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Grenzbeschreitungen: Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem Umgang mit Natur
Grenzbeschreitungen: Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem Umgang mit Natur
Grenzbeschreitungen: Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem Umgang mit Natur
eBook726 Seiten8 Stunden

Grenzbeschreitungen: Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem Umgang mit Natur

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Über dieses E-Book

Wie wollen wir leben und wie können wir unserem Leben Sinn geben angesichts der drängenden Krisen der Gegenwart? Wie können solche Fragen überhaupt beantwortet werden, wenn eine säkulare Kultur scheinbar nur Antworten auf Fragen nach dem "wie?", nicht aber nach dem "wozu?" erlaubt. Martin Kolmar deutet im vorliegenden Buch die gegenwärtigen und bevorstehenden Krisen, allen voran die Klimakrise, als Krise der westlichen Denk- und Wahrnehmungsweisen und versucht einen Ausweg daraus aufzuzeigen. Dazu beginnt er mit einer Analyse westlicher Vorstellungswelten aus der Perspektive des "Erhabenen". Es zeigt sich, dass das "Erhabene" als Grenzerfahrung überraschende und relevante neue Perspektiven auf die Gegenwart öffnet und zugleich einen Weg zu einer säkularen, rationalen Form der Sinnerfahrung erkennbar macht. Das Besondere dieses Buches ist die Verknüpfung philosophischer und gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Forschung mit Erkenntnissen der Psychologie und der Neurowissenschaft. Es zeigt auf, dass traditionelle Vorstellungen des "Guten Lebens" und der Verortung der eigenen Existenz als Teil der Natur, mit moderner Forschung korrespondieren. Ist man bereit, sich hierauf einzulassen, stellt insbesondere die Bedrohung durch die Klimakrise nicht nur ein mögliches Katastrophenszenario und eine große technologische Herausforderung dar, sondern eine Chance für ein besseres Leben, welches aus einer anderen Haltung ihm gegenüber resultiert.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum11. Okt. 2021
ISBN9783412523015
Grenzbeschreitungen: Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem Umgang mit Natur
Autor

Martin Kolmar

Martin Kolmar ist Professor für Volkswirtschaft und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen in der Schweiz. Er forscht auf Basis neurowissenschaftlicher und psychologischer Erkenntisse zu Wahrnehmung und Verhalten zu normativen Grundsatzfragen der Ökonomie und Gesellschaft und publiziert auch journalistisch in der ZEIT, der FAZ, dem SPIEGEL, der NZZ etc.

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    Buchvorschau

    Grenzbeschreitungen - Martin Kolmar

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    Martin Kolmar

    GRENZBESCHREITUNGEN

    Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem

    Umgang mit Natur

    BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

    Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Kulturelle Erneuerung

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe

    (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

    Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

    Umschlagabbildung: Hsia Kuai (Xia Gui) (1195–1224), Ausschnitte aus Pure and Remote View of Streams and Mountains. © National Palace Museum, Taipei.

    Korrektorat: Sara Alexandra Horn, Düsseldorf

    Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln

    Satz: Bettina Waringer, Wien

    EPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

    Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

    ISBN 978-3-412-52301-5

    Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht.

    Friedrich Hölderlin, Hyperion, 2. Brief

    It avails not, neither time or place – distance avails not;

    I am with you, you men and women of a generation, or ever so many generations hence;

    I project myself – also I return – I am with you, and know how it is.

    Just as you feel when you look on the river and sky, so I felt;

    Just as any of you is one of a living crowd, I was one of a crowd;

    […] What is it, then, between us?

    What is the count of the scores or hundreds of years between us?

    Whatever it is, it avails not – distance avails not, and place avails not.

    We understand, then, do we not?

    Walt Whitman, Crossing Brooklyn Ferry

    Inhalt

    Vorwort

    Einleitung

    Die Dose des Aristoteles

    Mögliche Einwände

    Übersicht

    1. Ein Gefühl des Unbehagens

    1.1Einige Trends in westlichen Gesellschaften der Gegenwart

    1.2Empirische Evidenz und Erklärungen

    1.3Das erzählte Selbst

    1.4Größere Erklärungskontexte

    1.5Weltbilder und das gelingende Leben

    1.6Konstruktive Entwürfe

    2. Die postheroische Gesellschaft

    2.1Experten statt Helden: Ordnung als Technokratie

    2.2Rückkehr der Helden?

    2.3Trickster: Ein erduldeter Raum des Chaos

    3. Grundlagen zum Erhabenen

    4. Psychologie und Neurowissenschaft des Erhabenen

    4.1Das Erhabene und die Reise nach innen

    4.2Gemischte Gefühle

    4.3Kreativität

    4.4Predictive-Coding-Theorien der Gehirnfunktion

    4.5Methodenkritik

    5. Ordnung und Chaos: eine Bedeutungsverschiebung

    6. Das Erhabene bis ins 20. Jahrhundert

    6.1Das Erhabene bei Kant

    6.2Gegenwärtige Spuren des Romantisch-Erhabenen

    7. Erhabene Rhetorik und das Charismatisch-Erhabene

    7.1Charismatische Führung als Inszenierung des Erhabenen

    7.2Monster

    7.3Die Inszenierung des Erhabenen im Gesellschaftlichen

    7.4Politik, Krieg und Liminalität

    7.5Das Erhabene und das Konservative

    7.6Zwischenfazit

    7.7Verhinderungsstrategien erhabener Momente

    8. Das Erhabene seit dem 20. Jahrhundert

    8.1Metonymisches Geschubse 1: Jaques Lacan

    8.2Metonymisches Geschubse 2: An den Rändern der Erkenntnis

    8.3Progressive Gesellschaften, Kapitalismus und Individualismus

    9. Helden und transformative Erfahrungen

    9.1Transformation und Heldenreise

    9.2Die dunkle Nacht der Seele

    9.3Trauma

    9.4Helden ohne oder mit unvollständiger innerer Heldenreise

    9.5Heldinnen und Helden

    9.6Reduktionen der Selbstwahrnehmung

    9.7Hinderungsgründe

    10. Erkenntnis und Spiritualität

    10.1Spiritualität als unbedingte Verpflichtung gegenüber der Erkenntnis

    10.2Die fehlende Hälfte der Spiritualität

    10.3Spiritualität als Heilung: naturalistische Evidenz

    10.4Säkulare Spiritualität

    11. Buddhismus

    11.1Grundlegendes zum Buddhismus

    11.2Die drei zentralen Vorstellungen

    11.4Die Vier Edlen Wahrheiten

    11.5Die verwirrende Radikalität des Buddhismus

    11.6Tugenden und Trickster

    11.7Wieso oder in welchem Sinn sollte das Selbst eine Illusion sein?

    11.8Meditation

    11.9Meditation und das Erhabene

    11.10  Das Erhabene und die Scheinerleuchtung

    12. Schritte zu einer positiven Integration des „Anderen"

    12.1Grenzen der Vorstellungskraft

    12.2Spiritualität und „Natur"

    12.3Wildnis: Zur Entstehung und Problematik eines Begriffs

    12.4Das Zivilisierte und das Wilde

    12.5Die Grenzen der Sprache: ein Blick von außen

    12.6Daoistische Konzeptionen einer säkularen Spiritualität

    12.7Shanshui-Malerei, daoistische Dichtung und der Prozess der „Natur"

    12.8Nature Writing als Schule der Wahrnehmung

    13. Bewusstsein und Natur

    13.1Neuer Animismus

    13.2Wo ist Bewusstsein?

    13.3Gibt es normatives Wissen?

