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Wind aus Nord-Süd: Romanfetzen
Wind aus Nord-Süd: Romanfetzen
Wind aus Nord-Süd: Romanfetzen
eBook368 Seiten4 Stunden

Wind aus Nord-Süd: Romanfetzen

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Über dieses E-Book

Eine namenlose Gruppe sprengt im Namen des Klimaschutzes ein Flugzeug nach Bangkok in die Luft. In Frankfurt steht eine Frau auf dem Balkon und raucht. Zwei Menschen, die sich gerne haben, finden nicht den richtigen Ton miteinander. Was machen fünf Handys im Cocktail-Shaker einer Brüsseler Bar? Eine Brieftaube verirrt sich. Ein Junge sammelt schlechte Nachrichten an seiner Zimmerwand. Drei Frauen folgen ihrem moralischen Kompass und verlieren sich dabei. Vielleicht finden sie sich wieder, wer weiß.

Der Roman zeigt die unterschiedlichen Lebenswege der drei Frauen, die ein Auf und Ab von Nähe und Entfremdung bringen; er zeigt ihre Trauer und Ohnmacht, aber auch ihren Mut angesichts überwältigender globaler Krisen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Nov. 2019
ISBN9783749772896
Wind aus Nord-Süd: Romanfetzen

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    Buchvorschau

    Wind aus Nord-Süd - Dorothee Häußermann

    FRANKFURT 2014

    Die Nachmittagssonne schien durchs Fenster hinein und erfüllte den Raum zwischen Holzparkett und stuckverzierter Decke mit Licht. Sie erinnerte Lotte daran, dass es bald Zeit war, das Büro zu verlassen, ihre Tochter abzuholen und auf einer warmen Bank am Spielplatz zu sitzen.

    „Ja, sagte sie. „Ich denke, ich habe verstanden, was Sie meinen. Aber könnten Sie bitte ihre Kernbotschaft noch einmal ganz kurz zusammenfassen. Wirklich ganz kurz. Ein Satz am besten.

    „Seriosität", sagte der Kunde nach kurzem Zögern und nickte dann mit dem Kopf, zufrieden.

    „Seriosität. Und der Eindruck, sich vertrauensvoll und ernsthaft mit einem Anliegen an uns wenden zu können, dass sonst eher… sagen wir… belächelt wird. Darum finde ich es wichtig, dass die Diskretion auch durch das Layout…"

    „Um die grafische Gestaltung kümmert sich mein Kollege, unterbrach ihn Lotte. „Bei unserem Termin heute geht es ja um den Text.

    „Das sagten Sie."

    „Aber was ist nun die Hauptaussage der Broschüre, die ihnen vorschwebt? hakte Lotte nach. „Wollen Sie medizinisch aufklären, wollen Sie Verständnis bei den Mitreisenden der betroffenen Passagiere wecken oder soll in erster Linie diese neue Art von Kissen vorgestellt werden…?

    „Ja. Das ist alles wichtig. Alles. Aber vor allem geht es um eine Befreiung von der Tabuisierung. Darin wird diese Broschüre sensationell sein. Es wird die erste Broschüre sein, die das Thema adressiert, offen, diskret, ernsthaft. Darum war uns auch wichtig, für die Kommunikation über dieses brisante Thema professionelle Unterstützung zu holen. Verstehen Sie, diese Broschüre leistet Pionierarbeit. Für den gesamten Passagierflugverkehr."

    Lotte hängte ihren Blick an das Schild aus weißem, mattem Milchglas hinter dem Rücken des Kunden. Communication and Design stand darauf. Das Co und das De standen fett hervor und waren grasgrün. Wie viel Zeit in Entwürfe, Diskussionen um Farbtöne, Honorare sie auf dieses Logo verwendet hatten. Bis es genau richtig wirkte.

    „Gut, sagte Lotte und umkringelte einige Begriffe auf ihrem Notizblock. „Ich gebe kurz wieder, wie ich den Problembereich verstanden habe: In großer Höhe können Mahlzeiten nicht optimal aufgenommen werden, so dass Verdauungsabläufe häufig zu Blähungen führen. Deshalb fühlen sich Passagiere vor allem auf Langstreckenflügen häufig unwohl.

