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Das neue Paradies auf Erden
Das neue Paradies auf Erden
Das neue Paradies auf Erden
eBook438 Seiten5 Stunden

Das neue Paradies auf Erden

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Über dieses E-Book

Eine Welt, in der Probleme wie Krieg, Hunger, Umweltzerstörung und sogar der Tod selbst überwunden sind.
Ein Gott, der die Gebete der Menschen erhöhrt, ihnen antwortet und gemeinsam mit seinen Engeln dafür sorgt, dass jeder auf Erden glücklich und zufrieden sein kann.
Und zwei Jungen, die all das einfach nicht akzeptieren können. Die einen Blick hinter die Fassade des scheinbar perfekten Idylls werfen wollen. Und die mit jeder neuen Entdeckung immer mehr zu der Erkenntnis kommen , dass nichts wirklich ist, wie es zu sein scheint...

... im neuem Paradies auf Erden!

In Oliver Brunottes erstem Roman geht es nur scheinbar vorrangig um den Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft. Mit einem gleichermaßen offenen wie auch kritischen Blick beleuchtet er komplexe Themen wie den Klimawandel, die Mobilität und moderne Computertechnik.
Dass dabei trotzdem eine spannende, witzige und mitreißende Geschichte entstanden ist, liegt vor allem am Zusammenspiel der beiden Freunde Tim und Michael, die sich all den Herausforderungen, auf die sie im Laufe der Geschichte treffen, auf ihre ganz eigene Art und Weise stellen: mal neugierig, mal albern, mal nachdenklich... aber meistens ziemlich vorlaut und selbstbewusst.

'Das neue Paradies auf Erden' ist ein Buch für Jugendliche und Erwachsene, denen oberflächliche Antworten nicht genügen und die den Dingen lieber genau auf den Grund gehen wollen. Ein Buch darüber, wie schwer es ist, Erwachsen zu werden, schwierige Wahrheiten zu akzeptieren und eigene Entscheidungen zu treffen. Und ein Buch darüber, wie wichtig es ist, dabei gleichzeitig Kind zu bleiben und nie das Staunen und die Freude an den Wundern der Welt zu verlieren.

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Klappentext des Buches
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Tims Leben scheint perfekt.
Ihm fehlt es an nichts, seine Eltern haben immer für ihn Zeit, die Schule macht Spaß und mit seinem besten Freund Michael erlebt er Tag für Tag den perfekten Sommer-Sonnentag.
Er genießt das Leben in Gottes größtem Geschenk an die Menschheit:
Dem neuen Paradies auf Erden.

Doch als Michael irgendwann anfängt, unbequeme Fragen zu stellen und auch Gott höchstpersönlich beginnt, sich ziemlich seltsam zu verhalten, droht sich alles um sie herum zu verändern: Die perfekte Welt der beiden gerät mit jeder neuen Erkenntnis immer mehr ins Wanken, bis sie schließlich erkennen müssen, dass in Gottes neuem Paradies rein gar nichts so ist, wie es zu sein scheint.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Okt. 2021
ISBN9783347427617

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    Buchvorschau

    Das neue Paradies auf Erden - Oliver Brunotte

    Kapitel 1: Der Sturz

    Wenn die Gerechten schreien, so hört der HERR und errettet sie aus all ihrer Not. Psalm 34:17

    Der Tag, an dem alles begann, war ein herrlicher Sonnentag. Es war einer der schönsten Tage des Jahres, keine Wolke an Gottes strahlend blauem Himmel und viel zu schön, um ihn in der Schule zu verbringen.

    So schön, dass es definitiv eine Sünde sei, wenn man nicht sofort schwimmen gehen würde, meinte Michael. Und wenn Michael das sagte, musste es stimmen, denn Michael wusste immer alles. Er war zwei Jahre älter als Tim, sein bester Freund und schon so lange Tim denken konnte für ihn so etwas wie sein großer Bruder.

    Naja, natürlich nicht wirklich. Große Brüder gab es nur in alten Büchern und Filmen. Aber so wie Michael hatte sich Tim immer einen großen Bruder vorgestellt und sie gaben sich beide alle Mühe, ihrem Ruf im Dorf als die 'Chaos-Brüder' alle Ehre zu machen. Heute jedoch hatte das Dorf ein paar Stunden Ruhe, weil die beiden unterwegs zum Fluss waren.

    »Komm schon, ist das etwa alles, was du draufhast?«, rief Michael über die Schulter, während er den Hang in vollem Tempo mit seinem Rad herunter bretterte.

    »Ich krieg dich schon noch«, gab Tim zurück, obwohl ihm klar war, dass er keine Chance hatte, Michaels Vorsprung einzuholen. Aber aufgeben? Niemals!

    »Wetten, ich bin sogar vor dir im Fluss?«, stieß er keuchend vor Anstrengung hervor.

    »Träum weiter, Kleiner«, lachte Michael und trat noch einmal stärker in die Pedale, um die letzte Anhöhe vor dem Fluss mit Schwung hinaufzurasen.