    14. Und Nun?

    14.1Überwältigung und der Ausweg Kants

    14.2Entscheidung zur Verzauberung als everyday sublime und sense of place

    14.3Fazit

    Anmerkungen

    Literaturverzeichnis

    Abbildungsverzeichnis

    Filmverzeichnis

    Personen- und Sachverzeichnis

    Vorwort

    Die wohl zentralen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte sind die Klima- und die Biodiversitätskrisen. Ich lehre und forsche als Ökonom, wie kommt es dann, dass ich ein Buch zum gelingenden, guten Leben im Angesicht dieser Situation geschrieben habe? Als Ökonom hat man Zugriff auf einen gut gefüllten Koffer mit Theorien und Instrumenten, die man zur Diagnose und Therapie der Krisen benutzen kann. Eine wichtige Einsicht ist z.B., dass sogenannte Externe Effekte eine Rolle spielen, und dass man sie internalisieren muss. Aber hier zeigte sich schnell ein Problem: wir wissen das seit vielen Jahrzehnten, und wir handeln weder schnell noch entschieden genug, um unsere und die Zukunft unserer Kinder zu schützen. Vielleicht zögern wir, weil wir Angst haben, etwas zu verlieren, weil wir den wissenschaftlichen Konsens zu diesen Themen nicht wahrhaben wollen, weil wir denken, es wird schon nicht so schlimm werden oder uns nicht treffen, weil uns unsere Kinder und die anderen Arten egal sind, oder was auch immer. An dieser Stelle kommt man mit dem ökonomischen Latein ans Ende, und es stellt sich eine andere Frage: Was hält uns zurück? Und auch hier gibt es natürlich ökonomische Antworten wie das Problem des Kollektivhandelns. Aber wenn man tiefer bohrt, kommt man schnell zu den grundlegenden Weltbildern, in denen wir denken, fühlen und innerhalb derer wir unserem Leben einen Sinn geben.

    Es zeigt sich auch noch ein fundamentaleres Problem mit den ökonomischen Lösungen: Die Instrumente, die in unserem Koffer existieren, sind „Sozialtechnologien", die bei dem nötigen Einsatz dieser Instrumente zu sich stark und schnell verändernden Preisgefügen und disruptivem technologischen Wandel mit den einhergehenden Umverteilungseffekten führen und auch liebgewonnene Freiheiten stark einschränken. Dabei sind diese Verwerfungen aber immer noch deutlich milder als die, die wir erwarten müssen, wenn wir die Probleme nicht ernsthaft angehen. Die Zukunft sieht aus einer ökonomischen Perspektive nach Zwang und Konflikt aus, wenn nicht technologische Innovationen die Krise verhindern, wonach es derzeit aber nicht aussieht. Und das ist ja auch die Wahrnehmung vieler Menschen: Nachhaltigkeit bedeutet Verzicht.

    Daher stellt sich die Frage, ob es nicht noch einen anderen Weg geben kann, einen guten Umgang mit den Krisen zu finden. Denn das Problem liegt ja ursächlich nicht in Phänomenen wie Externen Effekten, diese sind nur Ausdruck unseres Handelns. Und dieses ist wiederum Ausdruck unserer Sichtweise darauf, was es heißt, ein gutes, gelingendes Leben zu führen. Aber woher wissen wir eigentlich, was das ist? Woher kennen wir unsere Interessen, woher stammen unsere Vorstellungen darüber? Und sind sie richtig?

    Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führte mich zu faszinierenden intellektuellen und auch erlebten Reisen bis hin zu dem Punkt, an dem Antworten auf Fragen nach Sinn und unserer grundsätzlichen Verortung in der Welt eine bestimmte Struktur bekamen. Ein Blick in verschiedene Bereiche der westlichen und östlichen Philosophie, der Neurowissenschaft, der Psychologie sowie in Literatur und Kunst offenbart ein erstaunlich kohärentes Bild von dem, was es heißt, Sinnerfahrungen zu machen und ein gelingendes, gutes Leben zu führen. Mit zunehmendem Verständnis wurde es für mich auch immer einfacher, Erfahrungen meines eigenen Lebens zu deuten: Manche Sonnenaufgänge in den Bergen, der Blick eines wilden Tiers, der für einen Moment den eigenen trifft, das Verschwinden des Selbst in der Meditation, die Berührung eines geliebten Menschen, die Spiegelung des Mondes in einer Pfütze, eine neue wissenschaftliche Erkenntnis: solche Erfahrungen haben eine gemeinsame Struktur, von der hier die Rede sein wird.

    Das vorliegende Buch ist ein Versuch, dieses Bild zu vermitteln und sich dabei intensiv auch auf empirische Forschung zu stützen. Eine zentrale These wird sein, dass man sich aus seinem Weltbild lösen und lernen kann, grundlegende Zusammenhänge neu und anders zu denken und wahrzunehmen. Diese neue Verortung in der Welt kann sie zu einem reicheren Platz machen, wenn man das illusionäre instrumentelle Verhältnis zu „Natur" überwindet. Es wird dabei um Grenz- und Entgrenzungserfahrungen gehen. Und darum, dass man das Wissen um ein gelingendes Leben nicht nur theoretisch lernen kann, sondern es leben muss; dass es ein unabdingbar experientielles, affektives, körperliches Wissen gibt, welches wir in der Wissenschaft mit unserer Konzentration auf kognitive Formen des Wissens gern aus den Augen verlieren. Dieses Buch kommt daher auch selbst an eine unüberschreitbare Grenze der Vermittelbarkeit dieser Einsichten.

    Ich bin einer Reihe von Personen zu großem Dank verpflichtet, die mir an den verschiedensten Stellen mit viel Geduld weitergeholfen haben. Oftmals ging es dabei gar nicht nur (aber immer auch) um Ideen und inhaltliche Anregungen, sondern auch um die nötige Ermunterung, weiterzumachen. In alphabetischer Reihenfolge sind dies Salvatore Barbaro, Friedrich Breyer, Claudia Fichtner, Judith Gamp, Andreas Härter, Ernst Mohr, Raoul Mörchen, Anaïs Sägesser, Roger Schmidt, Peter Seele, Dieter Thomä und Michael von Brück. Hervorheben möchte ich Vincent Kaufmann, mit dem zusammen ich über mehrere Jahre hinweg in einem gemeinsamen Seminar grundlegende Ideen entwickeln durfte und der mir kulturwissenschaftliches Denken näherbrachte. An dieser Stelle seien auch die Studierenden erwähnt, die mit großem Einsatz bei der Sache waren und von denen ich viel lernen durfte. Für die sehr professionelle Unterstützung von Seiten des Böhlau Verlags danke ich stellvertretend Kirsti Doepner. Mein besonderer Dank gilt schließlich Rebecca Atzenweiler und Raphaela Biegler, die mich bei der Erstellung des Manuskripts unterstützt und auch wichtige inhaltliche Impulse zu vielen Kapiteln gegeben haben. Die Studie wurde dankenswerterweise finanziell durch die Stiftung Kulturelle Erneuerung unterstützt.

    Einleitung

    Dieses Buch ist ein Versuch, sich mit Fragen des guten, gelingenden, sinnerfüllten Lebens angesichts der Klima- und der Biodiversitätskrise auseinanderzusetzen. Dies hat eine besondere Dringlichkeit, weil wir aufgrund der zu erwartenden Veränderungen wie wohl kaum andere Generationen zuvor aufgefordert sind, solche Fragen neu zu denken.

