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Wo die Liebe schläft
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eBook362 Seiten4 Stunden

Wo die Liebe schläft

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Über dieses E-Book

Wie lieben wir? Und wie verändert sich die Liebe im Laufe unseres Lebens? Iris, eine Museumskonservatorin in den mittleren Vierzigern, lernt auf einem Empfang den Historiker Raif kennen. Es scheint Liebe auf den ersten Blick - und mit ihrer Begegnung stellt sich die Frage nach einem glücklichen Leben für beide noch einmal ganz neu.
Wann sind wir bereit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, und wie viel Intensität, Risiko und Schmerz lassen wir zu, wenn es um unsere Gefühle und Beziehungen geht?
Mit erzählerischer Raffinesse entwickelt Lavinia Greenlaw ein komplexes Szenario von Liebe. Ein lebenskluger und ein durch und durch gegenwärtiger Roman.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Okt. 2022
ISBN9783772544330
Wo die Liebe schläft

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    Buchvorschau

    Wo die Liebe schläft - Lavinia Greenlaw

    Ja

    Stellen Sie sich eine rennende Frau vor. Der lange Flur ist dunkel bis auf das rote Blinken der Rauchmelder und die trüben grünen Schleier der Feierabendbeleuchtung. Sie klatscht ihre erhobenen Hände auf die Notausgänge und drückt sie so schwungvoll auf, dass sie hinter ihr an die Wand schlagen, als wollten sie jemanden drängen, ihr zu folgen. Wird sie verfolgt? Auf der Treppe nimmt sie zwei Stufen auf einmal, dann drei. Es ist die Hintertreppe, der Beton ist ausgetreten, rutschig, und sie stolpert, stößt sich das Knie, steht wieder auf und läuft weiter.

    Sie erreicht ihr Büro, doch die Schlüssel – wo sind ihre Schlüssel? Rasch steckt sie die Hand in ihre Tasche, doch ihre Finger können nichts ausmachen. Sie schüttelt die Handtasche, hört es klirren, greift erneut hinein und findet die Schlüssel wieder nicht. Kommt da jemand? Sie kippt die Tasche auf dem Boden aus, schnappt sich die Schlüssel, stürmt ins Büro und lehnt sich außer Atem an die Wand. Sie behält die Tür im Auge. Nichts geschieht.

    Es hat keine Berührung gegeben, nur die Vorstellung, nicht einmal die Vorstellung, weniger als das. Ihr Körper hat reagiert – aber worauf? Jetzt, nur wenige Minuten nach dem Gespräch, weiß sie kaum noch, wie er aussieht. Während der Unterhaltung hatte sie seinen Blick gemieden. Sollten sie sich am nächsten Tag zufällig begegnen, würde sie glatt an ihm vorbeigehen. Und doch hatte er – was? – irgendwie etwas in ihr geweckt, das sie vergessen hatte. Und dieses Etwas legte sich in diesem Moment fest, war festgelegt.

    Wo ist er? Sie lässt die Tür nicht aus den Augen, obwohl sie weiß, dass er nicht kommen wird. Sie will es auch gar nicht – oder doch –, abgesehen davon: Wer ist er überhaupt? Ein Mann, den sie noch nie gesehen und der sich zu ihr umgedreht hat, während er seinen Mantel aufknöpfte. Er hatte etwas ausgestrahlt, das sie voller Leidenschaft wiedererkannt hatte. Beinahe hätte sie die Arme nach ihm ausgestreckt.

    Zufällig verließen sie gleichzeitig die Garderobe und gingen nebeneinander in den Saal; erst dort trennten sich ihre Wege. Sie unterhielt sich mit Kollegen und Bekannten und wartete. Die Frage, worauf sie wartete, hätte sie nicht beantworten können. Bisher hatte sie noch keinen Gedanken über ihn gefasst, doch ihre Art, sich zu bewegen und zu sprechen, bezeugte, dass sie sich offenbar beobachtet fühlte. Hin und wieder, wenn er in ihr Sichtfeld geriet, behauptete ihr Körper, ihn zu kennen, was natürlich nicht der Fall war. Wie er den Mantel aufknöpfte, hatte sie an etwas erinnert. Das war alles. Sie wartete.

