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Django macht sich auf den Weg
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eBook315 Seiten4 Stunden

Django macht sich auf den Weg

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Über dieses E-Book

Reinhardt "Django" Winkler, 65, überzeugter Hedonist und selbsternannter Lebenskünstler, begibt sich auf eine Reise quer durch Deutschland auf den Spuren seiner Vergangenheit. Doch die erhoffte nostalgische Tournee wird zu einer Reise, die ihn tief in dunkle Kapitel deutscher Geschichte führt und nicht nur sein positives Selbstbild, sondern seine gesamte Identität fundamental infrage stellt.
Eine Geschichte voller Humor, Tragik und Philosophie.
SpracheDeutsch
Herausgebernet-Verlag
Erscheinungsdatum8. Nov. 2022
ISBN9783957203663
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    Buchvorschau

    Django macht sich auf den Weg - Wolfgang Mebs

    Kapitel 1

    Aufbruch

    Also, eines schon mal vorweg: Es ist nicht meine Schuld. Ich mein, dass ich euch hier einen über mein Leben erzähle. Das mit der Reise, das war meine Idee, aber es waren meine Freunde und vor allem mein Bruder, die mich überredet haben, alles auf- und damit quasi meine Biografie zu schreiben. Aber schreiben ist mir zu mühselig. Ich rede lieber. Habe ich schon immer getan. Außerdem wird heutzutage ohnehin weniger gelesen. Alles rennt doch nur noch mit einem Stöpsel im Ohr herum.

    Freddy meinte, allein wegen all der vielen Reisen hätte ich eine Menge zu erzählen. Außerdem wären wir doch Teil der 68er-Generation. Was aber nicht so ganz stimmt, aber dazu später.

    Ich gebe zu, es ist einiges geschehen in diesen 65 Jahren, aber so außergewöhnlich ist das ja nun auch nicht, und ich frage mich, was berichtens- und was erinnernswert ist, und ob ich mich wirklich an alles erinnern möchte. Und ob ich alles erzählen will; also ehrlich, das weiß ich auch noch nicht. Vielleicht ist manches ja auch einfach nur peinlich. Man macht und sagt ja, wenn man jung ist, auch manchen Blödsinn. Womöglich löst die Beschäftigung mit all diesen Jahren aber auch Erinnerungen aus, die mir gar nicht lieb sind, die Verschüttetes freilegen, das besser unter den mentalen Erdschichten der Verdrängung verborgen geblieben wäre, und plötzlich sitze ich heulend und jammernd und zähneklappernd da oder löse gar eine Psychose aus. Also, ihr tragt die Verantwortung, wenn ich in der Klapse lande.

    Kleiner Scherz. Ich habe mich in dieser Hinsicht bisher schadlos durchs Leben geschlagen, jedenfalls mit nicht mehr mentalen Deformierungen als üblich, und davon abgesehen wüsste ich auch nicht, was ich Erschütterndes getan haben sollte. Ein echtes Wagnis ist das also nicht.

    Aber vielleicht erst mal zu mir. Wie gesagt, 65 Jahre, gut erhalten, 1,80, schlank, aber nicht schlaksig, Schultern zum Anlehnen. Tiefe, grünbraune Augen, gutes Kinn, etwas zu große Nase, Ohren könnten eine Wenigkeit mehr anliegen, winzige Fehlstellung des rechten Fußes, die mich vor dem Wehrdienst bewahrt hat. 3-Tage-Bart, früher schwarze, wellige Haare, jetzt sind die Geheimratsecken am Hinterkopf zusammengewachsen und der Pferdeschwanz ist dünn und silbriggrau. Immer noch überzeugt ledig. U.a. diverser Student, Reisender, Roady, Zeitungsausträger, Kellner, Erntehelfer.

    Aber ich und Autobiografie? Hab noch nie eine gelesen. Das sind doch bloß narzisstische Märchen von selbstberauschten Egomanen. Und wer heute so alles Biografien schreibt! Gerade 20 oder 30 und ein Furz in der Geschichte – schon muss eine Biografie her, die dann so authentisch ist wie Analogkäse. Und ich war nicht mal fünf Minuten lang berühmt, bin nicht mal Z-Promi und habe nichts bemerkenswert Weltbewegendes vollbracht.