    „Die Tabuisierung. Vergessen sie nicht die Tabuisierung. Die ist zentral."

    „Richtig. Die Flugpassagiere leiden nicht so sehr unter den Blähungen, sondern darunter, dass sie sie unterdrücken."

    „Und das führt zu Beschwerden im Verdauungstrakt bis hin zu Koliken, nicht erst zu reden vom psychischen Stress, dem Schamgefühl, den zwischenmenschlichen Komplikationen."

    „Es ist Ihnen also vor allem ein Anliegen, fragte sie, „dass die Menschen über ihr verstärktes Aufkommen von Blähungen miteinander sprechen?

    „Wenn sie so wollen, ist unser Anliegen eine zweifache Befreiung von der Tabuisierung. Die Menschen sollen darüber sprechen. Ja. Verständnis und Toleranz füreinander entwickeln. Aber sie sollen auch so weit kommen, es zu tun."

    „Was zu tun?"

    „Sie sollen sich nicht mehr so quälen. Das wird erleichtert durch das neue geruchsabsorbierende Sitzkissen, das in Kürze gegen eine kleine Gebühr beim Bordpersonal erworben werden kann. Damit sind wir übrigens die erste Fluglinie, die so einen Service anbietet."

    „Aha. Die Leser sollen dazu ermutigt werden, ihre Blähungen nicht zu unterdrücken, sondern abzulassen, und das Bordpersonal auf ein Kissen anzusprechen, das eventuellen üblen Gerüchen vorbeugt."

    Der Kunde runzelte die Stirn.

    „In etwa, ja. Wir haben uns gerade an Sie gewandt, damit das alles nicht so.… klinisch klingt. Oder lächerlich. Wir bezahlen sie dafür, dass Sie die richtigen Worte finden, um den Sachverhalt angemessen zu beschreiben."

    „Natürlich. Verlassen Sie sich auf uns. Die Formulierungen, die ich gerade gewählt habe, dienten dazu, den Inhalt, so wie wir ihn besprochen haben, korrekt zusammenzufassen. Das hat nicht unbedingt soviel mit dem endgültigen wording des Flyers zu tun."

    „Ich vertraue darauf, dass Sie eine Lösung finden werden."

    „Ja. Ich denke, ich kann mit dem, was wir besprochen haben, anfangen zu arbeiten. Ich schicke Ihnen in der nächsten Woche einen ersten Entwurf zu."

    Lotte begleitete den Kunden zur Tür. Sie gaben sich die Hände und verabschiedeten sich. Als sie die hohe, weiße Flügeltür hinter ihm schloss, rieb sie kurz ihr Gesicht, um ihre Miene zu entkrampfen.

    Sie schaute in den Büroraum ihres Kollegen Steffen hinein. Er sah von seinem Bildschirm auf. „Und – wie war’s?" fragte er.

    „Sensationell. Die Menschheit wird uns ewig dankbar sein für diese Dienstleistung."

    „Das sowieso."

    „Ich sehe kommen, dass Konzeption und Erstellung der Broschüre aufgrund dieser anspruchsvollen Pionierleistung doch länger dauern als geplant. Ich sehe kommen, dass wir leider mit dem Honorar etwas in die Höhe gehen müssen. Oder können wir so was verlangen wie Härtezuschlag?"

    Steffen lachte. Sie ging zurück in ihr Büro und stand eine Weile vor dem Bücherregal, obwohl sie dringend los musste. Wenn Dinge einen komischen Nachgeschmack haben, war es gut, danach etwas anderes zu essen. Sie zog einen Gedichtband heraus, blätterte darin, blieb an einer Seite hängen. ….Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, dass er, kräftig genährt, danken für Alles lern’, und verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will.

    Sie atmete tief und stellte den Band zurück. Sie machte ihre Arbeit, weil sie Sprache liebte.