    Beide Krisen (im Folgenden kurz Umweltkrisen genannt, wenn eine genauere Unterscheidung nicht nötig ist) haben technologische, ökonomische, politische und weltanschaulich-kulturelle Ursachen. Dabei sind die einzelnen Einflussfaktoren nicht monokausal, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Dies führt zu Produktionsweisen, Konsum- und Reproduktionsverhalten, die zusammengenommen das ökologische Gleichgewicht so stark und in so kurzer Zeit verändern, dass die Art und Weise, wie wir leben, grundsätzlich in Frage gestellt ist. Je nach Szenario reichen die Prognosen von mehr oder weniger dramatischen Anpassungsprozessen in unserer Lebensweise bis hin zur Bedrohung des Fortbestands menschlichen Lebens an sich. Langfristig wird sich ein neues ökologisches Gleichgewicht einstellen, aber in den Übergangsphasen drohen dramatische Verwerfungen. Nach dem sehr bekannt gewordenen UN-Report von 2018 zur Klimakrise wurde zum damaligen Zeitpunkt ein Zeitraum von ca. 12 Jahren identifiziert, in dem man durch konsequentes Handeln noch eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C erreichen könne. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass es hinsichtlich der Folgen für das menschliche Zusammenleben einen riesigen Unterschied ergäbe, ob sich die Erde um 1,5 °C oder um 2 °C erwärme. Die Konsequenzen einer Erwärmung um 3 °C lägen jenseits unserer Vorstellungskraft.¹ Der UN-Report von 2019 zur Biodiversitätskrise malte ein ähnlich dringliches Bild. Demgemäß seien von den bekannten 8,7 Millionen Arten ca. 1 Million vom Aussterben bedroht. Und die jeweiligen Ökosysteme könnten bei Ausdünnung an schwer vorhersehbaren Stellen „reißen" und kollabieren.² Hier sind einige Beispiele aus dem vierten National Climate Assessment Report der USA, der wichtige Effekte der Klimakrise zusammenfasst:³ Die Durchschnittstemperaturen werden weiter steigen, aber der Temperaturanstieg ist weder räumlich noch zeitlich einheitlich. Der Trend zu vermehrtem Starkregen wird anhalten. Dies gilt auch in Regionen, in denen die Gesamtniederschlagsmengen voraussichtlich abnehmen werden. Es wird mehr Dürreperioden und Hitzewellen geben, Wirbelstürme und andere Starkwindereignisse werden häufiger und stärker. Der globale Meeresspiegel wird bis zum Jahr 2100 um weitere 30–243 cm ansteigen. Die Arktis wird wahrscheinlich eisfrei werden. Diese Veränderungen haben Konsequenzen für das menschliche Leben und Zusammenleben. Dazu zählen: Massenmigration aufgrund von Ressourcenknappheit, häufigeren extremen Wetterereignissen und dem Anstieg des Meeresspiegels, Verschärfung des inner- und zwischenstaatlichen Wettbewerbs um Nahrung, Wasser und andere Ressourcen, erhöhte Häufigkeit und Schwere von Krankheitsausbrüchen.⁴

    In diesem Buch beschäftigen wir uns nicht primär mit Fakten und Simulationen zu den Umweltkrisen und den am häufigsten diskutierten Bewältigungsansätzen (wie der Internalisierung sogenannter Externer Effekte durch die Bepreisung bestimmter klima- und biodiversitätsrelevanter ökonomischer Aktivitäten, privatwirtschaftlicher Investitionsstrategien in nachhaltige Technologien oder staatlicher Investitionsprogramme, die unter dem Namen Green New Deal firmieren). Hierzu sind ausgezeichnete Studien verfasst und Bücher publiziert worden. Dieses Buch geht einer anderen Frage nach. Die Umweltkrisen sind Konsequenzen menschlichen Verhaltens. Externe Effekte sind nicht die Ursache der Krisen, sondern Ausdruck von Verhaltensweisen, die ihren Ursprung in Weltbildern haben. Dabei hat sich in den vergangenen Jahrzehnten das dominante westliche Weltbild in weiten Teilen der Welt durchgesetzt. Dieses erzeugt die Vorstellung, dass Bewältigungsstrategien der Krisen einen Verzicht mit sich bringen, dass wir unser Leben verändern müssen und dass diese Veränderung zu einer Verschlechterung unserer Lebensqualität führen muss. Die nachdenklicheren Stimmen weisen dabei darauf hin, dass die Alternative des Nichtstuns noch schlimmer ist, dass es aber gleichwohl im Vergleich zur Vergangenheit bergab mit unserem Lebensstandard und unserer Lebensqualität gehen muss. Und tatsächlich ist es so, dass die ökonomischen Maßnahmen zur Eindämmung der Krisen wie z.B. handelbare Emissionsrechte oder ein defunding bestimmter Industrien und einer Umleitung der Investitionsströme in nachhaltige Produktionsweisen zu massiven Veränderungen des Preisgefüges und zu disruptiven technologischen und ökonomischen Veränderungen führen werden, wenn die Maßnahmen mit der nötigen Geschwindigkeit und Intensität umgesetzt werden. Hier ist ein Beispiel, dessen Ziel es ist, die Größenordnungen der Veränderungen besser verständlich zu machen: Ein wichtiges regulatorisches Instrument zur Internalisierung Externer Effekte ist die Bepreisung von CO2. Die Weltbank (2018) schätzt, dass ein Preis von 51 $ pro Tonne CO2 die Umweltexternalitäten internalisieren würde (ob dieser Preis richtig ist, ist für das Argument irrelevant). Die Europäische Union hatte zum Zeitpunkt der Studie einen Durchschnittspreis von ca. 22 $ pro Tonne CO2, und dieser umfasste ökonomische Aktivitäten, die für ca. 45 % der Gesamtemissionen verantwortlich waren. Für die restlichen 55 % kam dieser Preis nicht zur Anwendung. Daran wird erkennbar, welche Preisanpassungen notwendig sind, wenn man das Problem ernsthaft lösen will. Barron et al. (2018) nahmen eine andere Abschätzung vor. Sie schauten sich an, wie stark CO2-Emissionen im Zeitraum 2020–2030 in Abhängigkeit von Preissteigerungen zurückgehen werden. Bei einem Basispreis von 25 $ pro Tonne im Jahr 2020 und einem jährlichen Preisanstieg von 5 % kommen sie auf eine Reduktion der CO2-Emissionen von ca. 20 % bis 2030. Dies ist viel zu wenig, um damit das Problem wirksam lösen zu können, und gleichzeitig bedeutet diese Lösung, dass der Preis inflationsangepasst um ca. 64 % innerhalb von zehn Jahren steigen muss. Die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen solcher Prozesse sind immens. Damit einher gehen massive Umverteilungsprozesse und der Verlust von Arbeitsplätzen in den alten Industrien, ohne dass klar ist, dass die Beschäftigten in den neu entstehenden Industrien ein Auskommen werden finden können. Staatliche Green-New-Deal-Programme können diese Probleme zum Teil entschärfen, aber sie bleiben latent bestehen: Im Kern der Umweltkrisen stehen Verteilungsprobleme, die Solidarität abverlangen oder politisch zu scheitern bzw. das Politische an sich zu destabilisieren drohen. Die Hoffnung, all dies vermeiden zu können, indem wir uns aus dem Schlamassel herausinnovieren, erscheint vor diesem Hintergrund eine Konfliktvermeidungsstrategie nach dem Prinzip Hoffnung zu sein. Das soll nicht heißen, dass es nicht eine Vielzahl interessanter Innovationen gibt und dass hier Durchbrüche im Prinzip möglich sind, es ist aber alles andere als sicher, dass dies genügen wird, um die Folgen der Umweltkrisen effektiv einzudämmen.

