Mein Glück, das ihr vergeudet: Erzählungen
Von Thomas Christen
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Über dieses E-Book
(Friedrich von Schiller)
Ein Ire, der vor der Hungersnot flieht und damit das erste
Kapitel einer berühmten Geschichte schreibt.
Ein alter Herr, der versucht sich in seinem vom Sturm verwüsteten
Garten an den Namen seiner Frau zu erinnern.
Die mystische Reise eines Mannes, die ihn zu einem Turm am
Meer führt, an dessen Tor unentwegt das Gestern anklopft.
Ein Obdachloser, der mit seinem Hund durch Paris zieht.
Ein junger Inuit, der an einem Morgen des heraufziehenden
Polarsommers über sein Leben nachdenkt.
Ein Mann, der in einem verlassenen Dorf des rheinischen
Braunkohlegebietes eine unerwartete Bekanntschaft macht.
Eine Krankenschwester, die in einer Wiener Nervenheilanstalt
von der Vergangenheit heimgesucht wird.
Thomas Christen
Thomas Christen lebt in Düsseldorf und studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Soziologie an der Universität Trier sowie später Agrarwissenschaften an der Universität Bonn. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit in einer Heidelberger Klassikproduktion gründete er im Jahr 2000 das audio-visuelle Konzeptlabel tomtone music. Er schrieb über zwanzig Jahre lang Texte für Künstler wie Udo Jürgens, Milva, Veronika Fischer oder das Bremer Ensemble Mellow Melange und verfasste zwei Drehbücher für Music-Features im Auftrag des ZDF. Thomas Christen ist Mitglied im Verband Deutscher Schriftsteller (VS/ in ver.di). Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Im Jahr 2012 wurde sein Debutroman "Der Abend vor der Nacht" im secession Verlag Zürich/Berlin veröffentlicht. 2015 veröffentlichte der Hamburger Acabus Verlag den Generationenroman "Die Abendgesellschaft der Quartiersleute". Im Frühjahr 2018 erscheint bei bookshouse der Roman "Das Schweigen der Rohrsänger", eine authentische Geschichte über die Flucht zweier Frauen aus Afghanistan im Jahr 2014.
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Buchvorschau
Mein Glück, das ihr vergeudet - Thomas Christen
Mein Glück, das ihr vergeudet
Titelseite
Thomas Christen
Mein Glück, das ihr vergeudet
Erzählungen
Inhalt
Mein Glück, das ihr vergeudet
Die Windmühle
Die Steine Babylons
Frère Jacques
Nanouk
Ach, warum weinst du, Nachtigall?
Pavillion 15
Über den Autor
Impressum
Thomas Christen
Mein Glück, das ihr vergeudet
Erzählungen
Inhalt
1. Mein Glück, das ihr vergeudet
2. Die Windmühle
3. Die Steine Babylons
4. Frère Jacques
5. Nanouk
6. Ach, warum weinst du, Nachtigall?
7. Pavillion 15
Über den Autor
Mein Glück, das ihr vergeudet
Work without hope draws nectar in a sieve,
and hope without an object cannot live.
Samuel Taylor Coleridge (1825)
1841
Mittlerweile schlug ihm das Wetter aufs Gemüt. Seit fast drei Wochen hatten sie nicht ein einziges Mal die Sonne gesehen. Es hatte in Strömen geregnet, als die Jefferson Mitte April in Boston abgelegt hatte. Vier Tage später waren sie in einen Sturm geraten, der selbst jemanden wie ihn befürchten ließ, das Ende der Welt sei angebrochen, lasse den Himmel einstürzen, um sie der unermesslichen Dunkelheit der eiskalten Tiefe unter den Planken zu übergeben. Und jetzt, hier, auf den Häusern und den schwarzen, sich zu Boden duckenden Dächern der Stadt und den endlosen, graugrünen Hügeln, die angeblich hinter der Stadtmauer lagen, schwebte ein Nebel, dessen Nässe man nicht sah, aber die man sofort auf der Haut spürte, wenn man nur für Sekunden das Gesicht zum Himmel hob. Er hatte die Hügel noch nie gesehen. Er hatte sich jedes Mal nie weiter als einen Steinwurf vom Schiff entfernt. Ein Gang über den Kai, ein, zwei Nächte in seiner Kajüte, an den Abenden ein Besuch in einem der nächstgelegenen Pubs, das ölige Bier, das nach Kaffee und Lakritz schmeckte und ansonsten – warten. Warten darauf, dass sie wieder ablegen würden. Diese Insel galt als der Geburtsort der Farbe Grün. Nichts, was er sah, entsprach auch nur im Geringsten dieser Annahme. Waterford. Irland. Dieser von ewiger Feuchtigkeit durchtränkte Außenposten Europas war ihm ein Gräuel. Es war seine dritte Fahrt in zwei Jahren und wie die beiden ersten Male hatte seine Sehnsucht nach der Heimat hier, auf der anderen Seite des Ozeans, ihren schmerzenden Höhepunkt erreicht.
