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Seeraum: Ein schottisches Inselleben
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Seeraum: Ein schottisches Inselleben
eBook533 Seiten7 Stunden

Seeraum: Ein schottisches Inselleben

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Über dieses E-Book

An seinem einundzwanzigsten Geburtstag erhält Adam Nicolson von seinem Vater, dem Sohn von Vita Sackville-West und Sir Harold Nicolson, eine kleine schottische Inselgruppe: die Shiants. Gelegen an den äußeren Hebriden fallen ihre steilen schwarzen Klippen fünfhundert Meter tief in den kalten, nach mystischen, halb menschlichen Kreaturen benannten »Strom der Blauen Männer«. Robben tummeln sich an ihren Ufern. Hummer suchen sich ihren Weg durch Steine und Tang. Und am Himmel drehen Tausende von Papageientauchern ihre Runden. Auf diesen Inseln mit ihrer jahrhundertealten Vergangenheit, die von ruhelosen Geistern und Geschichten über alte Schätze heimgesucht werden, bietet sich Nicolson ein Ort der Zuflucht und der Einsamkeit. Sie werden ihm zur Heimat und offenbaren ihm »das Freiheitsgefühl, das einen auf einer wasserumtosten Insel durchflutet«. In leidenschaftlicher, zum Funkeln gebrachter Sprache zelebriert Seeraum die Landschaft dieses windgepeitschten, bezaubernd schönen Anwesens und teilt mit uns die Wunder der natürlichen Welt in all ihren Facetten und Paradoxien.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Apr. 2024
ISBN9783751800839
Seeraum: Ein schottisches Inselleben
Autor

Adam Nicolson

Adam Nicolson, 1957 in Bransgore, UK, geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter Autor zahlreicher Bücher über Geschichte, Natur und Landschaft. Er ist Preisträger des Ondaatje Prize der Royal Society of Literature, des Somerset Maugham Award, des British Topography Prize und des renommierten Wainwright Prize for Nature Writing.

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    Buchvorschau

    Seeraum - Adam Nicolson

    KAPITEL 1

    In den vergangenen zwanzig Jahren gehörten mir ein paar Inseln. Sie heißen Shiants: eine unzweideutige, sanft gerundete Silbe, »the Shant Isles«, wie ein um das y beraubtes Shanty. Für die Welt im Allgemeinen sind sie keine große Sache. Auf einer Karte von den Hebriden würde schon die Kuppe eines kleinen Fingers reichen, um sie zu verdecken, und wenn ihre zweihundertzwanzig Hektar Gras und Felsen als ein unscheinbares Stück Moor mit ein paar weidenden Schafen in der Tiefe des schottischen Festlands begraben wären, hätte ihnen wohl kaum jemand auch nur die geringste Beachtung geschenkt. Doch die Shiants sind ganz anders. Keineswegs sind sie klein und unbedeutend. Etwa sieben Kilometer vor der Küste von Lewis ragen sie hoch und unübersehbar auf, umgeben von den in der Meerenge des Minch herrschenden Rippströmen. Ihre schwarzen, hundertfünfzig Meter hohen Klippen fallen ab in eine kalte, minzgrüne See, Robben faulenzen an ihren Ufern, Hummer suchen sich ihren Weg durch Steine und Tang und über den Felsen drehen Tausende und Abertausende Seevögel ihre Runden.

    Im Sommer steht das Gras auf den Anhöhen über den Klippen voller Blumen: Moorlilie und Zarter Gauchheil, vielblütige Orchideen, die Sterne von Dilledapp und Kreuzblume. »Großen Überfluss von Wachstum darf man in dergleichen Himmelsstrichen nicht erwarten«, schrieb Dr. Johnson, doch dieser Mikrokosmos der Hebridenflora, deren Gelb- und Dunkelvioletttöne stets nur ein paar Zentimeter über die Grasnarbe hervortreten, ist ein großer und kaum beachteter Schatz. Ich denke daran, wenn ich, zurück in England, über teure Perserteppiche gehe – die gleichen Tupfer dichter, unaufdringlicher Farbe, das gleiche Verhältnis von Untergrund und Verzierung – das plötzliche Aufscheinen der Hebriden in den Räumen eines wohlhabenden Menschen. Es ist ein privates Signal für mich, ein vom Boden kommendes Piepsen, das durch das Geraune aus Unterhaltungen und dargebotenen Getränken zwinkert: Denk an mich. Es gab Zeiten in den vergangenen zwei Jahrzehnten, da diese Inseln zum Wichtigsten in meinem Leben gehörten. Sie sind mir eine Art Heimat geworden, ein Ort, an den ich immer wieder zurückkehre. Vor über sechzig Jahren hatte sie mein Vater für 1.400 Pfund erworben. Als ich einundzwanzig wurde, übergab er sie an mich, und ich werde sie meinem Sohn übergeben, wenn er, in vier Jahren, einundzwanzig Jahre alt wird. Nicht dass dies, wie Zyniker manchmal behaupten, aus Steuergründen geschehen würde. Die Shiants haben mit Geld so gut wie nichts zu tun, jedenfalls waren sie eine katastrophale Investition. Seinerzeit hätte mein Vater für die gleiche Summe ein jakobinisches Herrenhaus in Sussex oder in Cambridgeshire eine Farm mit achtzig Hektar besten Ackerlandes kaufen können. Beides wäre inzwischen eine Million Pfund wert, wenn nicht mehr. Bei einem Verkauf der Shiants würde ich mir heute vielleicht eine Zweizimmerwohnung in Fulham leisten können.