    Nicht fair, dachte Tim. Mit seinen größeren Reifen hatte Michael natürlich bessere Karten. Als er es endlich bis oben auf den kleinen Hügel vor dem Fluss geschafft hatte, sah er Michael dort unten schon siegessicher auf seinen Lenker gelehnt am Ufer stehen und grinsen.

    Es war eins von diesen ansteckenden Grinsen. Eins, das dich herausfordert, dich halb auslacht, halb mit dir lacht und dich fragt: 'Na…? Was machste jetzt, hmm…?'

    Genau eins von der Sorte, die Tim schon viel zu oft in Schwierigkeiten gebracht hatte. Unausweichlich schlich sich das Grinsen von Michaels Gesicht auf sein eigenes.

    Michael konnte nicht ganz umhin, seinen kleinen Beinahe-Bruder ein wenig zu bewundern. Manchmal hatte der es echt drauf. Aber das konnte er ihn natürlich nicht merken lassen. Also zog er lediglich eine Augenbraue hoch und versuchte, nach außen möglichst cool und unbeeindruckt zu wirken, während er beobachtete, wie Tim vom Hügel herab ungebremst auf ihn zu raste.

    Innerlich musste er lächeln. Dieser kleine Verrückte trat dabei tatsächlich sogar noch in die Pedale. Natürlich bewegte Michael sich kein Stück und verzog auch keine Miene, als Tim nur Zentimeter entfernt an ihm vorbeischoss. Er spürte den Fahrtwind im Gesicht und fuhr sich mit einer schnellen Handbewegung durch die langen Haare, um seine Frisur halbwegs wieder in Ordnung zu bringen.

    Kurz vor der Uferböschung riss Tim das Vorderrad nach oben, woraufhin sein Fahrrad einen mächtigen Sprung vollführte und ihn bis fast in die Mitte des Flusses trug. Am höchsten Punkt, als das Rad gerade begann, wieder Richtung Fluss zu stürzen, stieß Tim sich mit aller Kraft ab, so dass er selbst noch eine gute Sekunde länger durch die Luft flog, bevor auch er mit einem lauten Platschen in der Mitte des Flusses landete.

    »Hab… ge… gewonnen«, rief Tim triumphierend zu Michael herüber, während er gleichzeitig Wasser spuckte und versuchte, mit einer Hand sein sinkendes Fahrrad festzuhalten.

    Die hochgezogene Augenbraue bewegte sich noch ein Stückchen weiter nach oben. Schließlich sagte Michael: »Naja. Nicht schlecht…«

    Tim wusste, was jetzt kommen musste, aber bevor er protestieren konnte, fügte Michael hinzu: »…für 'n Mädchen!«.

    Er warf sein T-Shirt achtlos in einen Busch am Ufer, nahm Anlauf und landete mit lautem Platschen direkt neben Tim in der Mitte des Flusses, wo die beiden sofort begannen, einander gegenseitig zu tauchen, nass zu spritzen und abwechselnd nach dem inzwischen komplett gesunkenen Fahrrad zu tauchen.

    Das Wasser war herrlich kühl, die Sonne heiß und der Reifen des Fahrrads nur ein ganz klein bisschen verbogen. Sie schwammen, lachten und genossen einen weiteren Tag in Gottes größtem Geschenk an seine Schöpfung:

    Dem Paradies auf Erden.

    Gott hatte es gut gemeint mit den Menschen. Die Welt in der Tim und Michael aufwuchsen, war eine völlig andere als die ihrer Urgroßeltern. All die Probleme des »letzten« Zeitalters wie Krieg, Hunger oder die Zerstörung der Natur gab es im Paradies natürlich nicht mehr. In seinem Buch las Tim, dass…

    »… Gott den Menschen das Paradies geschenkt hat, damit sie von nun an endlich frei leben konnten: Ihre Tage seien fortan immer wunderbare Sommertage, die Natur sei gesund und grünend und alle gute Gabe werde ihnen von GOTT allein gegeben, auf dass ihr Geist nie mehr durch tumbe Arbeit davon abgehalten werde, sich so frei zu entfalten, wie der HERR es vorgesehen habe.«

    Tim schnaubte und wischte zum wiederholten Male mit dem Ärmel über die Seiten seines Buches die durch die aus seinen Haaren fallenden Wassertropfen immer wieder unleserlich wurden.

    Das war mal wieder genau diese Art von Ungenauigkeit, die er überhaupt nicht leiden konnte. Natürlich war das Wetter immer perfekt. Seit Gottes Rückkehr zu den Menschen war jeder Tag ein perfekter, herrlicher Sommertag mit Temperaturen um die 20 bis 30 Grad. Und trotzdem grünte und gedieh die Natur.