    BRÜSSEL 2014

    Im „Parzival" des Wolfram von Eschenbach ist Kundrie eine gelehrte aber unheilverkündende Frau mit zottigen Ohren, Zähnen wie Eberhauer und Augenbrauen, die zu Zöpfen geflochten gen Himmel ragen. Zum Glück wusste das niemand. Außer Lotte wahrscheinlich. Zum Glück sah Kundrie Walther nicht so garstig aus wie ihre literarische Namenspatronin. Ihre Gestalt war normal proportioniert, Arme und Beine ein bisschen zu lang geraten vielleicht. Sie hatte dichtes, dunkles Haar, was in verschiedene Richtungen von ihrem Kopf abstand – vor einem halben Jahr war dies eine Kurzhaarfrisur gewesen, deren Anspruch schon damals an ihren Wirbeln gescheitert war. Trotzdem, und auch obwohl ihre Züge eher unordentlich und eigen im Gesicht standen, machte ihre Erscheinung auf viele Menschen einen angenehmen, verschmitzten Eindruck. Von anderen bekam sie gelegentlich zu hören, sie wirke arrogant oder kühl.

    In diesem Moment stand zwischen ihren Brauen eine tiefe Falte, die entweder auf Missmut oder höchste Konzentration deutete. Sie rieb ihre Schläfen, weil ihre Augen vom Starren auf den Bildschirm verspannt waren, und nahm einen Schluck Bier. Ihr Blick wanderte kurz zum Fenster, hing einen Moment im Leeren und heftete sich dann wieder auf den Monitor. Wackelige, verschwommene Aufnahmen einer Handy-Kamera. Die wulstige Rauchwolke, die aus dem Jet ausstieg, die splitternden Teile. Menschen in Panik in den Gängen des Flughafens. Ein graumelierter Experte. Die zerzauste weiße Taube, die vom Bekennerschreiben grinste. Im Schnabel hielt sie keinen Ölzweig sondern ein Schnur, die an einem Ende glühte…. erscheint uns jede andere Aktionsform absurd und nicht zielführend.

    Die Eingangstür ging auf. Kundrie zuckte zusammen, weil sie so spät niemanden im Büro erwartete und klickte die Seite weg. Dann klopfte es und Florian, der Praktikant, steckte den Kopf durch die Tür.

    „Das hab ich gehofft, dass du noch da bist. Ich würde gerne was mit dir besprechen – hast du Zeit?"

    „Ja. Ich bin sowieso nicht mehr wirklich produktiv. Wir könnten zusammen was essen gehen, wenn du möchtest", sagte Kundrie.

    „Klingt gut."

    Das Institut lag in einer ruhigen Straße in Ixelles. Seine Flügeltür mit der verzierten Milchglasscheibe lag zwischen einem leeren Ladenlokal, dessen Eisenjalousie mit Graffiti beschmiert war und den Auslagen eines türkischen Obsthändlers. Sie gingen den Hügel hinunter zu einem Imbiss in der nächsten größeren Straße. Kundrie hätte gerne in der Abendsonne gesessen, an der Tischreihe, die zwischen Lokal und parkenden Autos auf den Gehweg gequetscht war. Doch Florian fand es wegen der vorbeirumpelnden Straßenbahnen und Lkws zu laut und wünschte sich, sein Anliegen lieber in einem 'geschützten Raum' zu besprechen. Drinnen lief die Übertragung eines Fußballspiels. An den Tresen standen ältere Männer und tranken Tee.

    Sie bestellten zwei Falafel und setzten sich an einen Fenstertisch.

    „Lass mich raten, sagte Kundrie. „Du willst abbrechen. Du bist total enttäuscht vom Arbeitsalltag. Weil du nicht gedacht hättest, dass du zum Weltretten den ganzen Tag in einem kleinen muffigen Büro vorm Rechner sitzen muss. Oder… du hast ein Stellenangebot bei der Konkurrenz.

    „Nein. Ja."

    Florian wischte sich mit der Serviette die Soße vom Mund. „Ein bisschen enttäuscht bin ich schon, aber das ist ein anderes Thema."

    „Dann bin ich jetzt ganz schön neugierig."

    „Es ist eine ziemlich heikle Angelegenheit."

    Er biss erneut in seine Falafel-Rolle, wobei er nicht verhindern konnte, dass ein Teil der Salat-Füllung auf die Tischplatte abstürzte.

    „Aha. Und wie kommst du auf die Idee, dass ich die richtige Ansprechpartnerin für heikle Angelegenheiten bin?"