    Es ging also nie um finanziellen Reichtum. Mein Vater kaufte die Inseln und gab sie später an mich weiter, weil er als noch junger Mann das Gefühl hatte, sich durch den Besitz eines solchen Orts weiterentwickeln zu können. Er hoffte, sich durch das Erlebnis, dort allein mit seinen Freunden zu weilen, durch die Verbundenheit mit einer Natur, die so schlicht und schnörkellos ist, mit einer Landschaft und einer See, die so großartig sind, dass sie eine Flucht in eine anscheinend andere Dimension erlauben, neue Anreize zu verschaffen. Es war wie ein Aufbruch von Zuhause, ein Schritt in eine andere Welt. Als er 1937 zum ersten Mal die Inseln aufsuchte, beschrieb der damals einundzwanzig Jahre alte Student am Balliol-College dies etwas launig und sprunghaft in einem Brief an seinen Bruder Ben:

    Am nächsten Morgen wache ich auf und sehe die Sonne in einem Himmel, so rein wie eine bayerische Jungfrau. … Ich liege gewöhnlich den ganzen Morgen ohne Kleider auf einem Felsen hoch über dem Meer, lese und kommentiere Hegel. Nachmittags laufe ich barfuß eine Meile über die Heide an den Rand des nördlichen Kliffs, wo ich mich hinwerfe, um zu lesen, zu schreiben oder auf das Meer zu blicken und über das Leben oder über den Himmel als solchen nachzudenken. Der Blick von dort oben ist so beschaffen, dass es wohl nur Griechenland mit ihm aufnehmen könnte.

    Und dann, etwas betreten, torpedierte er das Ganze: »Ich fürchte, man wird unter diesen Umständen ziemlich Golden Bough.¹«

    Trotz allen Blendwerks, die Erfahrung war echt, und vierzig Jahre später wollte er, so denke ich, diese Erfahrung der Größe an mich weitergeben: den wunderbaren Seeraum, das Freiheitsgefühl, das einen auf einer wasserumtosten Insel durchflutet. Das Geschenk war das folgende: die nun überall und jederzeit aufzurufende Empfindung, in der sauberen, über den Atlantik strömenden Luft zu stehen, allein auf diesen Inseln, die die letzten Einwohner vor mehr als hundert Jahren verlassen hatten. Ich habe diese Inseln bis in die letzten Ritzen ausgespäht, habe Hummer und Samtkrabben aus dem Meer gezogen, den essbaren Lappentang von den Wänden der Meeresgrotten und dem großen gotischen Felsbogen gepflückt, der auf einer der Inseln eine schmale Landspitze durchbricht, bin zwischen den fauchenden Krähenscharben umhergeklettert und habe in die dunklen verdreckten Tunnel geschaut, in denen die Papageitaucher leben und ihr seltsam herzerweichendes Blöken von sich geben, das wie eine schwere, sich in ihren rostigen Angeln drehende Tür klingt; und ich habe im hohen Gras gelegen, während die Raben über mir krächzten und Kapriolen schlugen und die Skuas in einem milchig blauen Himmel ihre Kreise zogen. Bisweilen habe ich, und das ist vielleicht eine Art Delirium, keinen Abstand mehr verspürt zwischen mir und diesem Ort. Ich habe ihn absorbiert, wie ich von ihm absorbiert wurde, als würde ich außerhalb von ihm nicht mehr existieren. Ich bin von den Zeiten auf den Inseln geformt worden, und nun fällt es mir schwer, Distanz zu ihnen zu finden. Die Landschaft ist in mich eingedrungen und hat mein Leben eingefärbt wie eine Beize. Fast alles andere fühlte sich weniger dicht und weniger intensiv an als diese Momente des Ausgesetztseins. Die Gesellschaft, die Politik, das Vorantreiben der Arbeit und der Karriere – all dies ist von der Größe und Ernsthaftigkeit jener kurzen Phasen meines Insellebens in den Schatten gestellt worden.