    Aber zum einen bin ich, ganz unbescheiden gesagt, schon eine denkwürdige Type und hab manch Kurioses erlebt, und zu sagen hab ich auch das eine oder andere. Bin jetzt schließlich 65.

    Zum anderen gibt es da merkwürdige Dinge, die ich gerne klären würde, Fragen, die sich mir stellen, seit ich die Truhe im Keller wiederentdeckt habe. Die brachte mich zum Sinnieren, obwohl ich ehrlich gesagt eigentlich nicht sehr dazu neige. Jedenfalls habe ich bisher noch keine sonderlich philosophische Ader in mir entdeckt, und die ganzen existenzialistischen Diskussionen habe ich immer für ziemlich abgehoben gehalten und wenig nützlich, wovon mein Bruder ein garstig’ Lied singen kann. Aber wenn man erst mal in meinem Alter ist …

    Jedenfalls habe ich mich deshalb entschlossen, doch ein paar mündliche Notizen zu machen, denn mittlerweile habe ich den Eindruck, dass ich in den nächsten Wochen viel nachzudenken habe, und Uwe hat wahrscheinlich doch recht, wenn er meint, dass man gezwungen ist, präziser zu sein, genauer, tiefer zu gehen, wenn man Dinge, die einem sonst nur flüchtig und verschwommen durchs Hirn huschen, wirklich in Worte fasst. Und immerhin geht es ja um mein Leben.

    Was ist der Mensch? Diese Frage habe ich bisher so beantwortet: ein Tier, das leider irgendwann anfing zu denken. Und zwar: Ich bin der Größte. Ich bin die Krönung, aber nicht von Eduscho, sondern der ganzen Schöpfung. Und davon abgesehen ist der Mensch einfach ein Wesen, das frisst und kackt und sich vermehrt und Dinge erfindet, die seinen Lebensraum zerstören. So viel zur Krone der Schöpfung. In der Hinsicht ist jeder Grottenolm intelligenter.

    Aber seit die Idee einmal in meinem Kopf ist, frage ich mich plötzlich: Und was ist mit dir? So als Mensch? Nicht nur das. Mir fallen alle möglichen Dinge wieder ein, oder ich erinnere mich an Leute, die ich früher kannte, und ich frage mich, was aus ihnen geworden ist und ob sie sich an Dinge erinnern, die ich vergessen habe. Und eh du dich versiehst, fragst du dich, ob es das alles wert war und was du denn eigentlich so gemacht hast aus deinem Leben, ob du Spuren hinterlassen hast – eine Frage, die für mich bisher völlig irrelevant war – und wenn welche? Vor allem als ich auf diese Kopie stieß.

    Also habe ich beschlossen zurückzublicken. Weil man nicht ewig lebt, vielleicht irgendwann auch nicht mehr will, und dann ist es doch gut zu wissen, was war und wie es war. Wer weiß, vielleicht hat Uwe ja recht, und ich finde auf dieser Reise auch heraus, warum es so war und nicht anders und ob es gut war und richtig, banal oder enttäuschend, sinnentleert oder aufregend und vor allem, ob ich damit leben kann im Tod.

    Kerl noch mal, so tiefschürfende Sachen hab ich, glaub ich, noch nie von mir gegeben. Wo soll das enden?

    Jedenfalls ist das mal wieder typisch Uwe. Muss alles gleich philosophisch überhöhen. Also ich mache mir diesbezüglich jedenfalls keine Sorgen.

    Objektivität kann man natürlich von vornherein vergessen. Bin ich Jesus? Ich werde es auch gar nicht versuchen. Erinnerungen sind trügerisch. Man läuft auf ihnen wie die Comicfiguren, die vor irgendetwas wegrennen, über einen Abgrund hinweg und dennoch in der Luft schwebend wie auf festem Boden weiterlaufen, und das funktioniert tatsächlich, aber kaum sieht der Roadrunner nach unten, stürzt er ab und verrenkt sich die Gräten.