    Das war eine rhetorische Frage. Natürlich wendete sich Florian nicht an die angegraute Generation, die das Institut vor 20 Jahren aufgebaut hatte. Und auch nicht an den Teil des Kollegiums, der auf den Zeigerschlag das Büro verließ. Sondern an Kundrie, die drei Mal in der Woche auf der Liege im Besprechungszimmer übernachtete, und die sich, wenn sie mal keine Überstunden machte, mitunter dazu verleiten ließ, mit den Praktikanten in der Teeküche Nudeln zu kochen oder bei hochprozentigem Bier und schwergewichtigen Diskussionen zu versumpfen.

    „Ich hab ziemlich heiße Infos und weiß nicht, was ich damit machen soll. Willst du sie hören oder nicht?"

    Jetzt plustert er sich auf, dachte sie. Wie putzig. Sie fand Florian eigentlich ganz sympathisch. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er ausschließlich um seines Lebenslaufs Willen ein Praktikum in Brüssel machte. Allerdings war ihr suspekt, dass er haargenau so aussah, wie ein hipper Mittzwanziger im Jahr 2014 aussehen sollte, inklusive der braun-orangefarbenen Wildleder-Turnschuhe, bei denen ständig die Schnürsenkel offen waren, der Trainingsjacke und dem Dreitagebart. Und punktuell neigte er zur Selbstüberschätzung.

    „Schieß los", sagte sie.

    Florian setzte seine Umhängetasche aus recycelten LKW-Planen auf seinen Schoß und zog einen Stapel Papier daraus hervor. Er wischte die Salatreste von der Kunststofftischplatte und legte ihn vor Kundrie.

    „Das hier ist eine Studie einer kleinen, uns wohlbekannten Nichtregierungsorganisation, und zwar das allerletzte Exemplar. Meine Quelle hatte bei dieser Organisation, sagen wir… vorübergehend eine untergeordnete Position. In dieser Zeit hat diese Person das vorliegende Exemplar aus dem Altpapier gezogen. Außerdem hat sie in einer informellen, privaten, ich nehme an alkoholisierten Situation, den Hintergrund dazu erfahren."

    „Und um welche Organisation geht’s?"

    Kundrie nahm den Stoß Blätter in die Hand. Er war verknickt, voller Tomatensoßenflecken und offensichtlich unvollständig.

    „Das spielt keine Rolle."

    „So geheim?"

    „Nennen wir sie NGO X. Ich habe die Studie nur bekommen, weil ich absolute Diskretion versprochen habe."

    Sie überflog den Text und konnte so schnell nichts Brisantes entnehmen.

    „NGO X hat den Bericht nach Recherchen in Sambia geschrieben, wo sie die Umweltsauereien rund um eine Kupfermine untersucht hat. Dort operiert das Tochterunternehmen eines transnationalen Bergbaukonzerns; und anscheinend kippen die alle ihre Chemieabfälle in den nächsten Fluss, in den Ka… Kaf…. ." Florian blätterte.

    „Ist doch egal", sagte Kundrie.

    „Naja. Trinkwasser und Böden sind auf jeden Fall seit Jahren mit Schwefelsäure kontaminiert; die Leute werden krank, auf den Böden wächst nichts mehr. Sie sind jetzt abhängig davon, dass die Regierung ihnen Trinkwasser in Tanks in die Dörfer fährt; erstens müssen sie es kaufen und zweitens klappt der Service nicht immer. Der Konzern zahlt keine Entschädigung."

    „Die übliche Geschichte halt."

    „Hier ist alles drin, Interviews mit Betroffenen, Studien zur Belastung von Wasser, Boden, Luft; Krebsraten. Außerdem haben sie rausgefunden, dass in dem Bergbauprojekt nicht nur die üblichen fiesen Banken stecken, sondern auch Entwicklungsgelder … der Hammer, oder?"

    Kundrie wartete kauend auf die echte Sensation.

    „Eine wunderbare Studie also. Aber der Konzern hat Wind von dem Vorhaben bekommen und kündigt an, unsere NGO wegen Verleumdung zu verklagen. Es drohen Schadensersatzforderungen in astronomischer Höhe. Es zeigt sich, dass der Report an irgendeiner Stelle nicht wasserdicht ist. Eine Null zuviel, der Name vom Bürgermeister falsch geschrieben, keine Ahnung. Man einigt sich außergerichtlich: Der Konzern verzichtet auf eine Klage. Dafür darf nie mehr etwas von den Anschuldigungen an den Konzern in die Öffentlichkeit gelangen. Die Studie und das komplette Material dazu werden gelöscht. Von den Festplatten, aus den Aktenordner, aus dem Netz, aus dem Bewusstsein. Bis auf dieses Exemplar, was wohl aus Versehen dem Schredder entging."