    Es gab eine Zeit, als ich dachte, es würde mir unerträglich schwer fallen, die Inseln abzugeben, selbst an Tom. Manchmal, spät in der Nacht in fremden Hotels und weit von ihnen entfernt, hörte ich den Seewetterbericht: »Hebriden, Minches, Sturm der Stärke 10, dreht ab in Richtung Südwesten, Eisregen, Sichtweite 200 Meter«. Ich stellte mir dann vor, wie sie wohl sein mochten, nass, zerschmettert und unerträglich, der Regen wie eine Handvoll Reis gegen das Fenster der Hütte schleudernd, das Schäumen der See, wenn, wie in einem berühmten gälischen Gedicht, »die gewundene schwärzliche Wellhornschnecke, die unten am Meeresboden lebt / sich an der Bootsreling festhakt und dem Schiffsboden einen Riss verpasst«, wenn die Vögel hinter den großen Steinen kauern und die Schafe den Sturm mit der Geduld von Heiligen und der Würde von Märtyrern ertragen. In diesen Momenten, wenn die Inseln weit weg waren, fühlte ich mich ihnen am meisten verbunden. Die Shiants sind die mächtigste Abwesenheit, die ich kenne. Auf jedem Flug über den Atlantik halte ich nach ihnen Ausschau, suche in den Wolken nach einer Öffnung, um sie zu sehen, wie sie still und wie auf einer Landkarte unter mir daliegen, in einem schimmernden und funkelnden Meer, während die Stewardess Kopfhörer und warme Handtücher verteilt. Auch das ein Aspekt des befürchteten Verlusts.

    Inzwischen ist dies anders geworden. Ich habe mich geändert und ich brauche die Inseln nicht mehr so sehr wie früher. Das Geschenk, das ich erhielt, ist das Geschenk, das ich nun machen möchte. Die Inseln sind, was sie immer waren, ein Ort für einen jungen Mann. Tom wird hier seine Zeit verbringen, mit seinen eigenen Freunden und seinen eigenen Entdeckungen. Er wird die Shiants auf andere Weise kennen und missen als sein Vater oder sein Großvater. Ein Ort entfaltet sich in den Köpfen der Menschen, die ihn besitzen, und nun ist Tom an der Reihe.

    Das Buch ist mein letztes Eintauchen in diese Welt. Ich habe versucht, die Inseln auf eine Weise kennenzulernen wie nur selten zuvor etwas. Über die Shiants ist noch nie in größerer Ausführlichkeit geschrieben worden, und diese Schilderung hier bezeichnet sowohl einen Anfang als auch, jedenfalls für mich, ein Ende. Es ist ein Versuch, die ganze Geschichte eines kleinen Flecks, so wie ich sie heute sehe, in möglichst vielen Dimensionen – geologisch, spirituell, botanisch, historisch, kulturell, ästhetisch, ornithologisch, etymologisch, emotional, politisch, sozial, archäologisch und persönlich – zu erzählen. Es handelt sich um die Beschreibung einer Welt, die mir mein Vater geschenkt hat und die ich im Frühjahr 2005 an meinen Sohn übergeben werde.

    Vor etwa einem Jahr hörte die West Highland Free Press, eine radikale oder sich radikal gebende und gegen Großgrundbesitzer eingestellte Zeitung aus Broadford auf der Insel Skye, dass ich ein Buch über die Inseln schreiben wolle, und veröffentlichte die folgende Karikatur: Ich bin der englische Fatzke. Ich bin von oben bis unten mit allem, womit mich die Lummen bewerfen können, bekleckert, und ein Seeungeheuer rülpst mich an. Ich hocke zwar auf dem glitschigen Felsvorsprung, bin aber ein Fremdkörper. Ich träume vielleicht von den Shiants, sollte mich aber von Rechts wegen in meiner natürlichen Umgebung aufhalten, dem Club in St. James’s, wo ich meinen Bowler aufbürste, meinen Schnurrbart wichse und mit anderen Clubmitgliedern über den Zustand des Marktes oder den Verlust des Empires rede. Meine Anwesenheit auf den Shiants ist so selbstverständlich und überzeugend wie die eines Riesenhais, der im Speisesaal des Ritz eine Sole Véronique bestellt.