    »Weißt du noch, der Abend im Forum Romanum, diese herrliche Flasche Rotwein, die uns der Händler von nebenan geschenkt hatte, weil er Geburtstag hatte?« Durchaus möglich, dass Freddy mir dann antwortet: »Ich weiß nicht, es gab so viele Abende, so viel Rotwein. Außerdem glaube ich, dass seine Frau Geburtstag hatte, nicht er selber. Oder war es die Tochter? Jedenfalls nicht er selber. Und getrunken haben wir sie auf der Spanischen Treppe.«

    Jedenfalls habe ich gerade Bully II beladen. Einen T1 von ’66. Mein erster war von ’58, mit sagenhaften 30 PS. Jetzt hab ich 44, was auch nicht der Rede wert ist, aber ich will ja keine Rennen veranstalten, sondern, ganz Django, gemütlich umherschweifen und abrollen.

    Und morgen geht’s los. Irgendwann im Laufe des Tages, wenn der ganze Berufsverkehr rund um Köln vorbei ist. Ich hab zwar mächtig Hummeln im Hintern, aber deshalb muss ich ja nicht in aller Frühe aufstehen. Das war noch nie mein Fall. Der frühe Vogel frisst auch nur Würmer.

    Reinhardt Winkler hatte einen Plan. Einen in zweifacher Hinsicht für ihn erstaunlich langwierigen Plan. Zwei Jahre lang hatte er ihn ausgeheckt, und es würde eine Weile dauern, ihn auszuführen. Wie lange, davon hatte er noch keine rechte Vorstellung, aber ein Jahr lang konnte er schon unterwegs sein, vielleicht auch länger. Und nun, vier Wochen nach seiner Verrentung, begann er, ihn umzusetzen.

    Für Phase 1 hatte er sich einen alten VW-Bus zugelegt, der mittlerweile ein echtes Liebhaberstück war und einen dementsprechenden Preis hatte, aber für das, was er vorhatte, gab es keine Alternative. In wochenlanger Kleinarbeit hatte er ihn, soweit es ihm möglich war, in eine Kopie seines ersten Bully verwandelt, inklusive Wasch- und Spülbecken und einem Zwei-Flammen-Gaskocher. Sogar sein altes, an den Ecken mit Tesastreifen verziertes und eingerissenes Frank Zappa-Plakat, das auf der Toilette, hatte er wiedergefunden und an der Decke befestigt. Auf der Bettbank lag jetzt allerdings nicht nur eine Wolldecke, sondern eine bequeme Matratze. So viel Rücksicht auf seinen nicht mehr so strapazierfähigen Rücken musste sein.

    Die Musik kam jetzt auch nicht mehr aus einem Kofferradio mit verbogener Antenne, sondern von Spotify. Außerdem hatte sein Nachbar Henning die Elektrik aufgepeppt und eine Mikrowelle eingebaut. Statt eines Rucksacks mit einer Ersatzjeans, einem Pullover, drei T-Shirts, drei Paar Socken und ebenso vielen Unterhosen sowie einmal Rei-in-der-Tube hatte er diesmal einen Koffer voller Kleidung verstaut.

    Auf je 20 Dosen Ravioli und Pichelsteiner Eintopf von Aldi hatte er verzichtet. So weit wollte er die Nostalgie dann doch nicht treiben. Fünf Dosen würden reichen müssen.

    Das Wichtigste, neben seiner Gitarre, lud er zuletzt ein: eine Holztruhe mit gewölbtem Deckel, Messingbeschlägen und einem gewaltigen, mittlerweile völlig verrosteten Vorhängeschloss, das er hatte aufbrechen müssen, da er keinen Schlüssel hatte beziehungsweise nicht wusste, wo der war. Er war sich vorgekommen wie Jim Hawkins auf der Schatzinsel. Allerdings enthielt seine Kiste keine Schätze aus Gold und Silber, sondern ein Sammelsurium an Memorabilien seines eigenen Lebens und eine Zigarrenkiste seines Vaters, die er nach dessen Tod mitgenommen und danach vergessen hatte. Jahrelang hatte die Truhe im Keller gestanden, neben weiterem Krempel, den er längst hatte entsorgen wollen. Doch dann gab sie ihm den letzten Anstoß für seinen Plan.