    Später konnten sich beide nicht daran erinnern, wie ihre Unterhaltung begonnen hatte. Sie hatten sich einander zugewandt, so selbstverständlich, wie wenn man erwachte. Innerhalb weniger Minuten sprachen sie über ihre Väter, beide erfolglose Architekten, beide mittlerweile verstorben. Sie fragte ihn, ob er auch Architekt hatte werden wollen, ob man es von ihm erwartet hatte, so wie von ihr, und er verneinte mit einem Lachen, seine Familie hätte ihn nie für intelligent genug gehalten. Und überhaupt, was interessierten ihn Schränke oder was die Leute darin verstauten? Sie nahm eine Freundlichkeit und Kompliziertheit wahr, die sie später als Warmherzigkeit und Tiefsinn interpretierte. Und obwohl sie sein Gesicht nicht beschreiben konnte, erinnerte sie sich an das freudige Gefühl, weil sie ihn nirgends hinstecken konnte. Wer war er?

    Sie hatte ihm von ihrer Arbeit und ihrem Interesse an kleineren Gegenständen erzählt und war kurz davor gewesen, ihn zu fragen, ob er gern – was? In ihr Büro mitkäme? Und das, obwohl der Empfang sich seinem Ende zuneigte und sie am Rande ihrer Wahrnehmung eine Person bemerkte, die offenbar auf ihn wartete. Sie nahm seine Visitenkarte entgegen, verabschiedete sich und ging hinter den wehenden Bannern und Informationstafeln durch die verdunkelte Galerie zurück, vorbei an den Lokomotiven und Raketen und weiter zu den kleineren Ausstellungsstücken – dem Wallgucker, dem Wolkenspiegel und dem japanischen Meermann –, die sie jedes für sich hätte opfern mögen, damit er ihr folgte. Und während sie fortging, erkannte sie das alles – ihre körperliche Nervosität und dass sie, wenn sie ihn gefragt und er mitgekommen wäre, zu allem fähig gewesen wäre, so abrupt war der Abstand zwischen ihnen geschmolzen. Deshalb lief sie davon.

    Vor langer Zeit hatte Iris, die damals noch wenig Ahnung hatte, bei einer Abendeinladung einen Mann kennengelernt. Es war ein offizielles Dinner gewesen, zu dem ihr Arbeitgeber sie im letzten Moment eingeladen hatte, weil jemand ausgefallen war. Sie kannte niemanden und merkte sofort, dass sie falsch angezogen war. Deshalb war sie ausgesprochen dankbar, als ihr Sitznachbar sich freundlich vorstellte und gestand, dass er bis auf seine Gattin – er wies auf eine Frau mit einem silbergrauen Zopf weiter unten an der Tafel – ebenfalls niemanden kannte. Diese schüttelte gerade die Hand des Mannes, der sich zu ihr gesetzt hatte. Oh!, rief Iris, weil sie in der Miene der Frau etwas sah: Sie sagte Ja zu diesem Fremden wie man nur Ja zu jemandem sagen kann, der auch Ja zu einem selbst sagt. Ja, sagten sie zueinander. Ja.

    Wir können im Vorbeigehen Ja zu einem Fremden sagen, ohne auch nur langsamer zu werden. Das ist keine Bejahung eines Angebots (es wurde nichts angeboten), sondern des Wiedererkennens. Was erkennen wir wieder? Der Fremde erzeugt viel Spannung, sowohl körperlich als auch an der Oberfläche, die man noch nie gesehen hat und die einem doch vertraut ist. Ein Detail in den Proportionen, den Gesichtszügen oder Gesten stellt eine Verbindung zu einer Erinnerung her, von der wir möglicherweise nicht einmal wissen, dass sie in unserem Gedächtnis verhaftet ist und das Wiedererkennen begründet.

    Es muss kein fremder Mensch sein. Es könnte jemand sein, den man seit Jahren kennt und der früher die Person war, die den Mantel aufknöpfte, neben einem den Raum betrat oder bei einem Dinner neben einem saß. Es würde einen Augenblick des Ja geben, doch von der sortierten Art. Diese Art des Ja kann sich außer Reichweite begeben oder behält eine lose Form und meldet sich bei jeder Begegnung, bis sie eines Tages ganz klar ist.