    Regnen ließ ER es fast ausschließlich in den Nächten. Einen echten Regentag hatte Tim in seinem Leben vielleicht drei oder vier Mal erlebt. Als er seinen Papa damals gefragt hatte, warum es denn auf einmal regnete, antwortete der mit dem Standardspruch vieler Erwachsenen: »Gottes Wege sind nun mal unergründlich«

    Aber inzwischen ließ sich Tim mit solchen Binsenweisheiten längst nicht mehr abspeisen. In dem Buch, das er immer und überall mit sich herumschleppte, hatte er die genauen Wassermengen nachgeschlagen, die für die Bäume, das Gras und die Büsche in seinem Garten als ideal angegeben wurden. Demgegenüber stellte er die tatsächliche Wassermenge einer durchregneten Nachte - er hatte dafür extra nachts einen großen Messbecher aufgestellt - und kam zu dem Schluss, dass diese Menge hinten und vorne nicht reichen konnte für das viele Grünzeug.

    Also schloss er, dass die seltenen durchregneten Tage wohl irgendwie zum Ausgleich des sonst immer perfekten Wetters gedacht waren.

    Aber es ärgerte ihn, dass das so in seinem Buch nirgendwo auch nur im Ansatz erwähnt wurde. Besonders die Stellen über Gottes Rückkehr und das Paradies waren so schrecklich oberflächlich geschrieben, dass es zum Schreien war. Keine genauen Jahreszahlen, keine konkreten Verweise auf naturwissenschaftliche Fakten…

    »Sag mal«, unterbrach eine Stimme von oben seinen Gedankengang, »Du schmökerst doch wohl nicht schon wieder heimlich in deinem Buch?«

    Michaels Gesicht tauchte mit leicht tadelndem Blick zwischen den Zweigen über ihm auf. »Wir hatten doch gesagt, heute mal keine Schule! Heute mal nur Sonne, schwimmen und chillen!«

    Sie waren zu ihrem Lieblingsplatz bei der uralten Eibe etwas weiter unten am Fluss gegangen. Hier, wo der ruhige Strom zu dem donnernden Wasserfall wurde, hatten sie schon oft gelegen, und sich von dem monotonen Rauschen des fallenden Wassers in sanfte Träume hinübertragen lassen.

    »Ja, ja, schon gut«, nuschelte Tim und klappte das Buch zu. Es gab ein pflatschendes Geräusch von sich und Wasser spritzte aus den Seiten. Zum Glück war das Teil komplett wasserdicht und echt ziemlich stabil, sonst hätte es nicht so lange in Tims Hosentaschen überstanden.

    Im Geschichtsunterricht hatte er gehört, dass Bücher früher viel dicker und unstabiler gewesen waren. Da waren richtig viele Seiten drin gewesen. Aus echtem Papier. Die hätten so ein Bad sicher nicht überstanden und auch nicht mehrfach gefaltet in seine Hosentasche gepasst. Da waren ihm die jetzigen Modelle doch viel lieber. Im Unterricht wurden die Bücher gerne als Beispiel dafür gebracht, wie Gott nach seiner Rückkehr mit der Technologie der Menschen umgegangen war: Unnötiges und Überflüssiges wurde abgeschafft, Gutes und Sinnvolles wurde bis zur Perfektion weiterentwickelt.

    Klang soweit prima und leuchtete Tim auch alles ein. Sein Buch, das ihm alle Literatur der Welt anzeigen und ihm seine vielen naturwissenschaftlichen Fragen beantworten konnte, zählte für ihn definitiv zu den ganz besonders sinnvollen und besonders guten Dingen. Aber trotzdem hätte ihn schon sehr interessiert, was für unnötige und überflüssige Sachen das denn waren, die abgeschafft wurden. Genau darüber schwieg sich das allwissende Buch voller göttlicher Wahrheiten nämlich beharrlich aus.

    Und warum wirklich bei jedem Modell – sowohl bei den ganz kleinen zusammenfaltbaren Hosentaschenbücher als auch bei den großen Varianten für Erstleser – auf der Rückseite ein angebissener Apfel prangen musste, konnte Tim auch niemand so richtig erklären. Ausgerechnet das Zeichen der Erbsünde auf jedem einzelnen Buch? Das musste doch irgendetwas bedeuten!

    Seinen Gedanken nachhängend, lehnte sich Tim auf seinem Ast zurück. Zu schwierige Fragen für so einen schönen Tag. Er blinzelte verschlafen in die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach des uralten Baumes über ihnen fielen. Michael schnitzte etwas weiter oben mit seinem geliebten Taschenmesser an einem kleinen Stück Holz herum. Wenn Tim seinen Kopf leicht hin und her bewegte, konnte er immer wieder neue Muster im Spiel von Licht und Schatten entdecken.

    Ihre T-Shirts trockneten auf den äußeren Ästen in der Sonne und all die Aufregung und Überdrehtheit von vorhin war einem angenehmen schläfrigen Nachmittagsdösen gewichen.

    »Aber der Sprung war echt cool, oder?« bohrte Tim jetzt noch einmal nach. Irgendwie hatte Michael es geschafft, noch immer kein Sterbenswörtchen über seine Meisterleistung zu verlieren.

    »Hmmm?« fragte Michael, voll darauf konzentriert, dem widerspenstigen Ast mit seinem Messer eine Form zu geben, die der aber einfach nicht annehmen wollte. »Was´n für´n Sprung? Au!«.