    Jeder hat diesen Spruch schon einmal gehört oder selbst gesagt: »Du solltest wirklich ein Buch über dein Leben schreiben« oder so ähnlich.

    Sie hatten schon einige Flaschen Bier und Wein geleert und schwelgten in alten Geschichten, als Reinhardt zahlreiche Anekdoten zum Besten gegeben hatte und der Satz fiel. Reinhardt stritt ab, dass sich das lohnen würde, man verwies darauf, wie viel in seinem Leben passiert sei, und mein Gott, in welcher Zeit er gelebt hatte, und geredet hätte er doch gefühlt ununterbrochen – eine erste Bemerkung, die Reinhardt am Erinnerungsvermögen seiner Freunde zweifeln ließ – da könne er doch einfach mal alles aufschreiben.

    Zwei Jahre war das her. Irgendwie war der Gedanke hängen geblieben, nahm aber eine Wendung vom Anekdotischen zum Grundsätzlichen. Reinhardt gehörte nicht zu den Menschen, die ständig über den Sinn des Lebens nachdachten. Ihm reichte es, möglichst unbeschadet hindurchzukommen und dabei so viel Spaß wie möglich zu haben. So saß er anfangs einfach in der Sonne und ließ die Vergangenheit abspulen, seine Frauen vor allem und seine Reisen, Konzerte und immer wieder Partys, Feiern und Feten. Und all die verschiedenen Jobs, mit denen er sich durchgeschlagen hatte.

    Völlig unerwartet und aus dem Nichts setzte sich eine Frage in ihm fest, die er zunächst mit einem völlig selbstverständlichen »na klar« beantwortete. Dann aber machte sich eine leise, wie von weit entfernt von einer sanften Brise herangewehte Skepsis breit, die sich im Laufe der Tage und Wochen zu einem nagenden Zweifel auswuchs, wie ein Teufelchen, das sich in seinem Cortex festsetzte und ihn zwickte und ärgerte. Er konnte sich zwar noch an alle möglichen Leute erinnern, aber immer häufiger fragte er sich, ob das umgekehrt auch galt. Natürlich ging er davon aus, dass der eine oder die andere ihn vergessen hatte, aber er war sich sicher, dass die meisten einen Menschen wie ihn nicht vergessen konnten. Er sah gut aus, war fröhlich, witzig und unterhaltsam und jederzeit zum Pferdestehlen bereit.

    Nur entwuchsen dieser Antwort weitere Fragen, die sich wie mit Widerhaken in seine Gedanken gruben. Woran würden sie sich erinnern? Und vor allem: Wie? Vielleicht hatte ja der eine oder andere keine oder nur teilweise gute Erinnerungen an ihn.

    Und dann blickte er eines Tages sinnierend in sein Pilsglas und fragte sich urplötzlich, wie lange man noch an ihn denken würde – nach seinem Tod.

    Er trank das Glas leer, bestellte ein neues, aber die Perspektive besserte sich nicht, der postletale Himmel hellte sich nicht auf. Zum ersten Mal in seinem Leben kam er sich philosophisch vor. Das dauerte allerdings nicht lange. Er bestellte einen Grappa und begann, einen Plan zu entwickeln, den Plan zu einer Revue seines Lebens. Er würde so viele Menschen wie möglich besuchen, mit ihnen über ihre gemeinsame Vergangenheit reden, herausfinden, was aus ihnen geworden war. Und was das mit ihm zu tun hatte. Er wollte sich ihnen in Erinnerung rufen.

    Im Großen und Ganzen war er sich sicher, dass es, von vielleicht wenigen Ausnahmen abgesehen, eine vergnügliche Reise für alle Beteiligten werden würde.

    Mit der Zeit ging die Idee den Gang vieler seiner Ideen. Sie verblasste und rückte in die abgelegenen Zonen seines Gehirns. Dann entdeckte er die Truhe im Keller.

