Auf Abwegen und Umwegen: Über die Scham einer Gepardin wegen ihrer psychischen Erkrankung
Von Julia Majon und Andrea Mara Schenn
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Über dieses E-Book
eine illustrierte Geschichte und ihr wissenschaftlicher Hintergrund
Wovon handelt die Geschichte?
Eine Gepardin stellt sich aus Scham ihrer psychischen Erkrankung (Depression) zunächst nicht. Von sich selbst aber dazu gezwungen, gibt sie die Selbstverleugnung auf und kommt dadurch mit verschiedenen anderen Tieren in Kontakt. Die helfen ihr, an ihrer Freud- und Freundlosigkeit zu arbeiten und mit der stigmabehafteten Diagnose einer psychischen Störung umzugehen.
Was ist der Hintergrund des Buches?
Das Buch ist in Kooperation mit der Universität Tübingen entstanden und wurde vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg gefördert. Grundlage der Geschichte ist eine Befragung von 250 Personen mit psychischen Erkrankungen. Die Ergebnisse der Befragung und weitere wissenschaftliche Befunde zu Scham und Vorurteilen bei psychischen Störungen sind im zweiten Buchteil enthalten (z. B. Zitate von Betroffenen zu ihren Erfahrungen mit Scham; sechs Antistigma-Aussagen).
Für wen ist das Buch geschrieben?
Sowohl selbst Betroffene als auch Nicht-Erkrankte sollen mit dem Buch angesprochen werden.
Betroffene soll das Buch bei der eigenen Auseinandersetzung mit dem Stigma unterstützen. Wir wünschen uns, dass sie durch diese Unterstützung letztlich mehr Kraft und Mut in sich finden, um von ihrer Erkrankung besser genesen zu können. Angehörige und andere, die selbst nicht psychisch erkrankt sind, werden mithilfe des Buches über psychische Erkrankungen informiert. Durch das Buch kann eher nachempfunden werden, welchen Vorurteilen sich Betroffene ausgesetzt sehen und was das für sie bedeutet.
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Buchvorschau
Auf Abwegen und Umwegen - Julia Majon
I
Auf Abwegen
Stilvoll und gekonnt duckt sich die Gepardin im hohen Gras tief nieder, so dass sie aus der Perspektive der Gazellen kaum zu entdecken ist. Ihre schwarzen Ohren legt sie nah an ihren Kopf an, um noch weniger im hellen Gras aufzufallen. Durch die Anspannung der Ohren soll auch ihre Konzentration besser aufrechterhalten werden. So hat sie es damals gelernt von ihrem Lehrer im Fangtechnik-Kurs.
Vor den Augen ihrer Bekannten, das heißt vor einigen Leoparden und Pumas, werden die Ohren der Gepardin aber plötzlich schlaff und deren Schwärze präsentiert sich. Die Aufmerksamkeit der Gepardin zieht von den Gazellen weg, zurück in ihren eigenen Kopf. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als dieser Bewegung zu ihren Gedanken zu folgen. So stark ist der Zug weg von der Welt da draußen.
Zuvor, also vor gut einer halben Stunde, war die Gepardin zu ihren Bekannten dazugestoßen. Diese hatten sich zur Mittagsruhe unter den Bäumen zusammengefunden, denn sie bevorzugen es, anders als die Gepardin, nachts auf die Jagd zu gehen. Als sie sich dann zu ihnen legen wollte, war der eine der Leoparden gerade unglaublich gelangweilt von seiner Mittagsruhe. Er warf sich, der Stille und Untätigkeit überdrüssig, zunächst auf seinen Rücken, streckte alle vier Tatzen in die Luft und fuhr seine Krallen aus.
Dann aber sprang er plötzlich mit einem Satz enthusiastisch auf seine Tatzen zurück und meinte ein wenig bestimmend und forsch zur Gepardin, sie solle doch ein bisschen „Action" in die zu ruhige Ruhe bringen. Sie solle sich eine Gazelle vor ihnen fangen.