    Tim hatte ihn von unten in die Seite gestoßen. »Na DER Sprung? Gib's doch endlich zu, das war saucool, mutig und echt heftig!«.

    Michael setzte sich auf und rieb sich die Seite.

    »Mutig…?« Da war sie wieder, die hochgezogene Augenbraue. Mann, der brachte es fertig, ihm die Augenbraue zu geben, während er völlig unbeeindruckt weiterschnitzte. Darf man beim Schnitzen nie machen. Augen immer aufs Messer. Aber für solche Regeln war er wohl auch zu cool. Egal. Diesmal würde Tim sich nicht so leicht geschlagen geben. »Ja. Voll mutig. Das hättest du dich nicht getraut«.

    »Pfff…«, machte Michael und ließ ein paar Späne durch die Luft fliegen. Doch als er sah, wie Tim ihn halb enttäuscht, halb erwartungsvoll anschaute, musste er lächeln. »Naja, ein bisschen cool war's schon, wie du da durch die Luft gesegelt bist«.

    »Mega-cool!«, beharrte Tim, jetzt mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Und super mutig!«.

    Michael richtete sich auf, klappte die Klinge ein und steckte sein Messer in die Hosentasche. Er streckte sich. »Klar… mutig…« murmelte er, während er nach einem höher gelegenen Ast angelte, der weit über den Wasserfall hinausragte. »Dir ist schon klar, dass man hier eigentlich für gar nichts echten Mut braucht, oder? Ich meine, wo doch Gott immer über uns alle 'wacht und uns behütet… '« Er verfiel in einen albernen Singsang »dass du deinen Fuße nicht an einem Steine stoßest…«

    So langsam wurde Tim doch etwas sauer. Michael war sonst immer der Mutige, Coole und nun hatte er sich selbst mal etwas echt Außergewöhnliches getraut und diesem Clown fiel nichts Besseres ein, als ihn mit blöden Bibelversen aufzuziehen?

    »Ach ja? Ich hätte mir schon ordentlich weh tun können. Du bist doch nur eifersüchtig, weil du nicht so viel Mut hast.«

    »Pfff…« machte Michael, richtete sich auf und stand nun auf dem langen Ast. »Mut hab ich mehr als genug. Nur braucht den hier doch niemand. Hier gibt's doch nirgendwo etwas, wovor man sich überhaupt fürchten könnte

    Wie um seinen Punkt zu beweisen, balancierte er den Ast entlang, immer weiter hinaus, bis er schließlich eine Astgabel erreichte, in die er sich mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht hineinfläzte, mehrere Meter über dem rauschenden Wasserfall. Sein absoluter Lieblingsplatz. Und der Platz an den Tim sich noch nie getraut hätte. Er fing wieder an zu schnitzen. Ohne sich festzuhalten, saß er da direkt über dem Wasserfall und schnitzte. Mann, war der cool! Da kam Tim echt nicht mit. Michael wusste das natürlich und genau aus dem Grund hatte er es gemacht. Um Tim zu zeigen, wer hier der Coolste und der Mutigste war. Tim wurde langsam echt sauer.

    »Du Angeber denkst wohl, du wärst der Einzige, der verrückt genug ist, so weit raus zu klettern«

    Michael schaute belustigt zu Tim herunter. Dann sagte er in einer albernen hohen Stimme, die wohl irgendwie besonders 'höfisch' klingen sollte:

    »So hat's der Höchste nun mal eingerichtet auf Erden: Daroben thronet der König und darunten hauset das niedere Volk. Auf dass ein jeder seinen Platze wisse…«

    An jedem anderen Tag wäre Tim nicht auf Michaels Sticheleien eingegangen, hätte so getan, als würde ihn das alles gar nichts angehen. Oder er hätte sich einfach eine Ausrede einfallen lassen, warum er leider gerade jetzt nach Hause müsste. Aber nicht heute. Nicht nach diesem coolen Sprung. Heute war es an der Zeit, Michael zu zeigen, dass er nicht mehr 'der Kleine' war, sondern mindestens genau so cool, stark und mutig wie er.

    Mit einem geschickten Schwung hangelte er sich auf den höheren Ast und balancierte ebenfalls in Richtung der Astgabel.

    »Ich wette mit dir um dein oberheiliges Schnitzmesser, dass ich mich das auch traue!«, sagte er entschlossen.

    »Äh, nein?«, hörte er aus Michaels Richtung. »Erstens ist das ´ne echt blöde Idee, du bist locker noch zehn Zentimeter zu kurz, um an die richtigen Äste ranzukommen und zweitens: nein. Mein Messer kriegst du nicht mal dann, wenn du einhändig den Elfenbeinturm hochklettern würdest.«

    Er hielt Tim das zugeklappte Schnitzmesser entgegen, so dass der das von Michael persönlich eingeritzte große 'M' erkennen konnte.