    „Die armen Schweine."

    „Die Kosten hätten ihnen komplett das Genick gebrochen. Sie hatten keine Wahl."

    „Ja. Das kommt vor."

    „Was?"

    „So eine Klage hast du ziemlich schnell am Hals. Dafür musst du noch nicht mal inhaltliche oder formale Fehler machen. Die fangen einfach schon mal an zu klagen. Nicht weil sie Recht haben, sondern weil sie genug Geld für Anwaltskanzleien haben und du nicht."

    Sie knüllte das fettige Papier zusammen, in dem ihr Falafel gewesen war und beobachtete Florian, der merklich an Fahrt verloren hatte.

    „Und was dachtest du, soll ich jetzt tun?" fragte sie.

    „Hier auf diesem Tisch, und sonst nirgends, liegen Infos, die die Welt erfahren muss. Das INS könnte den Fall nach-recherchieren. Jemanden nach Afrika schicken. Die Quellen der Studie prüfen, rausfinden, was richtig ist und wo der Haken liegt, und dann einen unabhängigen Bericht schreiben, der sich an keiner Stelle auf die Arbeit von NGO X bezieht, sondern nur auf Originalquellen. Einen niet- und nagelfesten Bericht. Und dann damit an die Öffentlichkeit gehen. Und einen fetten Skandal für den Konzern provozieren."

    Sie blätterte durch die Seiten und kniff an manchen Stellen die Augen zusammen. Florian beobachte sie genau.

    „Ach, sieh an", murmelte sie.

    „Was?"

    „AuroMont, unser Lieblingsfeind. Die haben ihre Finger wirklich überall drin…"

    Sie schüttelte den Kopf und legte den Papierstapel zusammen.

    „Für Afrika bin ich nicht zuständig. Das macht Laurent. Den kannst du ja mal fragen. Allerdings steckt der grad bis zum Hals in Arbeit. Und wird außerdem im Herbst noch mal Papa. Der fliegt da garantiert nicht runter. Außerdem können wir doch nicht einfach in einen neuen Fall einsteigen. Das dauert Jahre. Wie soll das denn finanziert werden? Wir arbeiten ja zum größten Teil mit Projektgeldern und die sind zweckgebunden. An das, wofür wir sie beantragt haben, halt."

    Florian war ganz ruhig geworden und auch, wie sie zu spüren glaubte, reserviert. Wahrscheinlich war er gedanklich schon mit einem Bein im Flugzeug nach Sambia gewesen.

    Sie schob das Manuskript ein Stück von sich. Allein der Anblick der Papiere löste tiefe Erschöpfung in ihr aus.

    „Das tut mir leid, sagte Kundrie. „Ich arbeite schon den ganzen Tag an Skandalen. Oder an Dingen, die wir für Skandale halten.

    Ihr fiel ein regnerischer Spaziergang ein, die Stimme eines alten Freundes und gute Vorsätze. Mehr schwimmen. Frisches Gemüse auf dem Wochenmarkt einkaufen und kochen. Wochenende ist Wochenende.

    „Ich mach mich dann jetzt auf den Weg, sagte Florian. „Ich bin noch verabredet.

    Er machte Anstalten, die Studie wieder einzupacken.

    „Warte, sagte Kundrie plötzlich und legte die Hand auf die Papiere, bevor Florian sie wegziehen konnte. „Lass die mal hier.

    VON ALJOSCHAS TAPETE

    „TERROR-AKTE SIND KEINE LÖSUNG"

    Umweltverbände rufen zu gewaltfreiem Engagement für den Klimaschutz auf und distanzieren sich von Airbus-Anschlag

    Berlin, 14.5.2019 Ein breites Bündnis aus Umwelt- und Naturschutzverbänden ruft die Gesellschaft zu friedlichem Engagement für den Klimaschutz auf. In einer gemeinsamen Erklärung bekräftigen die Verbände die Notwendigkeit, entschlossene Maßnahmen gegen die globale Erwärmung zu ergreifen. Gleichzeitig betonen sie, dass Gewalt als politisches Mittel abzulehnen sei, und dass Proteste der Umweltbewegung friedlich ablaufen müssen.

