen, so dass er von seiner früheren Herrschaft los und ledig sei, wer immer das auch gewesen wär.

    So strömten aller Gattung Leut herbei, aus Savoyen und Burgund, aus dem Bistum Lausanne und dem von Konstanz. Und mocht auch jeder ein Paar Händ mitbringen, so hatte manch einer auch einen Schalk im Kopf, der den Händen zuflüsterte, sie bräuchten selber gar nichts zu schaffen, sondern könnten nur nach dem greifen, was am Gürtel eines andern hängt oder nicht nagelfest herumsteht. Solch Lumpenzeug aber hatte die Stadt nicht gerufen, und wer mit derlei Händ gekommen war, ließ oft eine auf dem Richtblock liegen, bevor er wieder zum Tor hinausgejagt wurde nach dorthin, woher er gekommen war.

    Ich aber kam nach Bern, weil drei Jahr zuvor unser Ätt gestorben war und zwei Sommer davor die Mutter, noch keine fünfzig Jahr. Und da der Ruodi der Älter war, ich aber als Jüngster nach altem Harkommen den Hof hätt erben sollen, wurd’s mir gschmuech im Magen. Denn es ist Eins, dem Ätt zur Hand zu gehen und zu tun, was einem aufgetragen wird, aber ein Anderes, selber Hof und Stall zusammenhalten zu müssen, denn solch ein Verlangen hat in mir nie angeklungen. Dafür umso mehr im Ruodi. Denn derweil ich vor mich hin schlurfte, wusste der schon, was als Nächsts und Übernächsts zu schaffen war.

    Stattdes hab ich schon als Dreikäshoch die Tage gezählt, bis wir wieder nach Burgdorf oder nach Solothurn zu Markt fahren konnten, als mir auszurechnen, wie lang’s noch bis zum Ackern, Heuet und Ernten wär. Denn dort, im bunten Treiben zwischen Waren und Buden, hat’s mich vergessen lassen, woher ich kam und dass ich bloß ein Bauernbub war.

    Warum’s aber in mir so gekommen ist, weiß ich nicht. Vielleicht war nicht ich, sondern die Zeit schuld an meiner Unruh. Denn in dem Jahr, da ich geboren war, hat’s auch anderswo in der Welt ein groß Gestürm gegeben. Kein Geringerer als der große Kaiser selber sei nach Bern gekommen³, hat mir der Ätt erzählt, und sei mit ganzem Tross und Heer durchs Land gereist. Und danach zogen die Engländischen in ihrem Krieg gegen Frankreich den Rhein herauf und hätten alles Land bis vor Straßburg geplündert, worauf sich der Kaiser wiederum aufgemacht hab, sie aus dem Reich zu treiben. Doch nicht nur viel Volk sei damals unterwegen gewesen, sondern auch im Jahr davor seien Heuschrecken herzugeflogen und hätten alles Gras und Korn und gar ganze Bäume aufgefressen.

    So deuchte mich all das doch ein deutlich Zeichen, warum auch ich eine Unrast in mir spürte. Denn zu denken, ich müsst für immer an ein und demselben Ort hocken, war mir grad, als wollt man mich an einen Felsen ketten. Selbst wenn dieser Fels mein rechtmäßig Eigen wär.

    Drum hab ich mich oft in ein stilles Eck verzogen oder bin den Hügel zu unserem Waldplätz hinauf, wo mich keiner hat sehen können, und hab auf den Hof geschaut und zuweilen gehört, wie der Ruodi nach mir rief, weil er noch zwei Händ hätt gebrauchen können. Aber gleichwohl wie ich’s gedreht und gewendet hab, einfallen wollt mir nichts, was ich stattdes hätt machen wollen. Nur eines ist mir beim Drehen und Wenden aufgegangen, nämlich dass ich kein Bauer sein und auch weder Hof noch Stall nicht haben wollt.

    So zogen die Jahr dahin, derweil der Hof schon ganz von selber dem Ruodi seiner wurde. Und das war mir nicht unlieb, denn der Ruodi trug ja auch den Namen unseres Ätt, derweil ich getauft war nach dem Ätt von unsrer Mutter. Und da war’s doch nur recht, wenn einer sich weiter um das Unsrig sorgen würd, der auch den gleichen Namen trug wie der, der vordem schon in allem zum Rechten geschaut hat.