    Auf den Hebriden ist dies eine weit verbreitete, wenn auch selten geäußerte Haltung. Der Landbesitzer aus England ist ein Fremdling, halb Witz, halb Reizthema, ein Tourist, der glaubt, er habe einen Anspruch auf die Gegend. Einmal trank ich in der mittäglichen Dunkelheit der Macleod’s Bar am Kai von Tarbert ein Glas mit Uisdean MacSween. Hughie MacSween, wie ich ihn nenne, Schäfer aus Scaladale am Loch Seaforth, ist einer der großen Schafhalter auf Harris. Während meiner Kindheit und auch noch bis in mein frühes Erwachsenenalter hinein hatte er über viele Jahre seine Herde auf den Shiants. Formell gesehen war er mein Pächter. Er zahlte mir fünfzig Pfund jährlich für das Gras. Doch in Wirklichkeit verhielt es sich anders: Er war der Meister und ich sein Schüler. Seine Gegenwart vereinnahmte mich völlig. Er raunte seine Geschichten durch Lippen, die ständig am ausgefransten Stummel einer Selbstgedrehten hingen, wobei seine Augenbrauen, die wie lange Flechten aussahen, bei jeder Pointe nach oben zuckten. Die Bewegungen seines Munds waren wie das zarte Flackern einer Flamme, so leise, dass man immer näher an ihn herankriechen wollte, um ihn zu hören, um das Ohr an seine Lippen zu halten. Und während er redete, bewegten sich seine Augen von einem weg zum Horizont und wieder zurück: Du, der Zuhörer, das Ziel seiner Worte, und der Horizont irgendwie ihr Ursprung. Während er mir noch ein Bier und noch einen Schnaps ausgab, rollte ein langes grollendes Lachen aus seiner Brust und zerbarst in ein bronchiales Chaos, und dann, an einer wichtigen Stelle, bei einer heiklen Sache, einem heiteren Aspekt menschlicher Torheit – noch ein langer letzter Zug an seiner Zigarette – griff er unvermittelt nach meinem Arm.

    Hughie MacSween, das waren für mich viele Jahre lang die Shiants. Einmal, lange nachdem ihn eine Krankheit gezwungen hatte, die Inseln aufzugeben, erzählte er mir, er würde niemals am Abend schlafen gehen, ohne im Kopf die Inseln von einem Ende zum anderen abzuwandern: vom Anlandeplatz am Strand den steilen Anstieg hinauf und dort auf den Schafspfaden entlang der Flanke und weiter über den breiten Rücken von Garbh Eilean, am Rand der großen torfgefüllten Senke vorbei und bei Glaic na Crotha hinunter ins Tal und dann bis ganz ans Ende von Stocanish, wo die Lämmer eins nach dem anderen die Stufen des Nordkliffs hinuntersprangen, hinab zu dem Gras, das in der Nähe der See noch grüner wuchs, bis sie nicht mehr weiter kamen und er sie retten musste und sie einzeln wie ein Bündel Sackpfeifen unter den Arm geklemmt zurückbrachte. »Ich kenne jeden einzelnen Zentimeter dieser Inseln«, sagte er und fügte hinzu: »Und ich weiß, du tust es auch«, Worte, die ich immer in Erinnerung behalten werde.

    Ein Mann gesellte sich zu uns, ein bisschen betrunken, seine Mütze noch auf dem Kopf, seine Haut weiß. Hughie beachtete er erst gar nicht. »Sind Sie der Mann, der behauptet, ihm gehörten die Shiants?«, fragte er mich von oben herab.

    »Ja«, meinte ich, ganz die feine englische Art, mit einem Lächeln, »das bin ich.«

    »Ein Scheiß sind Sie.«

    Ich lachte.

    »Die Inseln gehören so wenig Ihnen, wie ich sagen kann, dass mir der Mond gehört.«

    Hughie wiegte den Kopf und lächelte den Mann an, versuchte zu beschwichtigen, die Situation zu beruhigen, und murmelte und knurrte uns besänftigend zu, wie er es auch bei seinen Hunden zu tun pflegt. »Setz dich doch, setz dich«, sagte er und klopfte mit der flachen Hand neben sich auf die Bank.

    Der Mann setzte sich und fuhr fort. Er hielt Hughie beim Arm. »Das ist der Mann, dem die Shiants gehören. Sie gehören doch dir, Uisdean, oder nicht?«

    Hughie blickte zu Boden, seine Art der Verlegenheit. »Oh, das würde ich nicht unbedingt sagen, Murdo.«

    »Hier jedenfalls sitzt der Mann, der sagen müsste, er sei der Besitzer der Shiants. Er hat seine Schafe dort. Er macht die Arbeit. Und er kümmert sich um sie. Und was haben Sie dazu zu sagen? Was tun Sie denn, dass Sie sagen können, die Shiants gehörten Ihnen?«