    Hin und wieder überlegte Iris, was aus dem Paar geworden war, das sie bei jenem Dinner beobachtet hatte. Damals waren ihr die beiden zu alt erschienen, um ihrem Flirt mehr Bedeutung zuzumessen als die höflicher Aufmerksamkeit. Der Mann hatte auf einer Unterhaltung mit Iris bestanden und minutenlang versucht, seine Frau nicht anzusehen, doch früher oder später wandte er den Kopf in ihre Richtung und verstummte. Kein einziges Mal, wenn Iris seinem Blick folgte, wurde dieser von seiner Frau erwidert. Das Ja, das sie und der Fremde einander gegeben hatten, war so stark, dass sie am anderen Ende der Tafel entlarvend offensichtlich wirkten. Die Frau hatte ihren Stuhl dem Fremden zugedreht, den Arm auf den Tisch gestützt, ein Glas in der Hand wie ein göttliches Attribut und den schweren silbergrauen Zopf nun mädchenhaft über die Schulter nach vorn gelegt. Der Fremde lehnte sich zurück und breitete die Arme aus, als wollte er sie einhüllen. Der eine Arm war verborgen, er hatte ihn auf ihre Stuhllehne gelegt. Als er später vom Tisch aufstand, ähnelte er zu Iris’ Überraschung sehr dem Ehemann, der gerade sein Getränk verschüttet hatte und nicht merkte, dass der Fremde vorbeiging.

    Trug die Ehefrau diese Begegnung wie einen Edelstein heim, den sie eingesteckt hatte und hin und wieder mit der Hand ertastete, umdrehte und wieder losließ? Merkte ihr Mann endlich, dass diese Frau nicht nur seine Gattin war, sondern ein geheimnisvolles Wesen mit eigenem Willen, das jederzeit an ihm vorbeigreifen konnte? Oder hatte er es immer schon gewusst? Wurde der letzte Rest ihrer Liebe zu ihm von der Kraft und dem Glanz dieses Abends gesprengt? Falls ihre Ehe sich dem Ende zuneigen sollte, könnten wir sagen, dass es von Anfang an so kommen musste und das Interesse des Fremden ihre Unzufriedenheit nur weiter angefacht hatte.

    In der Jugend gleicht die Liebe einem Fluss, der in eine Richtung gelenkt werden muss. Möglicherweise rauscht er zu einem Pferd, einem Superhelden, einem Fußballspieler oder einem Sänger. Das sind Generalproben für die Liebe. Eines Tages fließt dieser Fluss zu einer Person, die tatsächlich zur Stelle ist. Das hieße, dieses Gefühl käme vor dem, worauf es sich richtet und doch wird es nicht so erlebt. Ein fünfzehnjähriges Mädchen ist hin und weg von dem Jungen, der jeden Abend an ihrem Fenster vorbeiradelt. Sie ist nicht hin und weg von ihrer Liebe.

    Erst wenn es vorbei ist und sie seinen durchschnittlichen Charakter erkannt hat, beginnt sie vielleicht, es zu hinterfragen. Vermutlich nicht. Sie wird fortfahren, das Ja in sich selbst zu erleben und erst wenn es über die dumpfe Enttäuschung über den Jungen auf dem Fahrrad hinausgeht und sich zu Verletzung und Kummer entwickelt, hält sie vielleicht inne und sagt sich Ich weiß, was das ist. Ich sage Ja. Das ist alles und nichts – Erinnerung, Assoziation, Bedürfnis, Lust, nichts.

    Oder sie betrachtet die auserwählte Person und erinnert sich an die erste Begegnung, als ihr Ich von ganzem Herzen Ja gesagt hatte, und nun leben sie zusammen. Vielleicht ist genau das der Frau mit dem silbergrauen Zopf und ihrem Fremden passiert. Rückblickend nennen wir das Liebe auf den ersten Blick – wenn das Ja mit Ja beantwortet wird und die Umstände oder Neigungen eine endlose Erweiterung erlauben.

    Folgen

    Der Mann, dem Iris beim Aufknöpfen seines Mantels zugesehen hat, kann sich selbst nur schwer einordnen. Die Kompliziertheit, die sie an ihm wahrgenommen hat, ist seine Trauer. Seine Frau ist gestorben, sein Gram so tief, dass er lebendiger wirkt, je weniger er sich so fühlt. Wenn er überhaupt etwas fühlt, dann, dass sein Leben neuerdings nach Schema F verläuft. Mehr als die nötigen Schritte unternimmt er nicht.