    Daher bleibt ein Ort, an dem man sowohl nach den Ursachen der Umweltkrisen und nach Lösungsstrategien suchen kann: unsere Weltbilder mit den einhergehenden Vorstellungen von Sinn und einem guten, gelingenden Leben. Woher wissen wir eigentlich, was ein gutes Leben ist? Woher kennen wir unsere Interessen, woher stammen unsere Vorstellungen eines gelingenden Lebens? Und sind sie richtig? Dieses Buch geht den Fragen nach, wie diese Weltbilder aussehen, welche Konsequenzen sie für unser Verhalten, unsere Vorstellungen eines gelingenden Lebens und unser Wohlergehen haben und ob sie in irgendeiner Weise rational begründbar sind. Und es geht der Frage nach, ob es nicht alternative und vielleicht sogar rational besser begründbare Weltbilder gibt, innerhalb derer die notwendigen Verhaltensänderungen nicht als Verzicht erscheinen, sondern mit ihnen eine Sichtweise auf das eigene Leben möglich wird, bei der Nachhaltigkeit und ein gelingendes Leben zusammenfallen. Wenn man diese Möglichkeit plausibel machen könnte, ergäben sich aus den Krisen auch potenzielle Chancen, weil sie auf uns Druck ausüben, neu und anders darüber nachzudenken, wer wir sein wollen, woher wir unsere Vorstellungen eines guten Lebens beziehen, und ob und wie man diese ändern kann. Kurzgefasst werden wir uns mit den folgenden beiden Fragekomplexen auseinandersetzen:

    •Was sind die relevanten Elemente unserer Weltbilder? Sind unsere Vorstellungen des guten Lebens „richtig", oder gibt es Elemente in ihnen, die zu Verhaltensweisen führen, die zum einen die Krisen mit verursachen und die zum anderen einem gelingenden, guten Leben abträglich sind?

    •In welche Richtungen sollte man diese Vorstellungen verändern, und sind solche Veränderungen tatsächlich möglich? Kann es sein, dass solche Veränderungen nicht nur unsere Leben reicher, gelingender machen, sondern zugleich auch eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise ermöglichen?

    Mit diesem Programm steht dieses Buch nicht allein da. Die „weltanschaulichen" Ursachen der Krisen werden z.B. auch vom Committee on Climate Change der Regierung des Vereinigten Königreichs betont, und eine Strategie zum Umgang mit ihnen bestehe nach Ansicht dieses Komitees darin, die Art und Weise, wie wir über unsere Beziehung zur Natur denken, psychologisch und kulturell besser zu verstehen und konstruktiv zu verändern.

    Aber wie kann ein solches Nachdenken erfolgen, ohne in Beliebigkeit oder wilden Spekulationen zu enden? Der Ansatzpunkt, der hier gewählt wird, wird zunächst eine Verortung der Gegenwart versuchen. Diese kann aufgrund der enormen Komplexität nur oberflächlich und selektiv sein. Aber sie wird einige wichtige Aspekte des gegenwärtigen Weltbilds aufzeigen und so etwas wie ein Paradox sichtbar machen: Vielen auch materiell wohlhabenden Menschen geht es trotz allen Fortschritts nicht gut. In der Positiven Psychologie gibt es den Begriff wellbeing literacy, Wohlergehenskompetenz. Sie ist definiert als die Fähigkeit, Konzepte des Wohlergehens kontextübergreifend zu verstehen, artikulieren zu können und anzuwenden, um das eigene Wohlergehen, das Wohlergehen anderer oder der Welt zu erhalten oder zu steigern.⁶ Es stellt sich heraus, dass man solche Kompetenzen nicht einfach hat, sie aber erlernen kann. Daher ist es denkbar, dass die Ursache für das mangelnde Wohlergehen von Menschen nicht in den objektiven Umständen ihrer Existenz liegen, sondern auch „falsche" Vorstellungen hinsichtlich dessen eine Rolle spielen, was nötig ist, damit das Leben gelingen kann.

    Spricht man von einem gelingenden Leben, so kann man den Begriff Sinn nicht auslassen. Wozu tun wir die Dinge, die wir tun? Was ist der Zweck, welchen Sinn können wir unserem Leben geben? Fragen nach dem „wozu?", dem Sinn sind in einer säkularen Kultur problematisch, aber gleichwohl kann man ihnen nicht dauerhaft ausweichen. Schaut man solche Fragen empirisch an und fragt, welche Erfahrungen Menschen als sinngebend erleben, so finden sich zwei Spuren, denen wir in diesem Buch nachgehen werden. Zum einen hat Sinn offenbar etwas mit Entgrenzungserfahrungen in einer sehr allgemeinen Bedeutung des Worts zu tun. Zusammen mit Menschen oder für andere Menschen selbstwirksam etwas zu tun, einen Zusammenhang der eigenen Existenz mit etwas Größerem zu erleben (sei dies Gott, Natur oder eine abstrakte Idee) sind Beispiele hierfür. Und man trifft immer wieder auf die Schilderung desselben Typs von Erfahrung, den man am besten mit dem Begriff des Erhabenen als eine bestimmte Form von Grenzerfahrung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, der Sicherheit und dem Ungewissen, der Ordnung und dem Chaos beschreibt.

    Begriffe wie das gelingende Leben oder das Erhabene sind unwahrscheinliche Kandidaten für eine Suche nach Bedingungen eines guten Lebens angesichts der Umweltkrisen. Sie wirken auf den ersten Blick wie aus der Zeit gefallen. Vorstellungen eines gelingenden Lebens haben tugendethische Quellen, die mit der europäischen Neuzeit aus der Mode gerieten. Und das Erhabene ist ein Konzept aus der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, das nach postmodernen Ausflügen ins Gesellschaftliche zu Beginn das 21. Jahrhunderts in der Kunsttheorie eigentlich als erledigt galt. Aber wie dies ideengeschichtlich so oft der Fall ist, steht in einem solchen Moment eine Renaissance kurz bevor. Und so ist es auch hier. Insbesondere in der Psychologie hat man in den vergangenen Jahren Erfahrungen des Erhabenen, der Ehrfurcht, des Staunens, der Krisenerfahrung usw. wiederentdeckt und mit Fragen nach dem gelingenden Leben verknüpft. Damit holt man diese Konzepte aus der Ecke der Ästhetik heraus bzw. verwendet den Begriff der Ästhetik in einem umfassenderen, ursprünglicheren Sinn als Wissenschaft der Urteilskraft. In dem Maß, in dem man sich mit diesen Konzepten aus einer neuen Perspektive zu beschäftigen begann, kam es auch zu einer Renaissance tugendethischen Denkens. Insbesondere die Neurowissenschaft hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, neu und präziser zu sehen, dass und wie Menschen durch ihre Interaktionen mit ihrer Umwelt und innerhalb der Erzählungen ihrer Kultur bestimmte Gewohnheiten des Fühlens, Denkens und Handelns entwickeln, die sich dann über die Zeit zu einer Persönlichkeit, einem Selbst, verdichten. Auf diese Prozesse kann man gezielt Einfluss nehmen, was nichts anderes als der Kern tugendethischen Denkens ist. In diesem Kern spielt wiederum das Erhabene als prototypische Grenzerfahrung eine wichtige Rolle.