    Meine Antwort, hätte ich sie denn gegeben, wäre auf einen Kampf hinausgelaufen. Die Shiant-Inseln gehören mir; ich kann sagen, dass sie meine zweihundert Hektar Fels, Gras, Klippen und Wildnis sind, die mitten im Minch zwischen Skye und Lewis aufragen und auf allen Seiten von der See bedrängt werden, weil mein Vater sie mir gegeben hat. Er hatte sie gekauft, nachdem seine Großmutter gestorben war und ihm etwas Geld hinterlassen hatte. Seine Mutter hatte die Anzeige im Daily Telegraph gesehen. Colonel Macdonald aus Tote auf Skye, der die Inseln im Jahr zuvor erworben hatte, dachte, sie würden ein ideales Gestüt für Rennpferde abgeben. Er war von dem Romancier Compton Mackenzie, der die Inseln damals besaß und – wie meistens – Geld brauchte, zu diesem lächerlichen Kauf überredet worden. Mackenzie hatte sie seinerseits 1925 von den Nachlassverwaltern Lord Leverhulmes erworben, und Lord Leverhulme hatte sie 1917 zusammen mit Lewis und Harris von den Mathesons abgekauft. Die Mathesons wiederum – sie schwammen in den Millionen, die sie mit dem Opiumhandel zwischen China und Hongkong gemacht hatten – hatten 1844 Lewis von den Mackenzies, der Familie der Grafen von Seaforth erworben, die sich auf ihre Besitzungen auf dem Festland zurückzogen. Die Mackenzies hatten zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, in einer Zeit beispielloser Gewalt und des Verrats, die laut einem Dokument als die »Übelen Wirren von den Lewes« bekannt waren, in denen »der Macleoid von den Lewes mit seiner ganzen Sippschaft verderbt und seiner Besitzungen auf den Lewes enthoben wurde«, den Besitz von einigen Herren aus Fife gekauft, der ihnen von der Krone zur Gründung einer Kolonie übereignet worden war, obwohl er den angestammten Eigentümern, den Macleods von Lewis noch immer, zumindest zum Teil, gehörte. Erst nach »vielen Wirren und viel Blut« konnten sich die Mackenzies die Inseln sichern. Die Macleods wiederum – »die entschlossensten und tapfersten Männer, dabei ein niederträchtiger blutrünstiger Haufen, der sich weder von Gesetz noch Vernunft leiten oder bändigen ließ und der sich ohne Unterlass gegenseitig umbrachte« – hatten sie im zwölften Jahrhundert von den Nicolsons gestohlen, die vielleicht dreihundert Jahre zuvor als Wikinger dort angelandet waren. Man kann davon ausgehen, dass auch sie – wir – den bislang dort lebenden Einwohnern schreckliche Dinge angetan hatten.

    Nicolson, Macleod, Mackenzie, Matheson, Leverhulme, Mackenzie, Macdonald, Nicolson: zwölfhundert Jahre, acht verschiedene Grundherrenfamilien, die die Shiants als die ihren erachteten. Ich war ihr Erbfolger, und deshalb konnte ich und nicht Hughie MacSween beanspruchen, der Besitzer der Inseln zu sein. Allerdings habe ich nichts dergleichen gesagt. Hughie gab dem Mann ein Glas aus, und ich – das Wikingerblut in meinen Adern ein bisschen dünn – duckte mich hinter ihm weg.

    1894 gab der Reverend Donald MacCallum, ein hochemotionaler Pastor des Sprengels von Lochs auf Lewis, zu dem die Shiants seit den 1720er Jahren gehörten, gegenüber einer Königlichen Kommission, die der Lage der Crofter oder Kleinbauern auf der Insel nachging, eine lange und leidenschaftliche Stellungnahme ab. Mit ihren in biblischen Anspielungen suhlenden starken Übertreibungen und einem Rückbezug auf eine Rhetorik, die eher auf den subversiven Wurzeln des Christentums als auf einem annähernd modernen Verständnis von Rechten und Verantwortlichkeiten beruht, handelte es sich um eine der heftigsten Attacken gegen die Institution des Grundherren, die je geritten worden sind. »Die größten Übel«, hob MacCallum an,

    entspringen zwangsläufig der Tatsache, dass das Land, Seen, Flüsse und Mündungsgebiete für den alleinigen Nutzen einiger weniger unverantwortlicher Individuen in Besitz genommen und ihrem Willen gemäß reguliert worden sind, die sich nach eigenem Gutdünken und dem anderer zu Herren erklären. Jeder Mensch hat ein natürliches und gottgegebenes Recht auf die Erde und ihre Fülle – ihre Fülle an Licht, Luft und Wasser, an Vegetation und Früchten, an Wild, Vögeln und Fischen, an Metallen und Mineralien. Die Herren, die das Land als Erste verkauften, hatten kein Recht, dies zu tun, und deshalb sind die Herren, die das Land kauften, nicht seine Eigentümer. Was zu verkaufen ein Mann kein Recht hat, kann auch nicht Eigentum des Mannes werden, der es kauft.

    Meine apostolische, vor einem Jahrtausend von den Nicolson-Wikingern ausgehende Nachfolge bedeutet nichts. Schon die Idee des Besitztums ist unrechtmäßig. MacCallum fuhr fort:

    Das Grundherrentum lässt das Land verarmen. Anstatt dass der Reichtum, der auf dem Meer und an Land herrscht, dazu herangezogen wird, die Familien jener, die ihn ernten, zu unterhalten, wird er für die Schwelgereien eitler Herren ausgegeben. Die elende Armut und die Not, die dieser Usurpator nach sich zieht, erheben ihre Stimme gegen ihn und verdammen ihn. Grundherrentum verheert das Land. Auf dem Angesicht der verlassenen Dörfer, einst das glückliche Zuhause der Freien und Tapferen, die nun in stiller Verwüstung darniederliegen, lesen wir: »Die Geißel des Grundherrentums ist über uns gekommen.« Ich habe noch von keiner Kreatur gehört, deren Schlund eine solche Gier kannte wie das Grundherrentum. Das Vieh und die Kornähren, die der Pharao in seinem Traum erblickte, kommen ihm noch am nächsten.