    „Der Klimawandel ist eine drastische ökologische und soziale Bedrohung, deren Ausmaß die meisten Menschen in ihrem Alltag unterschätzen, heißt es in der Erklärung. „Für diese Bedrohung müssen wir langfristige Lösungen suchen, die von einem gesellschaftlichen Konsens getragen werden. Terror-Akte wie der Anschlag auf den Airbus in Frankfurt sind keine Lösung. Im Gegenteil, sie tragen dazu bei, die Gesellschaft zu spalten.

    „Das Flugzeug-Attentat ist ein Verbrechen, dass nicht im geringsten zum Klimaschutz beigetragen hat, äußert sich Horst Althoff von RdED (Rettet die Erde, Deutschland). „An den Emissionen des Flugverkehrs hat sich dadurch nichts geändert. Weiter fordert er die Bürger und Bürgerinnen auf, auf unnötige Flugreisen zu verzichten. Als sinnvolles Beispiel für Klimaschutzengagement nannte er die Kampagne zur Einführung einer Kerosinsteuer, die die RdED in der Vergangenheit durchgeführt hat.

    Mit der Erklärung reagieren die Umweltverbände auf die Kritik, die in den letzten Wochen in den Medien an ihrer Öffentlichkeitsarbeit geübt worden war. Die Debatte war durch den Artikel Biedermann und die Brandstifter in der Tageszeitung Die Welt ausgelöst worden, in der die Umweltverbände als „geistige Wegbereiter des Öko-Terrorismus bezeichnet wurden, die durch ihre „Panikmache auf wissenschaftlich umstrittener Faktenbasis junge Menschen in die Gewaltbereitschaft trieben.

    Die Situation hatte sich zugespitzt, als die Jugendsektionen des RdED und der Organisation „Freunde des Planeten" das Logo des Bekennerschreibens bzw. das Bekennerschreiben selbst in ihren sozialen Netzwerken gepostet hatten und dafür eine überwältigende Anzahl von ‚Gefällt mir’-Angaben erhielten. Vertreter der Jugendverbände gaben an, die Posts mittlerweile gelöscht zu haben.

    BONN 1992

    Es war eine der letzten Deutsch-Stunden des Schuljahres. Kundrie hatte den Badeanzug schon unter ihren Kleidern an, dazu trug sie gelbe Espandrillos. Der Referendar war frisch promoviert und fest davon überzeugt, eine zehnte Klasse kurz vor den Sommerferien für einen enggedruckten zehnseitigen Aufsatz über die Epoche der Aufklärung begeistern zu können. Er hatte viele bunte Papierschnipsel ausgeteilt, auf denen das Wort „Freiheit stand. Dann schrieb er in großen Buchstaben „Gesetz und „Chaos" jeweils an eine Tafelhälfte und forderte sie auf, ihren persönlichen Freiheitszettel einem dieser Begriffe zuzuordnen. Die Klasse reagierte nicht gleich. Sie merkten am bunten Papier und dem Schrifttyp Comic Sans MS, dass sie geködert werden sollten, und waren misstrauisch.

    „Aufstehen, sagte der Referendar. „Dafür müsst ihr aufstehen!

    Die ersten wohlgesinnten Jugendlichen standen auf und gingen nach vorne, die anderen folgten langsam. Sie mochten den Referendar, weil sie fühlten, dass er sie ernst nahm, und begegneten seinen umständlichen Versuchen, den Unterricht aufzulockern, mit Nachsicht. Außerdem spürten sie die Blicke des Schulleiters und der zwei fremden Damen im Nacken, die sie an den Ernst der Situation erinnerten. Es gab nur zwei Tesafilmrollen, darum dauerte es fast zehn Minuten, bis alle 32 Mädchen und Jungen ihren Zettel an die Tafel geklebt hatten, das im Gedränge entstandene Gelächter sich gelegt hatte und alle wieder ruhig an ihrem Platz saßen. Der Referendar war derweil ins Schwitzen geraten. Bis auf zwei Ausnahmen hingen alle Zettel auf der „Chaos"-Seite der Tafel.