    Dieses Buch ist der vorläufige Endpunkt einer intellektuellen und auch persönlichen Suche nach Antworten auf die zuvor gestellten Fragen. Eingeflossen sind dabei Vorstellungen der westlichen und östlichen Philosophie, der Neurowissenschaft, der Psychologie sowie der Literatur und Kunst. Wenn man versucht, ein sich in der Gesamtschau dieser Perspektiven ergebendes Bild zu zeichnen, so fällt dies überraschenderweise gar nicht so schwer. Tatsächlich bekommen die Antworten auf Fragen nach Sinn und unserer grundsätzlichen Verortung in der Welt eine bestimmte Struktur, wenn man die genannten Forschungsrichtungen und Kunstformen sichtet und ihre Gemeinsamkeiten erfasst. Es zeigt sich dann ein erstaunlich kohärentes Bild hinsichtlich der Erfahrung von Sinn und den Bedingungen eines gelingenden Lebens. Eine Orientierung dieses Bilds entlang der Achse des Erhabenen erweist sich dabei als ausgesprochen fruchtbar, da sie einen doppelten Zugriff auf die Fragen dieses Buchs ermöglicht. Zum einen werden aus der Perspektive des Erhabenen eine Reihe von gesellschaftlichen Prozessen auf Arten und Weisen interpretierbar, die wichtige und neue Einsichten in bestimmte Prozesse der Gegenwart erlauben. Und zum anderen kann dasselbe Konzept herangezogen werden, um besser zu verstehen, wie Menschen Sinn erfahren und wie Vorstellungen des gelingenden Lebens Veränderungen erfahren können. Dabei sind Veränderungsprozesse von Weltbildern selbst (zum Teil existenzielle) Grenzerfahrungen, so dass das Erhabene auch auf dieser Ebene eine Rolle spielt. Folgt man dieser Spur, so kommt man am Ende bei etwas an, das Umweltethik des gelingenden Lebens genannt werden kann.

    Die Dose des Aristoteles

    Wenn man den Begriff Sinn genauer ins Auge fasst, so kommt man bald zu einer wichtigen Unterscheidung, die wir bis zu Aristoteles zurückverfolgen können. Er trennt zwischen Dingen, die wir tun oder besitzen wollen, um damit etwas anderes zu erreichen, und Dingen, die nicht Mittel zu einem anderen Zweck, sondern Zweck an sich sind. Ein Leben, welches sich an diesem Zweck ausrichtet, ist für ihn das gelingende, eudaimone Leben. Damit entsteht eine Bedürfnishierarchie von unterschiedlichen Mitteln, die alle auf einen Zweck zulaufen, wie wir sie etwa bei Maslow (1943, 1964) ausformuliert finden. Er war ein Begründer der Positiven Psychologie und einer der ersten Psychologen, der im 20. Jahrhundert die Frage nach dem guten Leben wissenschaftlich erforscht hat. Die Zusammenfassung seiner Erkenntnisse in der sogenannten Bedürfnishierarchie hat so große Bekanntheit erlangt, dass sie einen guten Ausgangspunkt zur Illustration bildet, auch wenn die Überlegungen dieses Buchs nicht an der Akzeptanz dieser Theorie hängen. Maslow unterscheidet sechs Bedürfnisebenen, die sich je nach sozioökonomischem Status und Lebensalter artikulieren und sich überlappen können. (1) Auf der untersten Ebene sind physiologische Grundbedürfnisse, die das kurzfristige Überleben sichern, z.B. Atmung, Wasser, Nahrung oder Schutz vor Witterung. (2) Hierzu treten Bedürfnisse nach Sicherheit, die das Überleben über den Tag hinaus sichern, z.B. physische und psychische Unversehrtheit, Arbeit, Wohnung, Gesundheit. (3) Auf der dritten Ebene treten soziale Bedürfnisse hinzu, also Familie, Freundschaft, Gruppenzugehörigkeit. (4) Die vierte Ebene umfasst die sogenannten Individualbedürfnisse nach Vertrauen, Wertschätzung, Selbständigkeit, Erfolg, Freiheit. (5) Auf der ursprünglich letzten Stufe siedelte Maslow die Selbstverwirklichung an. Dabei geht es um die Umsetzung von Talenten, Potenzialen und Kreativität, um „Entwicklung und „Wachstum. (6) Später ergänzte er die Hierarchie um die Stufe der Transzendenz, womit er sowohl eine Fähigkeit zur Überschreitung der eigenen Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten als auch Erfahrungen der Zugehörigkeit verstand, die über die Gruppenzugehörigkeit der Stufe 3 hinausgehen. Diese 6. Stufe ist dabei nicht notwendig religiös gedacht, sondern entspricht einem Bedürfnis des Menschen, welches sich religiös äußern kann, aber nicht muss. In weiteren Differenzierungen nahm er auch noch kognitive Bedürfnisse nach Wissen und ästhetische Bedürfnisse nach einer verfeinerten Wahrnehmung hinzu, die er zwischen den Individualbedürfnissen und den Selbstverwirklichungsbedürfnissen ansiedelte.

    Implizit ist dieser Hierarchie ein bestimmtes Menschenbild hinterlegt, und Maslow ist aus den unterschiedlichsten Gründen für sie kritisiert worden: Sind es die richtigen Stufen? Handelt es sich um universale menschliche Bedürfnisse oder haben die Stufen eine kulturelle Färbung? Gibt es eine strenge Hierarchie, so dass man erst zu Stufe 3 kommt, wenn man Stufe 1 und 2 erreicht hat? Und wann hat man sie erreicht? Für uns sind diese Debatten unwichtig, solange man daran festhält, dass Menschen nicht einfach „statisch sind, d.h. mit gegebenen Vorlieben, Werten oder Weltanschauungen leben, sondern dass sie sich zu einer bestimmten Persönlichkeit aufgrund ihrer Erfahrungen und im Kontext ihrer Gesellschaft entwickeln. Was in der Hierarchie gut zum Ausdruck kommt, ist, dass Menschen unterschiedliche Typen von Bedürfnissen haben, dass Fragen nach Sinn etwas mit den „höheren Stufen zu tun haben und dass Fragen nach dem guten, gelingenden Leben auf das Zusammenspiel aller Stufen bezogen sind. Alternativ könnte man zur Illustration neben anderen auch Piagets (1965 [1932]) Theorie der Moralentwicklung oder ihre Weiterentwicklung durch Kohlberg (1996) heranziehen. Neuere und anders akzentuierte Ansätze von Entwicklungsethiken finden sich z.B. bei Haidt (2006). Dieses Element der Entwicklung ist zentral für die Argumentation dieses Buchs.

    Fragen nach Selbstverwirklichung oder Transzendenz kommen ohne eine zumindest implizite Antwort auf die Frage nach dem Zweck an sich nicht aus: Was ist dieser Zweck, und wie kann ich ihn erreichen? Und hier wird es schwierig, denn eine inhaltliche, für alle Menschen verbindliche Spezifikation gibt es nicht. Eudaimonie ist so etwas wie ein Aufkleber auf einer Dose, deren Inhalt man nicht kennt. Der Begriff ist ein Platzhalter für eine Leerstelle. Er ist aber eine Leerstelle, die immer wieder zu füllen und zu bestimmen versucht wird.

    Innerhalb des religiösen Weltbilds der abrahamitischen Religionen ist eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben ebenfalls möglich: es ist ein Leben, welches sich an Gott ausrichtet, was immer das innerhalb der einzelnen Traditionen genau heißt. Wir erreichen hier die höchste Hierarchiestufe in Maslows Vorstellung, die Transzendenz. Der Inhalt der Dose, auf der Eudaimonie steht, ist bestimmt.

    Mit der Moderne sind wir aber in ein säkulares Zeitalter eingetreten, in dem die religiösen Erzählungen für viele Menschen an Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit verloren haben. Und auch religiöse Menschen innerhalb einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft sind mit dem Umstand konfrontiert, dass andere Menschen zu anderen Schlüssen kommen als sie. Damit stellt sich aber erneut die Frage, was in der Eudaimonie-Dose eigentlich drin ist; die Leerstelle ist zurück. Manche Vertreter einer säkularen Moderne, die einem materialistischen Weltbild anhängen, würden die Idee eines personalen Gotts als Aberglauben zurückweisen und selbst die Idee transzendenter Bedürfnisse bestenfalls als sinnlos erachten. Das Leben hat keinen Sinn, es gibt nur ungerichtete Evolution, und es ist Teil des Erwachsenwerdens des Menschen, dies zu akzeptieren und gleichwohl gut zu leben. Hiermit einher gehen die als Relativismus oder Subjektivismus bezeichneten Überzeugungen, dass Wertefragen, die nicht nur für Vorstellungen nach Sinn und dem guten Leben relevant sind, sondern auch für moralische Fragen des Zusammenlebens, letztlich selbst nicht mehr als Geschmacksurteile sind. Daher findet man in säkularen Gesellschaften oftmals andere Inhalte in der Dose:

    So kann man zu dem Schluss kommen, dass das gute Leben ein Leben ist, welches den sinnlichen Genüssen gewidmet ist. Diese Position nennt man Hedonismus. Hier würden beispielsweise Maslow und auch Aristoteles widersprechen: Wir würden bei einem solchen Leben die oberen Stufen der Hierarchie nicht erreichen, das Potenzial, welches das menschliche Leben biete, läge brach, man führte ein „flaches" Leben.