    Auf den Shiants und in Pairc, dem den Inseln am nächsten gelegenen großen Landstück von Lewis, gibt es viele Ruinen und Anzeichen, dass das Land aufgegeben wurde. Die Leere heute ist ein Symptom genau dieses Grundherrentums, dessen aktueller Nutznießer ich bin.

    Unter dem Kreuzverhör der Kommission wurde MacCallum demontiert. Über den Sachverhalt, den seine Kanzelsprache in so großartigem Überschwang geschildert hatte, wusste er ganz offenbar kaum Bescheid. Er hatte keine Ahnung von der Größe seines Sprengels, der Zahl seiner Einwohner, dem Anteil fruchtbaren und urbaren Bodens, der ihnen zur Verfügung stand, oder der Produktivität jenes Lands, das zu bestellen ihnen seiner Behauptung nach versagt war. Er wurde von den Rechtsanwälten gedemütigt. Doch seine Worte, die ich erstmals vor zwanzig Jahren in einem dicken, von der Kommission verfassten Kompendium gelesen habe, klingen bis heute in mir nach. Was MacCallum zu sagen hatte, trifft vielleicht für jede Form von Besitz zu, doch in dieser kahlen und verlassenen Landschaft gewinnt es besonderes Profil. Mein Anspruch auf die Shiants verdankt sich, um es deutlich zu sagen, einer Abfolge von Gewaltakten und buchstäblich von Morden, Vergewaltigungen und Vertreibungen. Es mag zwar in späteren Zeiten Geld von Hand zu Hand gegangen sein – mein Vater hatte 1.400 Pfund, Macdonald 1.500, Compton Mackenzie 500 gezahlt –, doch was Reverend MacCallum sagte, ist wahr: »Die Herren, die das Land als Erste verkauften, hatten kein Recht, dies zu tun, und deshalb sind die Herren, die das Land kauften, nicht seine Eigentümer.«

    Meine Insel ist kein Ort, von dem andere ausgeschlossen sein sollen. Ich habe von den Shiants mehr Reichtümer erhalten als von jedem anderen Ort auf der Erde. Über viele Jahre habe ich mich von diesem wilden und herrlichen Platz mehr als versorgt gefühlt. Wie stünde es mir also zu, alle anderen davon auszuschließen? Es gibt etliche gute Grundbesitzer auf Lewis und Harris, die wöchentlich samstags freien und allgemeinen Zugang zu ihren Lachsbächen gewähren; die denjenigen, die auf Hirschjagd gehen möchten, die Möglichkeit einräumen, in der Jagdsaison ohne Gebühr Hirschkühe zu schießen. Das sind Entwicklungen, die erst kürzlich eingesetzt haben, und nicht alle Landbesitzer haben sich ihnen verschrieben. Es gibt immer noch ein oder zwei, die auf ihrem Grundbesitz eine rigorose, mitunter schroffe Politik der Exklusivität verfolgen, die alles dafür tun, die Menschen davon abzuhalten, über ihre Hügel zu wandern, zumindest in der Jagdsaison, die ihre Wildhüter und Gewässerinspektoren beordern, in den Küstenstädten die Fischerboote zu inspizieren und nach den Netzen der Lachswilderer zu suchen, die sogar Helikopter losschicken, um Netze im Meer aufzuspüren, oder die in den letzten Jahren versucht haben, den einen oder anderen öffentlichen Straßenabschnitt zu privatisieren. Anders gesagt, noch immer gibt es ein paar Großgrundbesitzer, die sich so verhalten, als bringe die Tatsache, dass ihnen diese Vergnügungsgebiete gehören, keine oder nur wenige Verantwortlichkeiten gegenüber den benachbarten Gemeinden mit sich.

    Das ist, wie ich glaube, falsch, und dieses Buch ist zum Teil eine Reaktion darauf. Ich mag zwar im Besitz der Urkunden für die Shiants sein, ich liebe sie vielleicht mehr als andere Orte auf der Erde, denke aber nicht, dass ich – oder ein anderer Grundbesitzer – so etwas wie ein alleiniges Recht auf sie habe. Trotz allem Enthusiasmus, der MacCallum befiel – man kann förmlich sehen, wie sich sein Gesicht rötete und er sich in seiner Rhetorik immer mehr aufblies und schließlich schwabbelte wie der Rüssel eines Seeelefanten, wie er in sich zusammenfiel, als er die Skepsis der Kommission spürte, und wie ernüchtert er gewesen sein muss, als er, zurück in seinem Pfarrhaus, sich noch einmal das Geschehen vergegenwärtigte: die Abschnitte, die gut klangen, und jene, die, wie er sogar selbst befürchtet hatte, weniger gut waren –, trotz alledem hatte er recht damit. Land, insbesondere Land so weitab vom Getriebe der Welt, und vor allem Land, in dem die Wunder der Natur in solcher Üppigkeit vorkommen, sollte allen zur Verfügung stehen. Dieses Buch ist ein Versuch, die Shiants mit allen zu teilen.