    Mit seinen vierzig Jahren ist er sechs Jahre jünger als Iris, obwohl er aufgrund der Zögerlichkeit, mit der er durchs Leben geht, deutlich wie ein Mann mittleren Alters wirkt. Er trägt den Namen des arabischen Vaters seines aus Mauritius stammenden Vaters, Raif, den seine Eltern wählten, weil sein anderer Großvater, ein Ire, Ralph hieß. Häufig gehen die Leute einfach von einer abweichenden Schreibweise aus und er lässt sie in diesem Glauben.

    Raif ist in einer Stadt an der Südküste in einer Straße zwischen dem Golfplatz und der Strandmauer aufgewachsen. Er unterrichtet als Dozent an einer der zwölf Universitäten in London Wissenschaftsgeschichte und stand auf der Gästeliste des Museums, weil er vor zehn Jahren ein Buch über Raritätenkabinette geschrieben hat. Mittlerweile ist es derart in Vergessenheit geraten, dass er nicht einmal weiß, ob er selbst noch ein Exemplar besitzt. Als er seinen Mantel ablegte, hatte er Iris nicht bemerkt, doch er war sich des Augenblicks bewusst, in dem sie gemeinsam den Saal betreten hatten. Etwas hatte sich auf eine Formel gebracht – als hätten sie sich kurz zu einem Tanz aufgeschwungen –, war für die Dauer des Empfangs in seinem Bewusstsein verblieben und hatte ihn zu ihr hingezogen.

    Waren sie sich schon einmal begegnet? Iris besaß eine besondere Ausstrahlung, auch wenn Raif noch nicht sagen konnte, woher diese rührte. Sie war klein und schlicht gekleidet, doch sie hatte etwas Markantes und war ungewöhnlich ruhig. In diesem wogenden Raum wirkte sie wie das trockene Festland. Schließlich drehte sie sich um, und er stand da, und sie unterhielten sich, als wären sie einander vorgestellt worden. Raif merkte, dass er ihr etwas erzählen wollte und beantwortete ihre Fragen ausführlich, bis beiden auffiel, was eigentlich passierte – dass es irgendwie zu schnell ging – und das Gespräch ins Stocken geriet. Iris sagte, sie müsse gehen. Als Raif ihr seine Karte reichte, erwiderte sie die Geste nicht, bedankte sich nicht einmal und eilte davon.

    Dann kam seine Kollegin Rosa und hakte sich bei ihm ein. (Inwieweit wollte sie signalisieren, dass er zu ihr gehörte?). Sie schlug vor, etwas trinken zu gehen. Zehn Jahre lang war ich ein verheirateter Mann, dachte er, aber jetzt bin ich es nicht mehr und weiß nicht, was das bedeutet. Dieser Gedanke war ihm bereits zur Gewohnheit geworden, zu einem Ruhepunkt. Ich weiß nicht, was das bedeutet.

    Auf der Straße holte Rosa ihr Handy heraus und scrollte durch ihre Nachrichten. Raif lief neben ihr her, während sie jemanden anrief und mitten im Gespräch auf ein Schild mit der Aufschrift Bar deutete. Nachdem Raif zustimmend genickt hatte, gingen sie gemeinsam eine Treppe zur Bar hinunter.

    Ihr Tisch war klein, die Musik laut. Sie mussten sich Mühe geben, damit sie sich nicht an den Beinen berührten, und weit vorbeugen, um einander zu verstehen. Beim Sprechen streiften sich beinahe ihre Münder. Was dachte er? Rosas zerstreutes Plappern wies darauf hin, dass der Inhalt vergleichsweise belanglos war. Sie arbeiteten seit Jahren zusammen und doch war sie ihm plötzlich so nah, dass er von gefährlichen Details quasi überwältigt wurde: von ihrem offenen Mund, den drei Steckern in einem Ohr, ihren erbsengrünen Fingernägeln und –

    Rosa redete weiter. Sie hatte seine Hand genommen.

    «Raif.»

    Er bewegte die Finger. Hatte er gerade wirklich ihr Handgelenk gestreichelt? Sie zog die Hand weg.