    Kapitel 2

    Heiligenhaus

    Heiligenhaus, eine Kleinstadt nordöstlich von Düsseldorf in den 50er-, 60er-Jahren. Es gab alles, was man brauchte, sogar ein Kino, aber alles war überschaubar und atmete den Mief der Nachkriegszeit. Die Großkopferten und Honoratioren, Bürgermeister und Schulleiter und vor allem die beiden Kirchenoberhäupter waren Menschen höchster Autorität, die es grundsätzlich zu grüßen galt, und wenn der Herr Pfarrer stehen blieb und sich nach dem Befinden erkundigte, gab man ihm bereitwillig Auskunft, wobei sich die meisten Menschen nur so weit notwendig und vertretbar an die Wahrheit hielten.

    Es war ja ohnehin die Zeit der Lebenslügen. In Reinhardts Familie wie in der ganzen Stadt konzentrierte man sich auf das Wirtschaftswunder. Die Stadt war relativ glimpflich durch den Krieg gekommen, sodass die Schäden bald beseitigt waren. Der Blick nach vorn verbreitete bessere Stimmung als der zurück. Geblieben waren allenfalls die Erinnerungen an die Kriegsgefangenen und die Zwangsarbeiter, die nach der Befreiung und der Flucht der einst gefeierten Nazi-Größen der Stadt ihr Lager in die Luft sprengten und, wie es hieß, marodierend, raubend und vergewaltigend durch die Stadt gezogen waren. Eine Horde von 2500 Menschen soll es gewesen sein, die Angst und Schrecken unter den Meistern der Angst und des Schreckens verbreiteten. Reinhardts Geschichtslehrer nannte es »die Undankbarkeit der Schutzbefohlenen«. Es gab nicht wenige, die nach Yitzhak Rosenbaums Rückkehr seinen Laden nach wie vor nicht betraten.

    Reinhardt hatte beschlossen, seinen Rückblick hier zu beginnen, in der Stadt, in der er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte, um die richtige Stimmung heraufzubeschwören. Und schon bei der Einfahrt funktionierte es: Der Ort hatte sich ausgedehnt. Als er auf der Umgehungsstraße um die Innenstadt herumfuhr, dort, wo früher Bauer Kortes Kühe grasten, sah er eine schmale, zweispurige Straße – und schon radelte er auf seinem klapprigen Gestell ohne Gangschaltung die Steigung hinauf und im Slalom auf den Bürgersteig und um die Bäume herum mit dem Ranzen auf dem Rücken, einer alten Ledertasche seines Opas, die er hasste wegen der vielen speckigen Flecken und des ausgeleierten Steckschlosses.

    Gerade noch rechtzeitig nahm er die Bremslichter wahr und bremste so hart, dass die Reifen quietschten. Er fuhr auf den erstbesten Parkplatz und schlenderte durchs Zentrum.

    Natürlich war alles alt und neu zugleich, oder besser neu im Alten. Die meisten Häuser auf der Hauptstraße standen noch, mit neuer oder restaurierter Fassade, aber die Geschäfte im Parterre waren anders.

    Reinhardt verfiel in einen merkwürdigen, fast schizophrenen Zustand, als würde er mit dem einen Auge das moderne Heiligenhaus erkunden und mit dem anderen in die Vergangenheit blicken. Er sah das alte, zweistöckige Backsteinhaus mit der Äskulap-Apotheke, das einem grauen Wohnquader gewichen war. Er konnte klar und deutlich die Ankündigung von »Winnetou 1« auf dem Sandwich-Ständer vor dem Kapitol Theater sehen, obwohl sich dort jetzt eine Einrichtungsoase befand, und er nahm auch die seiner Meinung nach ziemlich hässlichen Möbel wahr und verglich sie mit dem Wohnzimmer seiner Eltern, mit Nierentisch, dreistrahliger Tütenlampe, knallgelben Schalensesseln und dem rosaroten Sofa mit den schrägstehenden dünnen Beinchen, das ihnen ein befreundeter Innenarchitekt verordnet hatte – und nur ein Jahr später wieder durch Eiche rustikal ersetzt worden war.

    Es gab kein »Miederwaren Herbert« mehr, der nicht seine Waren im Schaufenster ausgestellt hatte, sondern große, bunte Kartons mit Beschreibungen und Preisen. Reinhardt hatte erst durch den Otto-Katalog seiner Eltern herausgefunden, was dort verkauft wurde.