Er legte eine Hand auf das nasse Holz der Reling und beobachtete gedankenverloren wie der ächzende Kran eine weitere Fuhre mit verschnürten Säcken und Kisten über den Spalt zwischen Wasser und Kaimauer hob. Seile knarrten und gebrüllte Anweisungen flogen wie aufgescheuchte Vögel durch die Luft. Einer der jungen Maate stand auf den Stufen zum hinteren Deck und rief einer Gruppe von jungen Frauen auf dem Kai etwas zu, für das er sich eigentlich sofort eine Rüge hätte einhandeln müssen. Aber James Bennett, der Proviantmeister der Jefferson , wischte sich nur geistesabwesend die feuchte Hand am Rock ab und versank wieder in der Melancholie seiner Gedanken. Es war nicht seine Aufgabe, das brodelnde Blut dieser jungen Männer durch den Hinweis auf Anstandsregeln abzukühlen.
Der Gedanke schwebte an die Oberfläche wie eine Luftblase in brackigem Wasser. Auf der Überfahrt hatte die Arbeit alles andere verdrängt. Aber jetzt musste er wieder daran denken. Er konnte es immer noch nicht glauben. Niemand hatte es glauben können. William Henry Harrison war am 4. April gestorben. Ganze vier Wochen war er ihr Präsident gewesen. Einen kurzen Monat lang. Und dann war er den Folgen einer Lungenentzündung erlegen, die er sich in der Eiseskälte am Tag seiner Antrittsrede zugezogen hatte. Keiner der acht Präsidenten vor ihm hatte eine so lange Rede gehalten. James Bennett hatte es in der Zeitung gelesen. Die wichtigen Blätter hatten damals die gesamte Rede abgedruckt.
... Liebe Mitbürger, ich verabschiede mich heute auf das Allerherzlichste von ihnen. Tragen sie die Erinnerung an mein heutiges Versprechen mit sich nach Hause, dass ich mich den hohen Pflichten meines Amtes nach besten Kräften widmen und mich dieser Umsetzung mit größter Zuversicht zuwenden werde, im Kampf um das Recht und der ständigen Unterstützung meines großherzigen Volkes ¹ ...
Er versuchte sich zu erinnern. So oder so ähnlich hatte der Präsident seine Rede beendet. Und jetzt war er tot.
Das Brett mit Säcken und Kisten taumelte fünf Armlängen, an den Seilen stöhnend, über dem Kopf des Maats in der Luft hin und her. Sie würden die Saatkartoffeln und die Baumwolle gegen Wolle und Bleiglas eintauschen. Und Kisten voller von Holzspänen umhüllter gläserner Fläschchen, Vasen und Schalen, Glaspreziosen, die seit einigen Jahren die Nachttische und Kaminsimse seiner begüterten Mitbürger jenseits des Atlantiks zierten. Waterford Crystal. Sie würden auf der Fahrt zurück in die Heimat einen Umweg von gut zweihundert Meilen machen und säckeweise Getreide und Fässer mit gepökeltem Fleisch in Liverpool abladen. Ware, die sie morgen im Laufe des Vormittags einladen würden. Und dann. Dann, endlich, würde der Kapitän den Bug der Jefferson irgendwann nach Westen richten und sie würden Kurs auf die Heimat nehmen.
Sein Arm schnellte im selben Moment nach oben wie sein Mund den Schrei ausstieß.
„Browning ...!"
Der Maat schaute erschrocken herüber und sein Blick folgte eine Sekunde später unwillkürlich dem Weg, den die Hand des Proviantmeisters wies. Ein Herzschlag und dann machte er einen panischen Satz und sprang von der Treppe. Einer der äußeren Säcke hatte sich aus den Seilen gelöst, war dabei träge über den Rand des Bretts zu rutschten und drohte jeden Moment auf das Deck zu fallen. Als der Maat sich an der Reling umdrehte, schlug der Sack auf den Planken auf, zerplatzte wie eine Schweinsblase voll Wasser und eine Flut von Kartoffeln ergoss sich mitschiffs, in alle Richtungen kollernd. Der Maat blickte dankbar zu Bennett herüber und legte die Hand an die Schläfe.
„Danke, Sir. Vielen Dank!"
James Bennett fuchtelte mit den Armen durch die Luft, schüttelte den Kopf und zeigte dann auf die herumliegenden Kartoffeln.
„Besorgen Sie sich unter Deck einen neuen Sack. Und dann räumen Sie den Schlamassel fort. Bringen Sie den Sack auf den Kai. Und halten Sie sich gefälligst von den Frauen fern, verstanden!"
„Aye, aye, Sir." Der Maat grinste schief und verschwand in einer Luke.
James Bennett hob die Kartoffel auf, die bis vor seine Füße gerollt war und starrte auf die porige, dunkelbraune Schale. Seine Söhne verabscheuten sie. Seine Frau brachte sie dennoch manchmal auf den Tisch. Er selber fand sie – er hätte es nicht sagen können. Jenseits des Horizonts, dort draußen, so wusste er, ernährte sie eine ganze Nation.
Wäre James Bennett ein Mensch gewesen, der die Gabe der Vorsehung besessen hätte, vielleicht .... Aber diese Gabe gehört seit jeher in die Welt der Mythen. Es wäre ihm in diesem Moment des Jahres 1841 vergönnt gewesen Geschichte zu schreiben, Millionen von