    «Es ist ein langer Weg», sagte sie, «aber instrumentalisiere es nicht. Zwei Jahre reichen.»

    Instrumentalisieren – was denn? Wozu? Rosa stand auf und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. Diesmal wirkte ihre Nähe eher mütterlich. Hatte sie etwas abgewehrt oder war er es gewesen? Er tat so, als wollte er noch bleiben und weitertrinken und sah ihr nach, als sie ging. Beinahe hätte er etwas sehr Dummes getan. Was hatte er sich dabei gedacht? Ich weiß nicht, was das bedeutet.

    Raif läuft durch die Stadt, überrascht, dass es noch nicht so spät ist und für andere Leute der Abend gerade erst anbricht. Auf der Straße geht es noch entspannt, in den vollen Pubs noch rechtmäßig zu. Im Frühsommer bietet die Stadt die angenehmsten Möglichkeiten und die Chance, den Dingen in ihrem eigenen Tempo den Lauf zu lassen. Dennoch hat Raif es eilig, nach Hause zu kommen. Es ist erst zehn Uhr, aber es ist so viel passiert. Er ist erschöpft.

    Zu Hause möchte er nicht länger über Rosa nachdenken (oder war es doch Iris, die ihn so verstört hat?) und ruft schließlich Helen an, mit der er seit einer Weile zusammen ist. Anfangs hat er sie stets kontaktiert, wenn er etwas zu zweit unternehmen wollte, und sie waren ins Kino oder ins Konzert gegangen und zusammen aufgewacht. Helen schlug gern Aktivitäten vor, für die man aus dem Haus und in die Welt hinaus gehen musste. Allein kann er so etwas nicht sonderlich gut. Seine Trägheit beruht ebenso auf Gewohnheit wie auf Trauer. Frauen finden ihn tiefsinnig, Männer lethargisch.

    Als er Helen bittet, vorbeizukommen, zögert sie, weil sie am nächsten Morgen für eine Rolle vorsprechen soll, sagt dann aber doch zu. Raif lässt sie herein, bietet ihr ein Glas Wein an und beklagt, wie erschöpft er ist. Sie sitzen ein paar Minuten beisammen, bis er aufsteht und zu niemandem im Besonderen sagt, er müsse ins Bett. Helen, die ihre Übernachtungstasche bereits nach oben gebracht hat, geht ins Bad, cremt ihr Gesicht mit konzentrierten kleinen Tupfern ein und nervt Raif damit. Helen tritt zur Seite, als er zu seiner Zahnbürste greift.

    Dann geht er ins Bett, als wäre er allein, und liest die Zeitung, während Helen sich auszieht. Er schaut nicht auf, als sie die Unterwäsche abstreift, die sie nach seinem Anruf extra angezogen hat, und in ihre Tasche stopft. Dann legt sie sich artig neben ihn. Raif legt die Zeitung weg, macht das Licht aus und schiebt die Hand zwischen Helens Beine. Sie wartet, doch die Hand rührt sich nicht.

    Helen weckt Raif, als er drei Stunden später laut aufschluchzt. Er küsst sie leidenschaftlich und legt seinen Kopf an ihre Stirn. Sie lässt sich auf seine Hinweise ein, während sie gemeinsam versuchen, ihn zum Orgasmus zu bringen, doch er ist nicht nur erschöpft, sondern nimmt auch Medikamente, und es fühlt sich an, als zöge man einen Anker empor. Schlussendlich zieht er Helen zu sich hoch und sieht ihr ins Gesicht.

    «Es tut mir leid.»

    «Macht nichts.»

    «Tut mir leid, dass ich nicht –»

    «Du bist müde.»

    «Dass ich dir nicht mehr bieten kann.»

    «Alles gut», sagt sie und fügt, als er wegdöst, hinzu: «Bald ist es schon ein Jahr.»

    «Zwei Jahre. Seit dem Tod meiner Frau.»

    «Ich meinte das mit uns.» Helen spricht mit einer abstoßend kleinlauten Stimme. «Seit einem knappen Jahr sind wir jetzt sozusagen zusammen.»