    Oder man könnte zu dem Schluss kommen, dass das gute Leben darin bestünde, nach Macht, Einfluss und Anerkennung zu streben. Aber auch hier würden Maslow und Aristoteles widersprechen: Macht sei kein Zweck an sich, sie müsse zu etwas gut sein.

    Taylor (2007) steht in einer langen Reihe von Gesellschaftstheoretikern, die in dieser Entwicklung eine der zentralen Ursachen für etwas sehen, dass er die Malaise der Moderne nennt, und womit sich eine wichtige anthropologische Prämisse verbindet: In einer solchen Welt, in der jeder Einzelne nach seinem Sinn suchen müsse und in der die grundlegenden Überzeugungen eines materialistischen Weltbilds „sinnfeindlich seien, entstehe eine Flachheit des Daseins. Er schreibt, man habe sich zu allen Zeiten über die Gegenwart beschwert, man habe gesagt „that it is fickle, full of vice and disorder, lacking in greatness or high deeds, full of blasphemy and viciousness. But what you won’t hear at other times and places is one of the commonplaces of our day [...] that our age suffers from a threatened loss of meaning.⁷ Konsum etc. könne für eine Weile davon ablenken, dass diese Leere im Zentrum der Existenz bestehe, aber die Leere bliebe. Für ihn und andere Gesellschaftstheoretiker ist es Teil des Menschseins, Sinn zu suchen. Ein philosophischer Materialist mag an dieser Stelle einwenden, dass man dieser Prämisse ja durchaus folgen könne, dass ein Bedürfnis nach Sinn aber noch nicht bedeute, dass es einen solchen Sinn auch gebe. Ein Sinnbedürfnis habe vielleicht sogar evolutionär erklärbare Vorteile, jede Vorstellung von Sinn bliebe gleichwohl eine Illusion.

    Wenn man in die empirische Forschung zu Sinnerfahrungen schaut, so zeigt sich ein Muster. Es sind Erfahrungen, die nach Maslow etwas mit Selbsttranszendenz, mit Einssein und Zugehörigkeit in einem abstrakteren Sinne oder im Sinne der Gruppenzugehörigkeit zu tun haben. Und diese Erfahrungen haben etwas an sich, das sich einer sprachlichen Wiedergabe entzieht. Sie werden als sinnstiftend empfunden, aber gleichzeitig sind sie anderen Menschen nicht wirklich nachvollziehbar mitteilbar. Diese Ineffabilität ist auch ein Schlüssel zum Verständnis, warum der Inhalt der Dose des Aristoteles nicht beschreibbar ist: Sinn ist nichts, was sich in Sprache vermitteln lässt, Sinn zeigt sich als Erfahrung.

    Was aber nicht heißt, dass solche Erfahrungen beliebig sind. Sie gehen oftmals mit einem Gefühl des Erhabenen und der Ehrfurcht einher und haben für das einzelne Leben einen transformativen Charakter, der Menschen ihre bisherige Lebensführung überdenken lässt, sie in empirischen Studien weniger status- und konsumorientiert, aber dafür mitfühlender und kooperativer macht. Sinnerfahrungen gehen oft auch damit einher, dass Kooperation nicht als Pflicht gesehen wird, die dem kurzfristigen eigenen Interesse widerspricht. Vielmehr ändert sich die Vorstellung des Eigeninteresses und wird „inklusiver". Dieser durch Sinnerfahrungen ausgelöste transformative Prozess geht einher mit der Wahrnehmung größerer Autonomie, Selbstbestimmtheit und Freiheit. Und die Bedeutung von Freiheit verändert sich; mit ihr ist weniger die äußere Freiheit, also die Fähigkeit, der Welt den eigenen Willen aufzuzwingen, gemeint, sondern eine innere Freiheit, eine Art der Selbstbestimmtheit des Willens. Studien zeigen, dass solche Erfahrungen gar nicht so selten sind, wie man denken könnte. Der Weg zu ihnen wird dabei oftmals durch eine Krise initiiert und durch weitere Krisenmomente gekennzeichnet. Transformative Krisen sind ein Initiator dieser Erfahrungen. Weniger dramatisch und auch weniger transformativ, aber mit einer hohen subjektiv zugeschriebenen Bedeutung machen Menschen solche Erfahrungen regelmäßig in der „Natur. Natur scheint die wichtigste Quelle „spiritueller Erfahrungen in einer säkularen Kultur zu sein. Wenn man solche Erfahrungen ernst nimmt und der Frage nachgeht, was sie über den Inhalt der Dose des Aristoteles sagen, so kommt man zu bestimmten Themen, die in der Geschichte immer wieder auftauchen und die es erlauben, einen systematischeren Zugang zu Fragen nach dem „wozu?", nach Sinn zu finden.

    Mögliche Einwände

    Dies mag zu schön klingen, um wahr zu sein, und einem Herumbasteln an Weltbildern sollte aus unterschiedlichen Gründen mit Skepsis begegnet werden. Der auf eusoziale Insekten spezialisierte Biologe E. O. Wilson antwortete einmal auf die Frage, was er vom Marxismus halte, mit dem Satz „[W]onderful theory, wrong species."⁸ Und auch bei den Thesen dieses Buchs stellt sich die Frage, ob sie eine ernstzunehmende Option beschreiben oder Wunschdenken sind. Können Menschen ihre Lebensweise und ihre Weltanschauung ändern und dabei sogar ein besseres, gelingenderes Leben führen? Im Detail wird sich diese Frage erst im Verlauf des Buchs klären, hier sollen aber drei mögliche Einwände kurz diskutiert werden.

    Als Erstes fallen hier mahnende Beispiele für Umerziehungskampagnen von Menschen oder Bevölkerungsgruppen mit „falschem Bewusstsein" ein. Solche Experimente waren selten von Erfolg gekrönt und endeten regelmäßig in Tragödien. Wenn hier von einer Veränderung eines Weltbilds gesprochen wird, sind damit keine Experimente in gesellschaftlicher Umerziehung gemeint, sondern eine Einladung, zu schauen, ob die Thesen des Buchs stimmig sind. Zweitens hat die Idee, Weltbilder und Sichtweisen auf das eigene Leben ändern zu wollen, oftmals einen merkwürdigen Beigeschmack. Wir sind Kinder der europäischen Aufklärung, und unser Weltbild verkörpert Wissenschaftlichkeit und Rationalität, so die landläufige Auffassung. Mit diesem Einwand kann man konstruktiv umgehen, wenn mehrere Nachweise erbracht werden. Erstens sollte plausibel gemacht werden können, was die Konstruktionsbedingungen dieses Weltbilds sind. Zweitens sollte gezeigt werden, dass dieses gar nicht immer den Standards der Rationalität und Wissenschaftlichkeit genügt bzw. unvollständig ist. Und es sollte drittens gezeigt werden, dass ein alternatives Weltbild ebenfalls oder in höherem Ausmaß Standards der Rationalität erfüllt und zugleich Vorstellungen eines gelingenden Lebens verwirklicht.