Ihr selbst war dagegen eigentlich eher nach Ruhe. Darum reagierte sie eher verhalten auf den Vorschlag bzw. auf die Forderung des Leoparden. Eine andere Leopardin mischte sich ein. Diese schaute der Gepardin fordernd direkt in die Augen und argumentierte dann ein wenig vorwurfsvoll, dass die Gepardin durch ihren auf Schnelligkeit getrimmten dünnen Körper als einzige von ihnen tagsüber in der Lage wäre, ein Beutetier zu fangen. Und den Gefallen könnte sie ihnen doch wohl tun, eben eine Gazelle zu fangen.
Weil der Gepardin kein Gegenargument einfiel und da der Leopard mittlerweile genervt von ihrer geäußerten Lustlosigkeit die Augen verdrehte, ließ sie sich letztlich überreden. Und so begann sie, sich mit geducktem Körper langsam an die Gazellen heranzuschleichen.
So kam es dazu, dass sie jetzt in ihrer Anpirschposition sitzt und auf den geeigneten Moment für einen Angriff wartet. Und während sie so nach schwachen, kleinen oder unaufmerksamen Gazellen Ausschau hält, wird sie plötzlich nachdenklich.
Ihre Vorderbeine verlieren an Spannung und das Atmen beginnt, ihr schwer zu fallen. Es ist, als drücke ihr Brustkorb gegen ihre Lungen, als wolle er ihre Lungen einsperren, sie davon abhalten, ihren Körper zu viel zu bewegen. Auch ihr Bauch reagiert sonderbar. Er wird von ihrer Bauchdecke zusammengepresst und der Gepardin wird leicht übel. Sie verliert ihren Appetit völlig und damit vergeht ihr auch noch die kleinste Lust zum Jagen.
Und eigentlich fühlt sie das schon seit einiger Zeit so, also, dass sie zu nichts richtig Lust hat. Nicht nur in Bezug auf das Jagen und Fressen der Gazellen. Ihre gesamte Stimmung ist seit einigen Monaten irgendwie mies. Sie hat an nichts so richtig Lust, kann sich zu nichts aufraffen. Allein, dass sie es heute zu den Leoparden und Pumas überhaupt geschafft hat, war ein ziemlicher Kraftakt.
Ihr Morgen hat nämlich damit angefangen, dass sie geweint hat. Sie ist aufgewacht, hat ihre Augen geöffnet und wurde von den Strahlen der Morgensonne geblendet. Sie hat darüber gegrummelt. Die Blätter aber, die sie sich als Schlafunterlage am Abend zusammengesucht hatte, konnte sie nicht finden, um sie sich auf die Augen zu legen. Die Blätter sind wohl über Nacht weggeweht worden. Und so hat sich die Helligkeit der Sonne dann ungehindert in ihre Augen gedrückt.
Dagegen konnte sie sich nicht wehren. Dieses Gefühl, ausgeliefert zu sein, ist immer größer und größer geworden, bis sie davon völlig durchströmt war. Ihr Körper hat sich dann wie gelähmt angefühlt. Ihre Augen haben sich mit Tränen gefüllt und sie hat sich gefragt – und zwar nicht das erste Mal -, warum dieses Hilflosigkeitsgefühl eigentlich immer wieder so riesig in ihr würde.
Schon sehr bald darauf ist sie sich nicht nur gegenüber der hellen Sonne, sondern gegenüber allem völlig machtlos vorgekommen. So hat sie sich auch dem immer vereinnahmenderen Hilflosigkeitsgefühl selbst gegenüber hilflos gefühlt. Das Gefühl hat sich mehr und mehr gesteigert. Sekunde um Sekunde hat sich ihr Körper gefangener und unbeweglicher angefühlt. Und irgendwann war sie so eingenommen von diesem Gefühl, dass sie völlig aufgelöst und verzweifelt angefangen hat zu weinen.