    Sie weiß, dass er nicht zuhört und überlegt, warum sie überhaupt damit angefangen hat. Bisher hatte sie noch nicht darüber nachgedacht, doch es gab bereits genügend Nächte wie diese, um sich zu fragen, was sie eigentlich machte, was das war. Er öffnet sich nicht. Wenn überhaupt, hat er sich heute Nacht noch tiefer in sein Schneckenhaus zurückgezogen.

    Raifs Gespräch mit Iris hat nur wenige Minuten gedauert. Was sieht er in ihr? Das, was er braucht. Er schläft und als er aufwacht, steht ihm als Erstes das Bild einer Frau vor Augen, die sich abwendet. Er folgt ihr.

    Um 21 Uhr verlässt Iris das Museum und geht zum Bahnhof. Die großen nichtssagenden Flügeltüren in der Straße mit den zahlreichen Institutionen sind geschlossen. Die Schwärme von Kindern sind verschwunden, genau wie die freundlichen, immer wiederkehrenden Touristen. Zu dieser Zeit gehen die Studierenden in ihre schäbigen Wohnheime zurück und die Reinigungskräfte fahren zur Arbeit. Jetzt, Ende Mai, ist Iris sommerlich gekleidet, trägt aber zusätzlich einen alten Tweedmantel, weil es seit Wochen kühl ist und sie sich nur langsam an wechselndes Wetter gewöhnt. Mit ihrem weiten Kleid, dem dicken Mantel und dem Kurzhaarschnitt könnte sie kindlich wirken, würde sie nicht so überlegt auftreten.

    Das schimpft sich Sommer? Die Londoner nehmen die vereinzelten Sonnentage kaum wahr, so ungeduldig warten sie auf den Hochsommer. Wenn sich aber die heißen, trockenen Tage dahinziehen und wir eigentlich bekommen haben, was wir wollten, sehnen wir uns danach, dass es wieder anders wird. Hält diese Wetterlage an, erlässt die Stadt Warnhinweise. An großen Kreuzungen verteilen Teams gesponserte Wasserflaschen. Damit haben wir zwar gerechnet, doch wie sollen wir uns darauf vorbereiten, dass die Sonne im November eine ganze Woche lang scheint und es dafür von Februar bis Juni regnet?

    Vom Bahnhof geht Iris weiter nach Süden und Richtung Fluss, vorbei an halbmondförmigen und rechteckigen Plätzen. Hier sind die Straßen anders beleuchtet. Der diskrete Schein der Laternen scheut vor den Häusern zurück. Iris hat dort im Grunde nichts zu suchen und würde die abgeschlossenen Gemeinschaftsgärten und die seidenmatten Autos verabscheuen. Doch heute kann sie unbemerkt passieren.

    Sie denkt nicht über die abendliche Begegnung nach, doch ihr Körper quillt geradezu über, und das, was sie nicht einmal vor sich selbst zugeben möchte, wird mittels kleinerer Explosionen verarbeitet. Solange sie es nicht in Worte fasst, darf sie sich dem angenehmen Schockzustand hingeben. Es ist nichts, worüber wir entscheiden, wir können es uns nicht aussuchen. Körper und Gedächtnis funktionieren so unterschiedlich, dass wir sie unmöglich unterscheiden können. Mit sechsundzwanzig wäre Iris zweifellos am Ball geblieben oder hätte es gelassen. Sogar mit sechsunddreißig wurde dieses spezielle Gefühl regelmäßig geweckt. Doch mittlerweile ist sie sechsundvierzig und findet diese Begegnung so fremdartig, dass sie sich wie sechzehn fühlt.

    Als sie nach Hause kommt, hat ihr Mann bereits den Mantel angezogen. Sie bleiben an der Tür stehen und besprechen die nächste Woche. Obwohl sie sich danach nichts mehr zu sagen haben, macht David keine Anstalten zu gehen.

    «Und», sagt er.

    «Und?»

    Sie weiß, was er meint.

    «Du wolltest eine Entscheidung treffen.»

    «Ach ja?»

    Als er die Hand ausstreckt, zuckt Iris zurück.

    «Verdammt, Iris.»

    An diesem Morgen hatten ihre Töchter sie um fünf Uhr morgens geweckt und sie hatte sie ausnahmsweise so gesehen, wie sie waren: zehn und fast zwölf Jahre alt, kurz davor, die Kindheit hinter sich zu lassen.