    Ein weiterer Einwand ist, dass Weltbilder nicht einfach wie Steuersysteme konstruiert werden können. Der beste Weg, mit diesem Einwand umzugehen, besteht darin, historisch und/oder interkulturell nachzuweisen, dass es immer wieder solche Veränderungen gab. Weltbilder als kulturelle Phänomene (oder als Kultur) zu verstehen, heißt aber nicht, damit einen radikalen Konstruktivismus anzuerkennen. Die Wirklichkeit leistet absurden Konstruktionen Widerstand. Aber gleichzeitig gibt es Spielräume für Konstruktion. Innerhalb dieser Spielräume sollte es möglich sein, Kultur und Weltbilder zu ändern. Eine Änderung ist aber nicht einfach, weil an Weltbildern zugleich unsere soziale Identität, unser Selbst, hängt. Wir denken über uns in Form von Geschichten, und verändern wir die Geschichten, so verändert sich unser Selbst. Dies kann auf alle möglichen Widerstände stoßen, mit denen wir uns noch beschäftigen werden.

    Was zu einem weiteren möglichen Einwand führt: Die Corona-Pandemie ist ein Test für die These, dass Menschen durch eine Veränderung ihrer Weltbilder einen anderen, besseren Umgang mit Krisen finden können. Und auf den ersten Blick sieht es nicht gut aus für diese These: Die Pandemie zwang uns Veränderungen unserer Lebensweise auf, an denen die meisten Menschen litten. Sie führt vielleicht auf einer eher abstrakten Ebene zu einem Verständnis, dass wir weniger Kontrolle haben, als wir uns in normalen Zeiten vielleicht gern einreden würden, dass wir ggf. bestimmte Verhaltensweisen überdenken sollten und dass Werte wie Solidarität eine große Rolle bei einem erfolgreichen Umgang mit Krisen spielen. Aber im Alltag fühlt sich das anders an. Die Pandemie erzwingt Verhaltensänderungen, die gegen unsere tiefsten Instinkte gehen, die wir zum Umgang mit Bedrohungen entwickelt haben: ein enges Zusammenrücken mit Familie, Freunden, Gruppe, um sich besser verteidigen zu können. Eine effektive und rationale Pandemiebekämpfung verhindert dies zumindest kurz- und mittelfristig, und darauf sind die meisten Menschen nicht eingestellt. Ein solches Verhalten ist aber nicht typisch für das, was ein rationaler Umgang mit den Umweltkrisen von uns fordert. Darüber hinaus ist die Situation so schwierig, weil ein Großteil des menschlichen Verhaltens auf Routinen und Gewohnheiten basiert. Es dauert lange, um diese zu verändern, selbst wenn das theoretische Wissen darum, dass sie verändert werden sollten, vorhanden wäre. Aus Gründen, die im Buch noch angesprochen werden, sind Verhaltensänderungen zunächst meist unangenehm; sie entfalten ihr positives Potenzial erst langfristig. Wie wir sehen werden, können Veränderungen durchaus durch Krisen hervorgerufen werden, aber am Ende kommen sie nur zustande, wenn man sie im Vertrauen auf ihre positive transformative Kraft auch aktiv anstrebt.

    Übersicht

    Die Frage nach dem guten Leben lässt sich nur durch eine Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven sinnvoll fassen. Es geht um Fragen des Sinns und um Fragen der Erkenntnis. Es geht um individuelle Dispositionen, die aber wiederum nur innerhalb einer Gesellschaft mit ihren symbolischen Ordnungen erschlossen werden können. Und es geht um Erfahrungen, die sich einer sprachlichen Vermittelbarkeit in einem noch zu präzisierenden Sinn entziehen. Der Einstieg über Fragen des gelingenden Lebens und Maslows Bedürfnishierarchie ermöglicht daher einen Zustieg zur Argumentation dieses Buchs, aber es ist nicht in einer stets linearen Struktur geschrieben. Seine Struktur entspricht eher der eines Gewässernetzes. Insbesondere wenn man Theorien aus unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft zusammenbringt, entstehen multiple Bezüge, Schleifen, Uneindeutigkeiten, die man nicht einfach eliminieren sollte, weil gerade in ihnen ein zentrales Erkenntniselement liegt. Die zugrundeliegende Epistemologie ist eher assoziativ, sie sucht nach Kohärenz zwischen unterschiedlichen Gedankengängen und Theorien. Man kann bestimmte Ordnungsmuster schaffen, aber sie folgen keiner klaren Hierarchie oder linearen Struktur. Ein begradigter Fluss ist ein instrumentalisierter Fluss, er wird in den Dienst eines einfachen Ziels gestellt. Die Wirklichkeit ist aber komplex, sie folgt keinem linearen Narrativ. Ähnlich wie ein begradigter Fluss ist ein begradigtes Argument, ein klarer roter Faden eine Vereinfachung im Dienst einer bestimmten Sache, die Klarheit schafft. Dies ist für das Ziel dieses Buchs nicht angemessen. Gewässernetze mit all ihren Verzweigungen, Mäandern, Inseln, Zu- und Abflüssen haben aber gleichwohl eine Richtung, ein „Fließen". Eine solche Richtung ist auch in diesem Buch gegeben: politische, kulturelle und wissenschaftliche Phänomene säkularer Gesellschaften werden mit Fragen nach Sinn und Transformation aus der Perspektive des Erhabenen betrachtet. Die Hoffnung besteht dabei darin, dass das Erhabene als Ordnungsprinzip sowohl bisher als getrennt gesehene Phänomene miteinander auf interessante Weise verbindet als auch einen neuen Blick auf Fragen nach Sinn und Zugehörigkeit erlaubt. Die einzelnen Argumente fügen sich innerhalb des Textes zu einem Gesamtverständnis zusammen.

    Gehen wir zurück zu Maslow oder Aristoteles, so sehen wir, dass das gelingende Leben jeweils als ein Entwicklungsprozess gedacht wird. Dieser Entwicklungsprozess wurde in vielen Kulturen und zu allen Zeiten beschrieben, u. a. seit Joseph Campbell (2008 [1949]) als Heldenreise. Interessanterweise stehen bei der Heldenreise als „Reise nach innen" ebenfalls transformative Erfahrungen im Zentrum, die in den empirischen Studien zu Sinnerfahrungen genannt werden und die wir mit der Erfahrung des Erhabenen in Zusammenhang gebracht haben. Sinn, so lautet daher die These, hat etwas damit zu tun, das Leben als einen Prozess zu verstehen, in dem man durch bestimmte Erfahrungen zu einem tieferen Verständnis des eigenen Lebens, seiner Position in der Welt kommen kann.

    Der Begriff Held ist wahrscheinlich für die meisten Menschen männlich besetzt. Schließt man daher mit dem Konzept der Heldenreise Frauen aus? Wie sieht es mit sich nichtbinär wahrnehmenden Menschen aus? Der Begriff Held ist am Ausgang einer patriarchalen Kultur intuitiv tendenziell männlich besetzt. Wir werden uns mit der Frage auseinandersetzen, ob damit auch die Erfahrungen der Heldenreise, die durch das Zusammentragen mythologischer Heldengeschichten und ihrer psychologischen und anthropologischen Interpretationen gewonnen wurden, verzerrend und diskriminierend sind, wenn sie als Modell für menschliche Entwicklung genommen werden, und wir werden in Kap. 9 argumentieren, dass die wesentlichen Elemente der Reise nach innen nicht geschlechterspezifisch sind. Aber zuvor müssen wir eine unbequeme Grundsatzentscheidung treffen. Lässt man den Begriff Heldenreise fallen und ersetzt ihn durch etwas anderes, z.B. „Reise nach innen", so geht mit dem neuen Begriff der bekannte und wichtige Bedeutungsraum des Campbell’schen Begriffs verloren. Also belassen wir es vorläufig oftmals bei dem Begriff und versehen ihn mit einer mentalen Fußnote, die uns daran erinnert, dass er nochmals genau angeschaut wird.