    Das allein war’s aber nicht, was ich mir ausgeknobelt hab, sondern hab auch an die schlimmen Zeitläuft denken müssen, die uns noch vor wenig Jahren heimgesucht hatten. Wie nämlich der Graf von Kyburg wegen seiner ständigen Geldnot dem Herzog von Österreich die solothurnischen Herrschaften Altreu und Balm verpfänden wollte, aber die Solothurner es nicht leiden mochten, so nah vor ihrer Nase einen Habsburger hingesetzt zu bekommen. Und wie der Graf ob dieser Weigerung gegen Solothurn zog, aber von der starken Gegenwehr der Stadt schändlich abgewiesen wurde, da hat er aus Zorn über die Schmach sein ganzes Heer auf das Umland losgelassen, so dass alles verwüstet und viele Bauern erschlagen wurden⁴. Da war zwar unser Dorf mit Glimpf und Gottes Gnad mit nur kleinem Schaden davongekommen, aber zeigte unsereinem doch, wie wenig man vor dem Unwillen der großen Herren sicher sein konnt. Denn bis die Solothurner mit den Bernern und anderer Hilf ihrerseits vor Burgdorf ziehen konnten, wo der Kyburger drinsaß, um ihn für sein Wüten zu maßregeln, lagen die Männer, Weiber und Kinder unseres Stands längst in der Erde.

    Und wie sich nun gleichwohl keine Ruh nicht hat einfinden wollen, sondern die Berner selber nach Schloss Buchegg zogen, nur einen Steinwurf von uns, und es niederbrannten, da taten sie ein Gleiches auch noch bei Grünenberg und Friesenberg und zogen nochmals gegen Burgdorf, aber auch nach Trachselwald. Und hinterließen ihrerseits nur Wüstung und Schaden und zeigten damit auch kein besser Gesicht als zuvor der Kyburger in seinem falschen Zorn.

    Der größte Streit aber war der von den Eidgenossen mit dem österreichischen Herzog Leopold bei Sempach gewesen, wovon die Leut noch heut berichten. Und obgleich die Berner nicht dabei gewesen waren, wie der Herzog mit all seinen Rittern auf dem Feld erschlagen wurd, so lag Bern dafür mit den Freiburgern im Krieg. Und Ähnliches mehr gäb’s zu berichten, wenn man’s nicht noch allzu gut in Erinnerung hätt, so dass ich’s gar nicht aufzuschreiben brauch, sondern bloß sagen will, dass es zu jener Zeit viel Unruh gab und es kein Schleck war, als Bauer auf einem Hof zu sitzen und nur zu hoffen und zu beten, es käm endlich ein wehrhafter Herr daher, der auch unsereins vor fremdem Ungemach beschützen wollte.

    Aber noch ein Anderes hab ich im Waldplätz ausgebrütet. Denn derweil im Land genug Not und Geschrei war, hat’s auch bei uns einen Umschwang gegeben. Denn vor ein paar Jahr, wie die Mutter und der Ätt noch gelebt haben, hatte sich der Ruodi ein Ehweib genommen. Das war die Ita. Und die hat keine zwei Finger gebraucht, um abzuzählen, wer von uns Buben dereinst der bessere Hofwirt wär. So kam’s, dass mein Tagwerk kein anderes wurde wegen dem Ruodi, aber wegen der Ita schon, denn die war rasch gelehrig. Und so, wie der Ruodi, ohne zu fragen, tat, was zu tun war, weil er’s eben besser verstand als ich, so begann die Ita, Haus und Garten zu bevogten, und hielt Aug und Daumen auf Speicher und Keller und rechnete dem Ruodi laufend den Bestand vor.

    Und rechnete besonders gern, was des Ruodi lieber Bruder, also ich, und der Ita lieber Schwager, also wieder ich, den lieben, langen Tag von ihrer beider Tisch wegfressen würd, derweil ich in Hof und Garten kaum zu erblicken wär. Und rechnete noch eins lieber, wenn sie wusste, dass ich’s hören konnt. Wiewohl aber der Ruodi nur gutmütig brummte, war’s mir, ein solcher Bescheid müsst ihm auf Dauer doch zu nagen geben. Und da keiner von uns der Ita gegensprach, dacht ich, es könnt ihr auch bald sein, sie könnt mich gleich als ihren Knecht rumscheuchen, und das hätt ihr gewiss nicht übel gefallen. Mir aber schon, denn wer will schon dem eigenen Bruder diensten und dessen Ehweib noch dazu? Und wohin würd das mit den Jahren kommen, wenn sich solche Gewohnung festtreten würd? Da hätt sie sich wohl noch gar als Meisterin gesehen, und ich hätt am End still das Maul zu halten gehabt!

    Desmeist aber wollt mir nicht behagen, dass der Tisch, unter den ich seit je die Beine ausgestreckt hab, schon ein anderer geworden war: Wohl lag darunter noch mein Heimatboden, darüber aber wurd mir der Teller nach Gutdünken einer Fremden geschöpft. Und so gab’s für mich zwar noch ein Bett im Haus, doch das täglich Brot war grantiger geworden.