    Die kleinen Obst- und Gemüseläden hatten Friseuren, Nagel- und Tattoo-Studios und einem Ein-Euro-Shop Platz gemacht. Aus Herrn Rosenbaums Tabakwarenhandlung war eine Lotto-Annahmestelle geworden, und aus Luigis sechs Sorten winziger Eisdiele ein glitzernder Palast mit 36 Eiskreationen.

    Auch wenn die Eisbecher zu seinen ersten Ausschweifungen gehörten, erinnerte ihn der Laden vor allem an Brigitte und Constanze, zwei Schulfreundinnen, die ihn durch das erste onaniereiche Jahr begleitet hatten. In einer Anwandlung von Ritterlichkeit hatte er Brigitte angeboten, auf dem gemeinsamen Schulweg ihre Tasche zu tragen, was diese kichernd, aber gerne angenommen hatte, ohne ihm allerdings den so heiß begehrten ersten Sex oder doch wenigstens einen Kuss zu gewähren. Auch sein zweiter Versuch, sich stattdessen Constanzes Wohlwollen zu erschmeicheln, schlug ein paar Wochen später fehl. Als er nach Monaten endlich die Vergeblichkeit seiner Liebesmühen eingesehen hatte, vermied er es, den beiden morgens zu begegnen, auch wenn sich sein Schulweg dadurch um einen Kilometer verlängerte.

    Reinhardts Familie gehörte zu den oberen 100 der Stadt. Hans Hermann Winkler gehörten die Heiligenhauser Metallwerke. Da er eine große Zukunft im Automobilbau sah, hatte er 1955 ein Werk für Gelenkwellenbau gegründet. Das Werk war als Zulieferer und Reparaturwerk vor allem für Lastkraftwagen schnell erfolgreich, beschäftigte Anfang der 60er-Jahre fast 100 Mitarbeiter und war damit einer der großen Arbeitgeber der Stadt.

    Enttäuscht musste Reinhardt feststellen, dass nicht nur die Fabrikhallen, sondern auch das in das Werk integrierte Elternhaus nicht mehr existierte und einem großen quaderförmigen Wohnkomplex Platz gemacht hatte. Auch die Koppeln, auf denen ein Geschäftspartner seines Vaters direkt neben der Fabrik seine Pferde weidete, gab es nicht mehr.

    Es fiel ihm schwer, die damalige Stimmung wieder heraufzubeschwören, ohne den Anblick des für eine Fabrikantenfamilie bescheidenen zweistöckigen Hauses mit der schlichten Fassade und dem angrenzenden Garten. Das Einzige, das ihm spontan einfallen wollte, war das Verbot, dort spielen zu dürfen.

    Logbuch Space Bully II, Tag 1.

    Ich dachte mir, ich fange mal ganz vorne an, also bin ich heute als Erstes nach Heiligenhaus gefahren. Dort wurde ich 1948 geboren als Sohn von Hans Hermann und Elisabeth Katharina Winkler, und zwar am 28. 11. 1948, dem ersten Advent. Was immer das heißen mag.

    Als Goethe das Licht der Welt erblickte, war »die Konstellation glücklich«, wie er selber feststellte. Die Planeten waren ihm wohlgesinnt und der Mond voll. Laut Jimi Hendrix ließ seine Geburt den Mond feuerrot erglühen. Bei meiner kümmerte sich keine Sau um Planeten, Sonne, Mond und Sterne. War alles normal. Vermute ich, denn meine Mutter hat nie etwas erwähnt, im Gegensatz zu Uwes Geburt, dessen Story ich weiß nicht wie oft erzählt wurde, wie mein Vater mit Vollgas zur Klinik raste, als die Wehen zu früh einsetzten, wie sie kein Benzin mehr hatten und ein Lkw-Fahrer sie schließlich nach Velbert fuhr und wie glücklich sie waren, als sie endlich den kleinen, zerknautschten Uwe im Arm hielten.

    Na ja, war halt das erste Kind. Bei mir war’s wohl Routine.