    »Da steht 'M' drauf. 'M' wie Michael. Und 'M' wie meins. Das ist meins und das bleibt auch meins und du kannst es mir mit so ´ner albernen Wette nicht abnehmen. Also lass den Mist, Kleiner.«

    Doch Tim hörte ihn kaum. Er konzentrierte sich ganz auf den Ast unter sich. Der war breit und stabil genug, um darauf bequem zu laufen. Kein Problem. Solange man nicht am Ast vorbei in die tosende Gischt darunter blickte. Schritt für Schritt tastete er sich vor.

    Als er es einmal wagte, seinen Blick vom Ast zu lösen und hochzuschauen, sah er, wie Michaels kritischer Blick langsam von einem erstaunten Gesichtsausdruck und schließlich von einem anerkennenden Nicken abgelöst wurde. Er sah wieder nach unten auf den Ast. Nur noch einen Meter, dann könnte er sich wie Michael in die Astgabel setzen und sich als der coolste Junge der Welt fühlen. Aber jetzt kam erst noch die Stelle, wo er über sich keine Zweige mehr zum Festhalten hatte. Michael hatte echt recht gehabt, die waren alle weit außerhalb seiner Reichweite. Er würde so das letzte Stück komplett freihändig balancieren müssen. Hatte Michael auch schon mal gemacht. Einfach nur so zum Angeben. Da hatte das total easy ausgesehen.

    »Hey Mann. Lass mal lieber. Das ist ganz schön wackelig hier. Und so toll ist die Aussicht nun auch wieder nicht«. Michaels Stimme klang mit einem Mal echt besorgt. Aber jetzt umkehren? Wo er so weit gekommen war? Auf keinen Fall. Ein Schritt vorwärts, die Arme ausbreiten, gut auf das Gleichgewicht achten. Der Ast ist breit genug, ich brauche keine Angst zu haben. Ich schaffe das. Hatte er das eben laut gesagt oder nur gedacht? Egal. Ein Blick nach vorne zu Michael, der jetzt viel zu besorgt dreinschaute. Er hielt die Hand ausgestreckt. Noch ein Schritt und Tim konnte sie ergreifen. Geschafft! Er hörte wie Michael die angehaltene Luft ausstieß.

    »Mann! Was machst du denn für Sachen! Ich hatte da zwischendurch echt ein bisschen Sorgen um dich. Als du in der Mitte warst hat der Ast total gewackelt.«

    »Ist doch ´n Klacks für mich. Was du kannst, kann ich schon lange.«

    Tim gab wieder den Mutigen, aber das Zittern in seiner Stimme konnte er nicht wirklich verstecken. Und Michaels Hand ließ er auch nicht los.

    »Mein Messer kriegst du trotzdem nicht, nur dass das klar ist.« Jetzt aber legte sich endlich wieder das vertraute Grinsen auf Michaels Gesicht.

    »Aber wo du jetzt schon mal da bist: Willkommen in meinem Reich. Das hier ist mein Platz, und den geb´ ich genauso wenig ab wie mein Messer. Aber da drüben ist auch noch ´ne nette kleine Astgabel, da kannst du dich ja…«

    Doch das Ende des Satzes sollte Tim nie hören, weil sich die Welt um ihn herum mit einem Mal schräg neigte und sein linker Fuß plötzlich in der Luft hing. Irgendwie musste er auf einer moosigen Stelle weggerutscht sein und nun geriet er völlig aus dem Gleichgewicht.

    Während sein linker Fuß im Freien baumelte, glitt sein rechtes Bein an der anderen Seite des Astes herab, bis er nur noch an der Kniekehle um den Ast hing. Sein Oberkörper folgte dem linken Bein und wie in Zeitlupe sah er den Wasserfall unter sich näherkommen. Mit dem rechten Bein alleine konnte er sich nicht halten, so dass Michaels Hand alles war, was ihm noch vor dem Sturz in die Tiefe bewahrte.

    Er sah die Muskeln an Michaels Arm, sah, wie er sich abmühte, Tim wieder hochziehen, oder ihn zumindest nicht weiter abrutschen zu lassen. Aber er sah auch, wie ihre Hände Stück für Stück, Millimeter für Millimeter immer weiter auseinander glitten.

    Tim wusste, dass all die viele Kraft, die Michael in sich trug, nicht reichen würde, um ihn zu retten. Er hatte einfach keinen guten Griff, um ihn zu halten. Tim versuchte mit seiner freien Hand nach Michaels Arm zu greifen, sich selbst wieder hochzuziehen, doch sein Hin- und Hergerudere führte nur dazu, dass Michael seinen stabilen Stand verlor und nun halb auf dem Ast kniend selbst nur noch weniger Halt hatte.

    Tim sah nach unten in das tosende Wasser, sah die Felsen, die am Grunde des Wasserfalls die Gischt aufwirbelten, fühlte, wie sich seine Hand von Michaels löste und erkannte mit erstaunlicher Klarheit, dass er hier und heute, an diesem perfekten sonnigen Tag in Gottes Paradies sterben könnte. Die Erkenntnis sollte ihn eigentlich vor Schrecken lähmen, aber sein Verstand arbeitete weiter kühl und sachlich und analysierte erbarmungslos seine Situation.