    Da hab ich an die Lisbet denken müssen, unsere kleine Schwester, wie sie im Jahr davor den Jeckli zum Ehmann genommen hat, kurz bevor uns der Ätt gestorben war. Und wiewohl sie jetzt nur zwei Dörfer weiter weg war, wirtschaftete sie dort für sich und auch noch für was Kleines, das unterwegen war und übers Jahr mitgefüttert werden wollt.

    Gewiss, der Lisbet wär ich willkommen gewesen und dem Jeckli auch. Handkehrum wär ich aber auch bloß das überzählig Rad am Karren gewesen, und grad daran merkt man, wie sich alles ändert. Nämlich, dass das, was scheint, als hätt’s festen Bestand auf immer und ewig und für die allerlängste Zeit, dass auch das auf eins einen Hupf macht und neue Wege gehen will.

    Und wie der Ruodi eins Tags fragt, wie ich mir denn die nächsten Jahr so denken würd, denn auch ihm war längst aufgegangen, wie’s um mich stand, da merk ich, es liegt was in der Luft, dass er fragt, und dass am End auch von mir ein Hupf erwartet wird. Da sagte ich, auch ich hätt im Sinn fortzugehen. Aber das war nicht der Verstand, der’s gesagt hat, sondern mein Bauch. Und der hat sich wohl grad nicht viel gedacht dabei, sondern einfach das Maul aufgerissen, um sich wichtig zu machen vor dem Bruder und um nicht dazustehen wie ein Schaf.

    Der Ruodi aber war bass erstaunt, und das war auch kein Wunder. Denn mocht er auch gedacht haben, so was irgendwann zu hören zu bekommen, so doch noch nicht heut, weil er ja wusste, dass es mir daheim immer gefallen hat. Und wie er nur was brummte, hat mein Bauch grad noch eins draufgesetzt: Gleich nach dem Heuet wolle ich mein Bündel schnüren, hat er geschwatzt, denn auch das läg mir schon lang im Sinn. Das aber kam doch zu schnell herausgeschossen, denn der Ruodi sah mich an, aber hat nichts weiter gesagt. Und das war mir auch ganz recht, denn mehr wusst ich ja selber nicht, und bis nach dem Heuet war’s noch Zeit.

    Mag’s mir alles also nicht der Kopf, sondern mehrenteils mein Bauch eingedeichselt haben, so erhielt er dafür reichlich Lohn. Denn wie die Ita vernahm, wie’s um mich stand, hielt sie auf eins still mit der Rechnerei und wandte den Blick, wenn ich mit vollen Backen aus der Vorratskammer kam. Und wenn sie mir den Teller schöpfte und mir gar die Schüssel ein zweit Mal hinschob, versuchte sie ein Lächeln. Und ist’s ihr auch nicht ganz geraten, so hat mich mein Entscheid schon fast gereut. Der aber stand fest, und nach dem Heumonat war ich bereit.

    An jenem Tag füllte sie mir zwei große Taschen mit Zehrung. Wohl damit’s für möglichst weit weg reichen würd. Und manches war aus der Räucherei, die sonst nur an Festtagen entriegelt wurde. Nun, für sie mocht’s ja auch ein Festtag sein, denn wie ich im Hof stand mit meinem Reisebündel unterm Arm, sah ich gar was Feuchts in ihrem Auge glitzern. Doch nach dem Grund fragen wollt ich nicht. Vielleicht dass mir ihre Stimme dann doch zu leicht geklungen hätt. Nur wie der Ruodi aus dem Stall den Falben brachte mit dem alten Sattel drauf, auf dass ich ihm nicht wie ein Bettelbub davonzog, hat ihre Braue leicht gezuckt. Denn man weiß ja: Wer zu leicht von dannen zieht, möcht allzu leicht auch wiederkommen.

    Der Ruodi aber hat’s nicht gemerkt, sondern mein Bündel auf den Falben gepackt und gesagt, er wolle mich noch ein Stück begleiten. So hab ich der Ita die Hand gegeben und bin mit dem Falben am Zügel neben dem Ruodi durchs Hofgatter gegangen. Und wie wir die letzten Schritt mitsammen machten, hat keiner ein Wort gesagt, denn da war ja auch nichts, was noch hätt gesagt sein müssen. Beide wussten wir, wie’s um alles stand und dass nun ein jeder seinen Weg zu gehen hat: der Eine an sein Eigen gekettet und der Ander eben in die Welt hinaus.

    Und wie wir hinter den Hügel kamen, von wo man den Hof nicht mehr einsehen konnt, blieb der Ruodi stehen, führte die Hand unter sein Wams und zog einen Säckel hervor.