    Ich weiß nicht mal die Uhrzeit, deshalb kann ich auch nichts zu meinem Aszendenten sagen, falls das jemanden interessiert. Mich nicht.

    Maria schon, eine Schweizerin, die ich in Australien kennengelernt hatte. Wir knutschten heftig herum und hatten uns schon halb ausgezogen, als sie mich nach meinem Sternzeichen fragte, und ich, ganz geistesab- und schwanzanwesend, flüsterte »Schütze«, da erstarrte sie, stöhnte: »Oh, Scheiße, ne du, das geht gar nicht.«

    Ich kapierte nix, bis sie mich dann aufklärte, dass Krebs und Schütze überhaupt nicht zusammenpassten. Ich scherzte noch: »Doch, in der Mitte«, aber sie lachte nicht, sondern erzählte von ihren unglücklichen Lieben und dass das alles Schützen waren, weil Schützen nun mal unersättlich, vergnügungssüchtig, kritik- und verantwortungslos und vor allem chronisch untreu seien.

    Mein Gott, als hätte ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Also ehrlich, was ein Nonsens. Aber clever. So kann man prima seine eigenen Neurosen ins Weltall sublimieren. Also, um das mal klar zu sagen: sternenfunkelnde Romantik, von mir aus, aber in den Sternen steht gar nichts. Null. Nada.

    Aber ich schweife ab.

    Also Heiligenhaus.

    Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr hier. Natürlich sieht vieles anders aus, aber andauernd flackerten Bilder von früher auf, sodass mein Hirn permanent Erinnerungen aus den Katakomben meines Gedächtnisses nach oben schaufelte. Manches kann ich nicht wirklich einordnen. Da ist mehr so das Gefühl von: Da war doch mal was. Andere Bilder sind glasklar.

    Wie die Doktorspiele mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft, ihr nackter Hintern, meine heruntergelassenen Hosen, unsere unbehaarten, noch unterentwickelten Lustzentren. Wir untersuchten uns gegenseitig – keine Ahnung, was genau. Die begeisterte Neugier für diese Körperregion ist jedenfalls geblieben.

    Das zweite Bild ist ebenso scharf. Biggeln. Ich glaube, selbst den Ausdruck hatte ich vergessen. Hinter unserer Fabrik gab es eine Wiese, die von Sandwegen begrenzt wurde, und dort spielten wir mit unseren Glaskugeln, die wir mit dem Zeigefinger in eine in den Weg gebuddelte Kuhle schnibbelten. Wer in einer Runde die meisten hineinbugsierte, durfte die der anderen Mitspieler behalten. Ich besaß einen ganzen Sack voll.

    Der Betrieb unserer Eltern existiert nicht mehr. Ist alles abgerissen worden. Nicht dass das ein ästhetischer Anblick gewesen wäre. Ist mir ehrlich gesagt auch nicht wichtig.

    Dieses Kaff macht jetzt einen auf weltläufig. Wo früher die AEG einen Betrieb hatte, gibt es jetzt einen Park; haltet euch fest: den John-Steinbeck-Park, weil dessen Großvater aus Heiligenhaus stammt, man glaubt es kaum. Der wusste schon, warum er hier wegwollte, und jetzt heften die sich das an die Brust. Hier! In Heiligenhaus! Unser Steinbeck! So ein ausgemachter Tinnef.

    Die Straßen im alten Stadtkern sind im Wesentlichen noch erhalten, weshalb ich auch meinen alten Schulweg noch einmal ablaufen konnte. Ein seltsames Erlebnis. Obwohl natürlich jetzt das Meiste anders aussieht; ein paar Häuser sind ja noch da, und die beiden Kirchen.

    Ich hab auch nicht schlecht gestaunt, dass es Luigis Eisdiele immer noch gibt. Heißt aber jetzt Cortina. Auch eine Art von Fortschritt. Wo allerdings heute ein restaurantgroßer Laden mit Außengastronomie mit zu groß dimensionierter, bonbonfarbener Neonreklame auf sich aufmerksam macht, gab es damals nur einen engen Schlauch mit drei kleinen Tischen, und das meiste Eis ging im Hörnchen über die Theke. Die Kugel, wenn ich mich recht erinnere,

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