    Den Sturz an sich könnte er vermutlich noch mit einigen gebrochenen Knochen überstehen. So riesig war der große Wasserfall nun auch wieder nicht. Aber da unten erwartete ihn ja leider kein schöner großer See, in den er mit elegantem Kopfsprung eintauchen konnte, sondern viele große und unangenehm harte Felsbrocken. Die Chancen, das lebend zu überstehen waren gleich Null.

    Tims Finger wurden immer rutschiger und Michaels Hand entglitt ihm immer mehr. Panik breitete sich in ihm aus. Sein Herz raste, doch sein Verstand suchte noch immer methodisch nach Auswegen aus dieser ausweglosen Situation. Mit einem Ruck glitt seine Hand ein ganzes Stück weiter aus Michaels Halt, so dass nur noch ihre Fingerspitzen ineinander verhakt waren. Jetzt würde ihn nur noch ein Wunder retten können.

    Seine Augen weiteten sich. Wieso hatte er daran nicht schon längst gedacht? Hoffentlich war es jetzt nicht schon zu spät. Er zwang sich, die aufsteigende Panik zu bezwingen, einen ruhigen Atemzug zu machen. Seine Augen suchten die seines Freundes und er versuchte, seinen Blick festzuhalten. Es hing jetzt alles davon ab, dass Michael sofort verstand. Er öffnete seinen Mund, um Michael etwas zuzurufen, doch seine Worte kamen nur als heiseres Flüstern:

    »Bete für mich!«

    Michael blickte zunächst verwirrt, als hätte er nicht verstanden, doch dann nickte er. Er schluckte und als seine Finger sich endgültig von Tims lösten, faltete er sie zum Gebet.

    »Herr Gott, erhöre mich! Rette uns aus der Not!«.

    Tim begann in die Tiefe zu stürzen und hörte noch, wie Michael schrie

    »Rette meinen Freund!«

    Der Sturz dauerte genau zwei Sekunden, doch Tim hätte schwören können, dass er minutenlang fiel. Er hatte genügend Zeit, darüber nachzudenken, ob Michael jetzt eigentlich wirklich recht gehabt hatte. Im Anbetracht seiner aktuellen Lage gab es ja wohl doch etwas, wovor man sich in Gottes Paradies fürchten konnte. Jedenfalls wäre ein wenig mehr Furcht vor dem Abstürzen in seinem Fall echt hilfreich gewesen.

    Aber andererseits fühlte er auch jetzt im Angesicht des sicheren Todes keine Angst. Sterben hatte zwar definitiv für heute nicht auf seiner To-Do-Liste gestanden, aber wenn es denn nun wirklich passieren sollte, wäre es jetzt auch nichts so furchtbar Schreckliches.

    Gott würde ihn im Himmel willkommen heißen, ihn vermutlich auf seine großväterliche Art ein wenig in die Seite knuffen und sowas Witziges sagen wie »Na, wolltest wohl ´nen besonders coolen Köpper hinlegen, was?«, und sie würden über die ganze Sache lachen.

    Klar, Mama und Papa wären traurig, aber sie könnten ihn da drüben ja besuchen. In den Wochen nach Opas Tod war Tim selbst ganz oft durch eins der Tore gegangen, um noch einmal mit ihm zu reden. Manchmal hatten sie auch stundenlang einfach schweigend nebeneinandergesessen und an einem ruhigen See in der Abenddämmerung geangelt. Opa wirkte völlig glücklich und zufrieden. Das Leben nach dem Tod schien ihm sehr zu gefallen. Kein Grund zur Sorge also.

    All dies ging ihm durch den Kopf und eigentlich sollte ihn die Erkenntnis, dass es überhaupt keinen Anlass zur Panik gab, beruhigen. Sein Körper aber schien dieser Argumentation kein bisschen folgen zu wollen und schüttete so viel Adrenalin aus, dass die Welt sich für Tim fast wie im Zeitlupentempo bewegte.

    Ganz langsam sah er die Kante des Wasserfalls an sich vorbeiziehen, erkannte in der sprühenden Gischt noch kleine kreisrunde Regenbögen, die mal hier, mal dort auftauchten, dann war er schon eingehüllt von schäumendem Weiß. Er wartete auf die Schmerzen und hatte noch genügend Zeit, sich zu fragen, ob er schon während des Sturzes oder erst am Grunde des Wasserfalls auf Felsen aufschlagen würde.

    Doch der Schmerz kam nicht. Stattdessen fühlte er einen sanften Ruck und spürte warme, weiche Arme, die ihn hielten. Er sah nach oben in das Gesicht eines Engels.

    «Du schon wieder?«, fragte Gabriel mit einem gütigen Lächeln.

    »Ich schon wieder«, nuschelte Tim und dann verlor er das Bewusstsein.