    „So. Das ist ja interessant. Wer hat denn den Freiheitsbegriff unter „Gesetz zugeordnet?

    Kundrie und Paul meldeten sich.

    „Paul, kannst du bitte erklären, warum du das gemacht hast?"

    „Bei Chaos war kein Platz mehr!"

    Alle lachten. Alle außer dem Schulleiter und den zwei Damen im Kostüm.

    „Kundrie, was ist mit dir?"

    Kundries Kopf lief rot an. Sie hatte den Zettel unter „Gesetz" gehängt, weil die andere Lösung zu offensichtlich gewesen wäre. Aber sie ahnte, dass weder der Referendar noch das strenge Publikum an der Seite des Klassenzimmers eine solche Antwort hören wollten.

    „Ich weiß nicht so recht", sagte sie.

    „Du weißt nicht so recht?"

    „Ich erinnere mich nicht mehr."

    „Hmm, sagte der Referendar, „vielleicht fällt es dir wieder ein, wenn du eine Weile nachdenkst.

    Sein Blick hing verzweifelt an Neles leerem Platz.

    „Was sagen denn die anderen dazu? Warum könnte Kundrie glauben, dass im Gesetz die Freiheit liegt?"

    Die Klasse schwieg ratlos. Gesetz – das war der Grund, warum sie gerade im Unterricht waren und nicht im Freibad. Gesetz war das Prinzip, das ihnen die Beschaffung von hochprozentigem Alkohol erschwerte. In einer entspannteren Situation hätte der eine oder die andere sicherlich Widerspruch geäußert, oder auch im Hinblick auf die mündliche Mitarbeitsnote einen Beitrag aus der Nase gezogen. Doch sie hielten alle den Mund, weil sie nichts Falsches sagen wollten, das den Referendar – der immer bleicher wurde - noch tiefer in die Bredouille manövrieren würde.

    Kundries Mitleid schlug in Ärger um. Gestern hatten Lotte, Steffi und sie dem jungen Mann in der Fünf-Minuten-Pause aufgelauert, um ein bisschen mit ihm zu schäkern.

    „Sagen Sie uns einfach, was wir morgen sagen sollen, hatte Lotte großherzig angeboten, „wir drehen das schon für Sie. Doch der Referendar hatte nur gequält gelächelt und gesagt, sie sollten ihre Hausaufgaben gründlich machen. Das hatte er jetzt davon.

    Sie meldete sich tollkühn und wurde sofort dran genommen. „Ich habe meinen Zettel dahingehängt, weil Gesetz ja irgendwie schon etwas mit Freiheit zu tun hat", sagte sie.

    „Ja! sagte der Referendar erleichtert. „Du bist auf einer ganz heißen Fährte. Kannst du das vielleicht noch etwas ausführen?

    „Gesetz hat ja auch was mit Ordnung zu tun, improvisierte Kundrie, „und Ordnung kann einem manchmal sogar etwas erleichtern, zum Beispiel im Zimmer. Wenn man nicht suchen muss, dann ist man frei, andere Dinge zu tun.

    Zu ihrer Überraschung war der Referendar begeistert. „Hat das jeder mitbekommen? Einige der Jugendlichen schreckten hoch. „Kannst du das bitte laut für alle wiederholen, Kundrie?

    Sie rollte die Augen. „Ordnung im Zimmer verschafft einem Freiheit, weil man nicht suchen muss", leierte sie.

    „Genau! rief der Referendar. „Im Chaos funktioniert gar nichts mehr. Das Gesetz dagegen befreit uns vom Chaos und von der triebgesteuerten Herrschaft des Stärksten. War es das, was du sagen wolltest, Kundrie?

    „Ungefähr."