    «Dad geht’s nicht gut», sagte Lou.

    Seit der Trennung hatte Lou sich aufgebürdet, was sie nur konnte, und Kate war ihr Schatten geworden.

    «Euer Vater ist erschöpft», antwortete Iris. «Wie wir alle. Wie früh ist es eigentlich, zum Teufel?»

    Kate setzte eine flehentliche Miene auf, bittet ihre Mutter nicht sauer zu sein.

    «Genau genommen ist es schon Morgen», antwortete Lou.

    «Und genaugenommen habe ich geschlafen.»

    Lou legte mehr Mitgefühl in ihre Stimme.

    «Vielleicht hat er einen Anfall.»

    «Wie kommst du darauf?»

    «Das hat er uns gesagt», sprudelte Kate hervor. «Er wollte Nudeln für uns kochen, aber dann musste er sich hinlegen, und deshalb haben wir –»

    Lou versetzte ihr einen Stoß mit dem Ellbogen.

    «Was hat er genau gesagt?», fragte Iris.

    Kate schüttelte so dramatisch den Kopf, dass Iris lächeln musste.

    «Das ist nicht lustig!», kreischte Lou. Sie schrie förmlich.

    Iris nahm sie in den Arm und Kate klammerte sich an alle beide, während sie die tröstenden Worte sagte, die normalerweise von Iris kamen, doch sie klangen so niedergeschlagen und gekünstelt, dass es Iris in den Ohren wehtat.

    Die Situation reduzierte sich darauf, dass es ihren Töchtern ganz und gar nicht gut ging und die Frage, was Iris dagegen tun konnte. Sie hatte mit schlaflosen Kindern, und brutalen Vormittagen zu kämpfen, mit Listen, Kosten und dem ganz normalen Alltag, den sie nun alleine stemmen musste. Das Haus fiel in sich zusammen und musste verkauft werden. David konnte nicht ewig im Gästezimmer seiner Schwester hausen. Doch seit den Ereignissen an diesem Morgen schwirrte ihr der Kopf.

    David steht immer noch an der Tür.

    «Iris. Du wolltest dich entscheiden.»

    Mit einem Mal fällt ihr auf, dass sie sich seit Neuestem mit Vornamen anreden, als wollten sie einander wegstoßen. Sie hat zufällig mitgehört, wie ihre Töchter sie oben in ihrem Zimmer ebenfalls als David und Iris bezeichneten. Machten Kinder das so? Ihre Störenfriede von Eltern wegzustoßen? Endlich kann sie etwas erwidern.

    «Die Mädchen haben gesagt, es ginge dir nicht gut.»

    Er zuckt mit den Schultern und richtet sich auf.

    «Kein Grund zur Sorge.»

    Obwohl sie weiß, dass er es nicht so meint, akzeptiert sie es.

    «Das ist gut. Vielleicht kannst du sie selbst noch einmal beruhigen.»

    Das, was er jetzt fühlt – die Kälte seiner Frau, die Einsamkeit aufgrund seiner Krankheit, die Trennung von seinen Töchtern – durchströmt ihn mit solcher Macht, dass er erschauert. Er legt mehr Kraft in seine Stimme und will etwas Versöhnliches sagen, als er es merkt: Ihre Kraft ist vollkommen nach innen gewandt. Sie ist entrückt.

    «Mit wem vögelst du?» Er grinst jetzt, damit er nicht anfängt zu weinen.

    Iris weicht zurück. Es ist, als hätte er sie auf dem Heimweg beobachtet, als ihr Körper so viel Lust ausstrahlte. Es war offensichtlich, oder etwa nicht? Sie ist jetzt auch eine dieser Frauen – albern, geschmeichelt, aus der Bahn geworfen. Der Nervenkitzel strömt durch ihre Adern, als wäre sie sechsunddreißig, sechsundzwanzig, sechzehn. Und deshalb sagt sie das, was sie sagt, aus dem Bedürfnis heraus, diese lächerliche Seite verborgen zu halten.

    «Nicht mit dir, David.»

    Als er sie packt, schiebt sie ihn zur Tür hinaus und schlägt sie zu. David boxt dagegen und schreit.

    «Wer ist es? Wer?»

    Als Iris den Blick hebt, stehen ihre Töchter auf

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