    «Da», sagte er und drückte ihn mir an die Brust. «Ist deins.» Und wie ich nicht weiß, was er meint. «Ist dein Erbteil am Hof. Wie’s dir vom Recht her zusteht. Denn nach Recht wär’s ja an mir, dem Älteren, mit der Ita fortzugehen und ein Eigen zu suchen.» Und wie ich den Säckel auftu und schwere Gulden darin seh, meinte er: «Ist noch von unserer lieben Mutter.»

    «Aber», sag ich, «die Mutter hat doch ihr Lebtag nie nichts gehabt?»

    «Die Mutter», sagt er, «hat’s von ihrem Ätt, und der war, wie du weißt, Zunftherr zu Solothurn. Sie hat’s aufgehoben all die Jahr für enge Zeiten. Die aber sind, Gott sei’s gedankt, nie gekommen. Und wenn’s der Herrgott will, werd auch ich’s nicht brauchen, sondern schaff mit der Ita das Meinige schon allein. Drum nimm das als dein Erb.»

    Und eh ich was sagen kann, greift er wieder ins Wams und zieht einen zweiten Säckel hervor. «Und das hier ist die Morgengab. Die hat die Mutter von unserm Ätt bekommen, wie er sie gefreit hat. Kam ihn allemal teuer zu stehen, weil sie doch eine Zünftige war», grinste er. Und wie mir dazu erst recht nichts einfallen will, nimmt er meine Hand und schließt mir die Finger darum. «Von diesem Batzen weiß die Ita nichts. Und selber hab ich auch noch was dazugelegt, und das braucht sie grad auch nicht zu wissen. Denn du bleibst mein Bruder, wohin du auch gehst. Drum nimm’s und mach was Gutes draus!»

    Hab den Ruodi angeguckt, zum Einen, weil der eine Säckel zwar mein Erb, der ander aber ein unerwartet Handgeld war und beide schwer in Händen lagen. Zum Andern aber, weil ich den Ruodi kaum je so viel am Stück hab reden hören. Hab ihm die Hand gedrückt und «Dankheigisch» gesagt und schließlich auch ein «Bhüetigott». Er aber hat genickt und ist stehen geblieben, bis ich den Falben bestiegen und hab lostrotten lassen.

    Ein Stück weiter, wie mich der Ruodi nicht mehr hat sehen können, hab ich dann genauer in die Säckel gelinst. Hab die schweren Gulden gesehen, die «zünftigen» von der Mutter wie auch die von ihrer Morgengab, und darunter ein paar Silberne, wohl die vom Ruodi. Und dass er mir auch die mitgegeben hat, wo ich doch jetzt auf ungewissen Wegen war und keiner wusste, wohin sie führen würden, verstand sich nicht von selbst. Auch nicht unter Brüdern.

    So hab ich mich im Sattel umgedreht und ihm im Stillen ein zweites Bhüetigott nachgeschickt. Aber das galt nicht nur ihm, sondern auch unserem Hof und der ganzen Parochie Betterkingen⁵. Und all jenen, zu denen ich von jetzt an nicht mehr gehören sollte. Denn nun hatte ich meinen Hupf getan und war auf einem eigenen Weg. Aber ob’s der richtige wär, das lag in Gottes Hand und müsst sich erst noch weisen.

    Erst wollt ich nach Solothurn. Das lag bloß zwei Stunden weit, denn von da war die Mutter. Und mit dem Ätt war ich oft zum Jahrmarkt gefahren, obwohl wir niemand kannten, außer ein paar Zünftlern. Doch die wollten nichts von uns wissen, sondern haben uns immer nur mit dem Hintern angesehen, weil sie’s nie verwunden hatten, dass ein Bäuerlein einer ihrer Töchter den Kopf so verdreht hatte, dass sie auf sein Höflein ins Niemandsland gezogen war, statt einen ihres Stands zu nehmen, dessen man sich nicht hätt zu schämen brauchen.

    Gesagt hat sie nie was, die Mutter, aber gleichwohl hat’s der Ätt gespürt, dass er bei den Ihrigen nichts galt. Drum hab auch ich mich umbesonnen, denn da wär doch keiner gewesen, bei dem ich hätt anklopfen können. Hab den Falben gewendet und in die ander Richtung gelenkt. Bin ein Stück der Emme entlang nach Burgdorf hinauf und hab mich nach einer Bleibe umgeschaut. Doch die war nur schwer zu finden, denn vor ein, zwei Jahr war die ganze Unterstadt durch ein Feuer abgebrannt, so dass ich bei den Bauleuten wohl Brot und Lohn hätt kriegen können, aber auch das wollt ich nicht.

    Wollt weder jemandes Knecht sein noch für einen Bauherrn den Rücken verbiegen. Drum bin ich anderntags weiter, der Stadt Bern zu, wo ich zwar auch keinen kannte, aber zu deren Herrschaft immerhin unsere Parochie gehörte. Und so, hab ich gedacht, würd mir die Stadt wohl

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1