    Die Shiants sind kein wirklich einsamer Ort. Das ist eine moderne Illusion. Für die Inseln stellte sich die Frage der Einsamkeit nur zweimal: zwischen dem siebten und dem zehnten Jahrhundert in der Blütezeit des von Columban angestoßenen Klosterlebens und im zwanzigsten Jahrhundert. Die meiste Zeit ihrer Geschichte entsprachen die Shiants keineswegs Versatzstücken aus gewissen Wagner-Bühnenbildern, bestehend aus ein paar Felsbrocken in einer unwirtlichen See, neben denen der einsame Held in aller Erlesenheit seinen Atem aushauchen konnte. Sie standen mit der sie umgebenden Welt in engster Verbindung. Bis 1901 waren sie, wohl seit fünftausend Jahren, fast ununterbrochen besiedelt. Dass wir mit unserem modernen Blick solche Orte als verwaist oder verwitwet ansehen, quasi von einer Dickensschen Bitterkeit des Verlassenseins durchtränkt, ist im Ganzen betrachtet falsch. Die Shiants sind gesegnet mit jener Inselschönheit, zu der sich der Mensch gewiss schon seit vielen Jahrtausenden hingezogen fühlt, mit guten Böden und naturgegebener Fruchtbarkeit, mit einem Meer, reich an Plankton sowie Raubfischen und Seevögeln, die sich in einer vier- oder fünfstufigen Nahrungskette davon ernähren. In der Saison sind diese Inseln der Sammelpunkt für Millionen von Vögeln und anderem tierischen Leben und so turbulent wie ein Börsenparkett, eine Arena des Wettbewerbs und der Bereicherung. Sie sind das Zentrum ihres eigenen Universums, der zentrale Knoten in einem Geflecht von menschengemachten und natürlichen Verbindungen, das sich zunächst über die umliegenden Meeresgewässer, dann bis zu den angrenzenden Küsten und weiter über die Seewege erstreckt, die sich über Tausende Kilometer entlang der Randgebiete des Atlantiks und bis in die Kernlande Europas ausspannen.

    Auch wenn sie entlegen zu sein scheinen, waren die Shiants niemals provinziell. Sie gehören zur großen weiten Welt und sind eine vom Menschen tief geprägte Landschaft, Gegenstand von Geschichten, Liedern und Gedichten. Sie waren Schauplatz versuchten Mordes, von Zauberei und schrecklichen Unfällen. Sie waren Zeugen von Glück und Grausamkeit jeglicher Art. Sie erlebten großen Reichtum und verheerende Armut. Sie können so lieblich sein wie der Garten Eden und so heimtückisch wie die Hölle. Sie wissen zu vereinnahmen und abzuweisen, machen einen glauben, nirgends auf der Erde sei es so vollkommen, und geben einem das sehnlichste Gefühl, überall, nur nicht hier zu sein. Mir ist kein Ort bekannt, an dem das Leben so üppig, die Erfahrung so direkt oder die Grenze zwischen dem Selbst und der Welt so papierdünn ist. Ich liebe die Shiants ihrer zerklüfteten, schroffen und delikaten Pracht wegen, und dieses Buch ist ein Liebesbrief an sie.

    KAPITEL 2

    Es war früh im April und ein kalter Wind peitschte aus Südwest. Freyja lag an dem kleinen felsigen Eiland vor der Landspitze von Flodabay an der Ostküste von Harris vor Anker. Aus dem dunklen Wasser spähte eine Robbe. Aus dem Moor sickerten saure Bäche ins Meer. Das Boot schaukelte leicht und die Sonne glitzerte, von den Plankengängen der Bilgen reflektiert. Ich zitterte, nicht wegen der Kälte, sondern weil mich die Vorstellung, allein in dem kleinen Boot zu den Shiants hinaus zu segeln, ängstigte. Die Flaggleine schlug gegen den Mast und die kleinen Wellen, die sich an der Unterseite des Rumpfes fingen, glucksten. An den Ufern von Flodabay stand das Wintergras fahl und büschelig und das Boot war in spätwinterliche Sonne getaucht. Freyja misst vom Vordersteven zum Heck sechzehn Fuß² und wirkt vom Ufer aus so leicht wie ein Spielzeug aus Balsaholz. Das Boot und der Minch, das sind zwei Größenordnungen, die unvereinbar sind.