Es haben sich Unmengen an Tränen aus ihrem Inneren nach draußen gedrückt und sind ihre schwarzen Tränenlinien hinuntergeströmt. Sie hat sich zusammengekauert und hat versucht, sich selbst Trost zu spenden, indem sie ihre Vorderbeine feste an ihren Oberkörper gepresst hat. Wofür sie Trost brauchte, ist ihr aber selbst völlig rätselhaft gewesen. Sie hat geweint und geweint und ist schließlich darüber wieder eingeschlafen.
Als sie dann aufwachte, war ihr Gesicht verklebt von den vielen getrockneten Tränen. Ihre Tränenlinien wiederum, die ihr sonst beim Jagen helfen, sind noch dicker geworden. Schon über die letzten paar Monate haben diese sich immer mehr in breite schwarze Furchen zu verwandeln begonnen.
Eigentlich sollen diese dunklen Linien, die von ihren Augen bis zu ihrem Mundwinkel verlaufen, die Blendung durch die helle Sonne verringern. Dadurch, dass sie dann weniger von der Sonne abgelenkt ist, verbessert sich eigentlich ihre Konzentration beim Jagen. Nun aber ist sie eher abgelenkt von ihnen, denn mit ihrer Schwere ziehen die Tränenlinien ihr Gesicht nach unten.
Warum ihr so oft zum Weinen zumute ist, kann sie selbst aber nicht so recht sagen. Sie weiß nicht, was sie so sehr herunterzieht, was sie immer so vereinnahmt. Und sie hat keine Ahnung, warum das in den letzten Monaten so plötzlich passiert ist. Vor ein paar Monaten gab es mal eine stressige Zeit und die hat sie etwas aufgewühlt. Aber das ist jetzt ja alles geklärt und eigentlich dürfte sie das nicht mehr belasten.
Irgendwann hat sie dann bemerkt, dass sie nicht nur ständig traurig und niedergeschlagen war und sich zu nichts aufraffen konnte, sondern dass sie sich auch immer leerer fühlte - irgendwie so, als hätte sie gar keine Gefühle mehr.
Dann wurde es auch immer schwieriger für sie, ihren Körper zu bewegen und ihn richtig zu spüren. Es wurde schwieriger zu bemerken, wann sie sich wohlfühlte und wann sie etwas eindeutig nicht wollte. Sie fühlte sich manchmal wie ein Spielball für alle, die im Gegensatz zu ihr selbst noch etwas wollten - für all die, die noch Sinn sahen wie jetzt ihre Bekannten. Diese hatten sie dazu überredet, eine Gazelle zu jagen, weil sie es unbedingt wollten.
Und genauso, wie sie sich am Morgen hilflos fühlte und nicht gegen ihre sie niederdrückenden Gedanken und Gefühle ankam, so fühlt sie sich auch jetzt wieder. Sie beginnt zwar nicht zu weinen, aber sie bleibt wie festgefroren in ihrer Anpirschposition sitzen. Alles, was sich bewegt, sind ihre wild um ihren Kopf kreisenden Gedanken. Alles scheint gerade sinnlos, das Jagen der Gazellen drüben, aber auch aufzustehen und es nicht zu tun.
Einer der Leoparden hinter ihr schnauft ungeduldig und unverständig. Denn die Gepardin greift nicht an, obwohl jetzt die Gelegenheit dazu gewesen wäre. Eine der kleinen Gazellen hat sich nämlich zum Grasen aus Versehen zu weit von der schützenden Gruppe wegbewegt. Und schier in diesem Moment hat sie auch noch der Gepardin den Rücken zugedreht.
Die Gepardin zuckt bei dem Schnaufen des Leoparden zusammen. Der durch das Schnaufen aufgebaute Druck setzt sich in ihre Schulterblätter und verspannt diese. Seit dem Schnauben nun hat die Gepardin unglaubliche Schwierigkeiten, ihren eigenen Gefühlen und Gedanken zu folgen. Ihre Vorderbeine fangen an zu zittern und ihre Hinterbeine werden schwer. Sie werden so schwer, als hätte jemand Metall in ihnen versteckt und dann einen Magneten unter sie platziert, der nun das Metall mit gewaltiger Kraft zu sich nach unten