    Kapitel 2: Zu Gast

    Bleibe bei uns;

    denn es will Abend werden,

    und der Tag hat sich geneigt Lukas 24:29

    Markus hörte, wie seine Frau zum dritten Mal nach den Kindern rief. Das Essen war inzwischen fertig, der Tisch gedeckt und Martha entsprechend sauer, dass mal wieder keiner der beiden Jungs dabei geholfen hatte. Ihr war das immer sehr wichtig. Es war eine Art Ritual, dass Tim beim Vorbereiten der Mahlzeiten mithalf und wenn er sich seinen Freund zum Übernachten eingeladen hatte, galt für den natürlich das Gleiche. Teller und Besteck auf den Tisch stellen, Saftkrug befüllen, vielleicht noch eine Kerze anzünden - das sollte auch für zwei pubertierende Jungs noch möglich sein. Aber heute schienen sie mal wieder die Zeit vergessen zu haben. Vermutlich würde Markus sich also gleich aufs Rad schwingen und nach den Bengeln suchen dürfen.

    Also schnell noch einmal die kritische Stelle anhören. Er wischte auf der aufgeschlagenen Buchseite einmal nach links, bis er den Anfang der Phrase fand. Ein kurzes Tippen auf das zweite Notensystem und schon erfüllten Orchesterklänge sein kleines Arbeitszimmer. Nein, an den Geigen lag es definitiv nicht. Die gingen schön sanft in absteigenden Ganztönen auf die Tonika zu. Er probierte es mit dem Klavier und fügte mit ein paar Gesten seiner linken Hand an verschiedenen Stellen ein paar Töne hinzu.

    Inzwischen war er darin schon ziemlich gut und das Buch interpretierte seine Bewegungen meistens genau richtig. Trotzdem kam es ihm seltsam und künstlich vor, die Musik auf diese Art aufzuschreiben. Lieber saß er an seinem Flügel und spielte einfach drauf los, während das Buch brav jede Nuance seines Spiels fein säuberlich in Noten wiedergab.

    Aber heute war dafür ja leider keine Zeit. Also nur Feinkorrekturen per Gesteneingabe. Das Ergebnis machte ihn trotzdem zufrieden. Er schaute auf die Partitur. Jetzt sollten sich Geige, Cello und Klavier am Schluss auf der Mollparallele treffen. Viel besser. Wirkte interessanter, machte aber auch den Übergang komplizierter. Vielleicht sollte er doch noch eine ganz zarte Klarinette…

    »Markus? Könntest du bitte mal schauen, was jetzt mit den Jungs ist? Das Essen steht auf dem Tisch und ich esse gleich alleine, wenn ihr alle nicht kommt!«

    An ihrer Stimme konnte er erkennen, dass jetzt wirklich keine Zeit mehr für die zusätzliche Klarinette blieb. Mit einem »Klar Schatz!« klappte er das Buch zu und warf es achtlos auf den schon überquellenden Schreibtisch wo es zwischen Saxofon und Akkordeon zum Liegen kam. Da musste er echt mal aufräumen, wenn irgendwann mal Zeit war. War aber grad nicht. Jetzt war erstmal Kindereinfangen dran.

    Er war schon durch die Tür und auf halben Weg durch den Garten zu seinem Rad, als er die große Gestalt mit dem vertrauten Lächeln im Gesicht sah, die an der Gartenpforte stand.

    Und seinen Sohn in den Armen hielt.

    »Gabriel« rief er, doch da hatte seine Frau sich schon an ihm vorbei gedrängt und schloss Tim in ihre Arme.

    »Was ist denn passiert? Bist du verletzt? Wo warst du?« sprudelte es aus ihr heraus.

    Tim, der gerade erst wieder die Augen geöffnet hatte, blickte sie zunächst verwirrt an. »Mama«, sagte er leise, und schlang seine Arme um sie.

    »Alles ist gut«, hörten sie Gabriel, der an der Gartenpforte stehen geblieben war. »Ihm fehlt nichts. Gott liebt alle seine Schäfchen und immer hält er seine schützende Hand über sie.«

    Etwas nachdenklich setzte er hinzu »Aber vielleicht sollten diese beiden Schäfchen in Zukunft nicht mehr unbedingt direkt beim Wasserfall spielen.«

    Sofort durchbohrten Marthas Blicke Michael, der hinter Gabriel ungewöhnlich still und mit gesenktem Kopf hergetrottet war.

    »Michael Alexander Simons! Was habt ihr beiden schon wieder …«

    »Schatz«, schaltete sich Markus ein, dem das Ganze ein wenig unangenehm war und der vor einem Engel des Herrn jeden Streit vermeiden wollte. »Es ist doch alles gut gegangen. Sicher hat Michael gut auf unseren Tim aufgepasst«.

    ''Oh ja, das hat er wirklich«, schaltete sich Gabriel in versöhnlichem Ton ein. »Beim Versuch ihn vor dem Sturz in den Wasserfall zu bewahren hat er sogar…«

    »Sturz in den Wasserfall?!«, fuhr ihm Martha dazwischen. »Mein Kind ist in den großen Wasserfall gestürzt und ich soll mir keine Sorgen machen?«

    »Mir geht es wirklich gut, Mama«, nuschelte Tim in ihrem Arm, aber es klang selbst für ihn nicht so richtig überzeugend.