    „Ihr müsst begreifen…, und jetzt war der junge Mann nicht mehr zu bremsen, „bevor es Gesetze gab, regierte die Willkür der Tyrannen. Die Einführung von Gesetzen war ein unglaublicher Fortschritt. Sie schützen die Armen und Schwachen. Sie sichern unsere Rechte! Und genau darum…, er lief zurück zum Pult und hielt emphatisch die Kopien des Textes hoch, der als Hausaufgabe zu lesen war, „genau darum ging es in diesem Text. Wir haben diesen kleinen Einstieg deshalb gemacht, weil ich mir gedacht habe, dass euch dieser Gedankengang fremd erscheint. Heutzutage werden Gesetze vielfach als Freiheitsberaubung angesehen, als bürokratische Beengung und Ausdruck von Spießertum. Einen kongenial schlechten Ruf hat die Moral. Wenn ihr Moral hört, denkt ihr an Doppelmoral, Heuchelei, Bigotterie, verkürztes Denken und… verklemmten Sex!"

    Die Klasse horchte auf und schenkte dem Referendar für eine Spanne von etwa fünf Sekunden ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Von den Stühlen der Gäste war unruhiges FüßeScharren zu hören.

    „Was für ein Irrtum! fuhr der Referendar fort. „Zur Zeit Schillers – und nicht nur zur Zeit Schillers – kam man ins Gefängnis, wenn man zu moralisch war. Moral ist mutig. Moral ist subversiv. Moral ist außerdem weit davon entfernt einfach zu sein, oder eindeutig. Nie werdet ihr die Moral eures Lebens finden können, nie die überall einsetzbare Allround-Moral. Ständig werdet ihr euren moralischen Kompass aufs Neue ausrichten müssen. Das ist eine immerwährende intellektuelle Herausforderung. Mit anderen Worten…, er stützte sich auf das Pult und lehnte sich weit nach vorne, „Moral ist, wie ihr es sagen würdet, das Geilste, was es gibt."

    Eine der fremden Damen runzelte die Stirn. Die andere kritzelte wie wild in ihren Unterlagen. Der Schulleiter sah betreten auf den Boden.

    Der Referendar richtete sich wieder auf und räusperte sich.

    „Und, wie fandet ihr den Text?"

    Die Jugendlichen fingen an, in ihren Taschen zu kramen, um ihre Deutsch-Mappen hervorzuholen.

    „Ihr habt ihn doch alle zu Hause bearbeitet, nehme ich an?" fragte der Referendar verzagt in die Stille.

    Lottes Finger schoss in die Höhe. Sie wollte vorlesen, was sie zur ersten Aufgabe geschrieben hatte. Zusammen mit dem schlauen Oliver und dem zuverlässigen Bernd verhinderte sie, dass die Stunde zum totalen Fiasko wurde. Kundrie hielt sich zurück. Sie hatte den Text nicht verstanden, obwohl sie alle Fremdwörter nachgeschlagen hatte. Ihre eigene Muttersprache war ihr so bedeutungsleer erschienen wie die Formeln im Mathebuch der Oberstufe. Sie begriff nicht, was der Referendar von ihnen wollte.

    In den Wochen, die auf den Besuch der fremden Damen folgten, verspannte er sich zunehmend. Er strengte sich sehr an. Seine Arbeitsblätter waren stets mit Bildern oder einem passenden Comic-Streifen gesäumt. Häufig machte er Farbkopien davon. Für seine Methoden musste die Klasse meistens das ganze Mobiliar umstellen. Seine Texte wurden jedoch immer schwieriger und seine Arbeitsaufträge wirrer. Am Ende der Stunde schrieb er Dinge an die Tafel, die nichts mit den Inhalten zu tun hatte, die sie vorher besprochen hatten. Mitten im nächsten Schuljahr verließ er die Schule, ohne Examen gemacht zu haben.

    AUS LOTTES TAGEBUCH

    Jetzt sitze ich hier und trinke Kaffee. Draußen laufen hunderttausende von Menschen durch die Straßen. Wohl eine der größten Demos, die Berlin je gesehen hat, meinte irgendwer. Ohne mich. Ich hab mich abgesetzt in eine Seitenstraße. Bin in einem überschaubaren Raum, leise Hintergrundmusik, ruhige Gespräche von Menschen, die eine Verabredung an diesem Nachmittag wichtiger finden als den Irak-Krieg. Zurück in der Normalität also. Erleichterung. Die Kaffeetasse gibt mir Halt. Traurigkeit. Weil mit mir irgendetwas nicht stimmt. Ich verachte diese Menschen um mich herum, weil sie

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