    Das Erhabene als zentrales Element der Heldenreise erzählt von einer Grenzerfahrung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Die Grenze zwischen diesen Bereichen erschreckt und fasziniert zugleich. An ihr kommt die Fassungs- und Vorstellungskraft zu einem Ende, hinter ihr liegt die Freiheit des „Anderen. Die Geschichte des Erhabenen ist auch eine Geschichte der sicheren Distanz: damit das „Andere nicht Schrecken ist, muss man sich der Grenze mit einer Sicherung nähern. Dann aber ist der Schritt ins Andere ein Schritt in die Freiheit, in ein reiches, neugieriges, volles Leben. Traut man sich nicht, den Schritt über diese Grenze zu gehen, sondern sichert man sich, indem man Grenzzäune und Mauern baut, die vor dem Unbekannten schützen sollen, so verpasst man sein Leben; man wartet nur, bis es vorbei ist. Das Erhabene spielt eine zentrale Rolle, wenngleich man solche Erfahrungen vielleicht nicht mit diesem Namen verbindet, weil der Begriff ein Grenzphänomen beschreibt: es ist eine Erfahrung am Rand des Bekannten und macht damit Freiheit und zugleich Zugehörigkeit spürbar. Was das Konzept letztlich in eine Erfahrung verdichtet, sind die elementaren Phänomene Ordnung/Sicherheit/Bekanntes und Wildheit/Gefahr/Unbekanntes und damit letztendlich die eigenen Ängste, die zurückhalten. Oder umgekehrt die Erfahrung von Sicherheit, die der Wildheit die Bedrohlichkeit nimmt, und schließlich Vertrauen, welches Sicherheit erst möglich macht.

    Die Heldenreise kann ganz unmittelbar als äußere Reise an den Rand des Bekannten gedeutet werden, an dem das Erhabene wartet. Sie ist aber vor allem auch eine Reise nach innen, und die Prüfungen, die dort auf die Heldin und den Helden warten, sind ihre konventionellen Vorstellungen von Leben und unbewusste Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, mit denen sie sich konfrontieren und die sie zurücklassen müssen, damit ein Leben in Fülle möglich wird. Sie schaffen sich hiermit die Sicherheit, den Grund, auf dem sie ein Leben aufbauen können. Erst wenn sie diese inneren Grenzen überwunden haben, können sie die Vielzahl möglicher anderer Grenzüberschreitungen aus einer Position der Sicherheit erleben. Dies ist die positive Geschichte von Befreiung und Wachstum. Aber die negative Geschichte von Stagnation und Angst gibt es auch: Macht sich der Held nicht auf die Reise nach innen, so werden ihn die Verdrängungen und Konventionen beengen, und die Grenzen werden nicht zu Orten erhabener Bereicherung, sondern zu Angsträumen, vor denen er sich schützen muss. Kontrolle, Mauern und Abgrenzung treten an die Stelle von Freiheit, Offenheit und Wachstum. Das Bedürfnis nach Sinn, existenzieller Sicherheit und Zugehörigkeit bleibt weiterhin bestehen, es führt aber nicht zu innerem Wachstum, sondern äußert sich anders. Das Erhabene kann auch im Aufgehen in der Gruppe erfahren und durch das Charisma einer Führungspersönlichkeit katalysiert werden. Das Bekannte und das Fremde findet dann eine Entsprechung in der Abgrenzung zu „dem Fremden und „den Fremden.

    Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage nach den Möglichkeiten der Erfahrung von Sinn, Zugehörigkeit und dem gelingenden Leben in einer säkularen Kultur. Wenn empirisch solche Erfahrungen gekoppelt sind an Erfahrungen des Erhabenen, stellt sich die Frage, ob sie wissenschaftlich und gesellschaftlich ernst genommen werden können oder sogar müssen. Wir reden hier mit anderen Worten von der Legitimität des Rationalitäts- und Wissensbegriffs, der von einer Gesellschaft zugrunde gelegt wird. Handelt es sich bei solchen Erfahrungen um Spinnereien, oder sind wir angehalten, solche Erfahrungen ernst zu nehmen, wenn wir unsere eigenen Vernunftstandards konsequent anwenden? Wir werden uns auch mit diesen Fragen beschäftigen und zu dem Schluss kommen, dass eine konsequente Anwendung der Idee von Vernunft und ein entsprechend formulierter Begriff des Wissens nicht nur dazu führen, dass man solche Erfahrungen ernst nehmen kann, sondern dass man sie ernst nehmen und in den Begriff von Wissen integrieren muss, dass es eine rationale Grundlage einer säkularen Spiritualität gibt, die sich allein aus einer konsequenten Anwendung der immer schon verwendeten Vernunftstandards ableiten lässt. Der Begriff spirituell wird dabei zunächst im Sinne des lateinischen Begriffs spiritualis, also „geistig, den Geist betreffend, verwendet, bezieht sich also auf die Ganzheit aller mentalen Prozesse und Phänomene. Er kann aber auch „sich auf den Atem beziehend bedeuten, was die körperliche Qualität betont. Das bedeutet nicht, dass alles Gerede über transzendente Erfahrungen oder Sinn diese Standards erfüllt, ganz im Gegenteil. Aber Quacksalberei und dummes Zeug gibt es auch in anderen Bereichen des Lebens, einschließlich der Wissenschaft. Eine genaue Definition folgt in Kap. 10.

    Wir werden schließlich den Versuch unternehmen, besser zu verstehen, was der Begriff der säkularen Spiritualität konkret bedeuten könnte. Nimmt man die empirischen Ergebnisse mit den kulturtheoretischen und philosophischen Gedanken zusammen, die um Sinnerfahrungen, das Erhabene und die Heldenreise kreisen, so fällt auf, dass sie eine große Nähe zu vielen Weisheitslehren der Menschheit haben. Wir werden mit dem Buddhismus eine solche Tradition als eine Art Fallstudie herausgreifen. Im Buddhismus hat man sich immer schon auf eine Reise nach innen begeben und dabei tiefes Wissen über die Funktions- weise des Geistes erlangt; es handelt sich um eine Phänomenologie des Geistes, die durch genaue Beobachtung und Training zu einem tiefen Verständnis seiner Funktionsweise führt und diese auf positive Art verändern kann. All die zuvor angesprochenen Themen finden sich in den buddhistischen Lehren wieder und werden in einen Zusammenhang gebracht. Ein tieferes Verständnis dieses Zusammenhangs kann es erlauben, besser zu verstehen, was eine Reise nach innen sein kann, und gleichzeitig, einen Blick von außen auf die eigenen kulturellen Prägungen zu werfen, die aus der Innenperspektive oft unsichtbar bleiben. Der Buddhismus bietet sich aber auch deshalb an, weil zu vielen seiner zentralen Vorstellungen in den vergangenen Jahren eine intensive neurowissenschaftliche Forschung entstanden ist, so dass wir eine sich immer weiter vertiefende Anschlussfähigkeit zwischen diesem Denken und modernen westlichen Forschungsmethoden haben.

    Diese Bemerkung ist auch aus einer methodischen Perspektive wichtig. Bei diesem Buch handelt es sich weder um eine kulturtheoretische noch um eine historische Arbeit, wenngleich kulturtheoretische und historische Forschung eine Rolle spielt. Es wurde stattdessen versucht, diese um Theorien und empirische Ergebnisse der Psychologie,

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