    Markus fühlte, dass die Situation kurz davor war zu eskalieren. Er war nicht sicher, ob es eine Sünde war, vor einem Engel des Herrn zu fluchen, wollte es aber ungern herausfinden. Und dass seine sonst so liebe, sanfte und verständnisvolle Frau kurz davor war, zu explodieren, spürte er mit jeder Faser seines Körpers.

    »Ich finde«, sagte er daher mit etwas zu lauter Stimme, »dass wir dem Herrn danken sollten, dass er uns vor großem Unglück bewahrt hat. Und statt jetzt weiter nach dem Wie oder Warum zu fragen, sollten wir uns lieber an dem erfreuen, was er uns geschenkt hat.«

    Zu dick aufgetragen? Ausreichend besänftigend, um die Kernschmelze seiner Frau verhindern zu können? Plötzlich hatte Markus eine Idee, wie er die Situation weiter entschärfen könnte.

    »Lieber Gabriel«, sagte er, »meine Frau hat einen köstlichen Braten zubereitet und wo vier satt werden, ist auch sicher noch genug für einen Fünften. Bitte sei doch unser Gast.«

    Martha warf ihm einen eisigen Blick zu, machte auf dem Absatz kehrt und ging ohne ein weiteres Wort zurück ins Haus, den Kopf eng an den von Tim geschmiegt. Naja. War doch eigentlich noch halbwegs gut gegangen. Mit einem halb schiefen 'Was-soll-man-machen' Grinsen und einer einladenden Geste wandte sich nun auch Markus dem Haus zu. Michael und Gabriel folgten ihm.

    Das erdrückende Schweigen, als sie sich alle an den gedeckten Tisch setzen, war für Tim kaum erträglich. Für gewöhnlich waren ihre gemeinsamen Mahlzeiten fröhliche, quirlige Treffen, bei denen jeder von ihnen von seinem Tag berichtete, wo sie scherzten, lachten und ihre Freude am Leben miteinander teilten.

    Papa hatte immer spannende Geschichten von seinen Konzerten in New York oder Tokio zum Besten zu geben und Mama erzählte gern den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Dorf, wobei sie jeden einzelnen Dorfbewohner so treffend und doch übertrieben nachmachte, dass Tim und Papa vor Lachen oft kaum zum Essen kamen.

    Dann musste Papa sie alle mit einem '…uuuund Haps!' ans Essen erinnern. Das hatte er schon gemacht, als Tim noch ein klitzekleiner Knirps war und irgendwie war es dann zum festen Ritual geworden. Papa sagte 'Haps!' und alle steckten sich umgehend eine Portion Essen in den Mund um dann mit großen Gesten und viel Getöne bei geschlossenem Mund auf die anderen einzu'reden', bis alle in lautes Gelächter ausbrachen.

    Aber heute Abend war es still am Abendbrottisch. Viel zu still. Tim fand das schade, denn gerade auf dieses Essen hatte er sich doch so gefreut. Weil Michael heute bei ihnen übernachten durfte, gab es heute nicht nur Brot und Käse, sondern einen köstlich duftenden Braten mit Klößen und Pilzsoße. Mama hatte den halben Nachmittag mit der Zubereitung verbracht und es duftete herrlich. Aber statt fröhlicher Vorfreude auf das leckere Essen herrschte jetzt unangenehmes Schweigen. Tim wollte, dass alles wieder wie immer war, wollte die schrecklichen Sekunden am Wasserfall einfach wegwischen.

    In der unangenehmen Stille sog er übertrieben laut die Luft ein und sagte: »Hmm, wie lecker das riecht, Mama!«

    Dann sprach er das Tischgebet: »Lieber Gott, wir danken dir für die Speisen auf unseren Tellern, für den Trank in unserem Glas und für die wunderbare Welt, die du uns Menschen geschenkt hast«.

    »Gern geschehen«, antwortete die Stimme Gottes, die wie immer tief, warm und voller Güte klang. Sie schien von überall zugleich zu kommen.

    »Aber ich schenke euch doch nur die Zutaten. Für die köstliche Zubereitung gebührt allein deiner lieben Mutter der Dank.«

    Mama schaffte es nur mit großer Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken und als Tim sie mit seinem patentierten Dackelblick von unten ansah und »Danke, liebe Mama«, hauchte, begann ihre eiserne Miene zu schmelzen.

    »Hey… Ich hab zwei Zwiebeln geschnitten!« sagte Papa. »Kein Gotteslob für mich?« Und dann mussten sie doch noch alle lachen.

    Alle bis auf Michael.

    Auch den restlichen Abend über blieb Michael schweigsam, aß wenig und schaffte es komplett, die Blicke und die Tritte unter dem Tisch zu ignorieren mit denen Tim versuchte, seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Das Gespräch hatte sich inzwischen in eine Richtung entwickelt, die Tim gar nicht gefiel.

    »…Und wisst ihr noch, wie Gabriel einmal den gesamten steilen Berg hinter seinem Dreirad hergerannt ist und ihn erst ganz knapp vor der Mauer

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