    Es war das erste Mal, dass ich vorhatte, allein zu den Shiants zu segeln. Zuvor hatte ich mich stets von Fischern aus Scalpay oder Bootsführern aus Lewis hinüberbringen lassen und reiste, wie ich im Rückblick sagen würde, wie ein Mann in einer Sänfte, elegant an Bord genommen, gewissenhaft hinübergebracht und behutsam abgesetzt. Doch das war im Grunde zu wenig. Es bedeutete, nicht wirklich mit dem Ort verbunden zu sein. Man kann eine Insel nur kennen und verstehen, wenn man auch das Meer in ihrer Umgebung kennt und versteht.

    Sechs Monate zuvor hatte ich über die Geschichte der Birlinn gelesen, jenes von den Wikingerschiffen abstammenden Segelboots, das in diesen Gewässern bis mindestens ins siebzehnte Jahrhundert hinein von den Highland-Chiefs benutzt wurde. Mit diesen Schiffen unternahmen sie ihre Raub- und Handelszüge, und ihr Leben war mit ihnen nicht weniger verbunden als mit einer Wohnstatt auf dem Land. In dem Buch wird das steinerne Relief einer Birlinn beschrieben, das auf dem Grab von Alasdair Crotach, dem buckligen Alasdair, einem Mitte des sechzehnten Jahrhunderts verstorbenen Macleod-Oberhaupts in Harris, bis heute überdauerte. Dieser Alasdair war ein gewalttätiger Mann, der Massenmörder der Macdonalds auf Eigg, Männer, Frauen und Kinder, deren dreihundertfünfzig er in einer Höhle mit einem an ihrem schmalen Eingang entzündeten Feuer erstickte.

    Die Birlinn dieses Schlächters ist ein Bild von außerordentlicher Schönheit.

    Die Form und Biegung jeder Planke, die Befestigungen des Ruders, selbst die Lage der Taue in der Takelage, alles ist mit Akkuratesse, Klarheit und, man kann es nicht anders sagen, Liebe in den Stein gemeißelt. Um das Bild herum sind Engel, Apostel und biblische Geschichten in relativ grober Manier wiedergegeben. Ihre Gestalten treten nicht wirklich aus dem Stein hervor, bei dem gemeißelten Schiff jedoch werden die einzelnen Stoffbahnen in dem gebauchten Segel sichtbar. Dort zeigt sich sogar, wie sich ein Segel gegen das dahinter angedeutete Vorstag drückt. Vor allem jedoch gibt das Relief liebevoll die Form des Rumpfes wieder, die Tiefe des Kiels und die Bauchigkeit des Unterwasserschiffs. Das alles war, um etwas überaus Bedeutendes zu bezeugen, millimetergenau in den Stein geschlagen worden. Die Birlinn ist in ihrer ganzen Länge und voll aufgetakelt abgebildet, aber außerhalb des Wassers, sodass der Rumpf in seiner ganzen Schönheit zur Geltung kommt. Nur ein Schiffsbauer oder ein Seemann dürfte in der Lage gewesen sein, so etwas in Stein zu meißeln. Es ist ein mentales Bild, keine Abbildung eines echten Schiffs auf See, hier ist wiedergegeben, wie man sich ein vollendetes Schiff vorstellt, ausgeführt von einem Mann, der es wissen musste. Der Verfasser der Geschichte der Birlinn hat seinem Hauptkapitel ein gälisches Sprichwort vorangestellt:

    ’S beag tha fios aig fear a bhaile,

    Cia ’mar ’tha fear na mara beò.

    Die Landratte [wörtlich der Mann aus dem Dorf] hat keine Ahnung Wie der Matrose [der Mann des Meeres] lebt.

    Das war die Kluft, die ich überbrücken wollte; ich wollte mir die Denkweise zulegen, die der Bildhauer der Birlinn so mühelos verdeutlicht hat. Ich rief den Autor John MacAulay an. Er lebte in Flodabay im Süden von Harris. Ob er vielleicht jemanden kenne, der mir ein Boot bauen könnte, das diese nordische Tradition weiterführen würde? Das ich alleine würde segeln können? Das sicher und robust genug sei, selbst an einem schlechten Tag im Minch zu bestehen, und das man, wenigstens mit einer Winde, auf den Strand ziehen könnte?

    »Oh ja«, sagte John mit seiner hellen, dünnen Stimme. Bestimmt, freundlich, höflich, introvertiert, klar und federnd.

    »Und das wäre auf Harris?«

    »Wie es aussieht, ja.«

    »Klingt gut. Und wer ist der Schiffsbauer?«

    »Nun, ich glaube, Sie sprechen gerade mit ihm.«

    John MacAulay war nicht nur ein Historiker des Wikingererbes, sondern auch ein Bootsbauer mit fünfunddreißigjähriger Erfahrung. Er hatte auf der Shetland-Insel Unst sowie in Oban und Kyle Fischerboote gebaut und repariert. Als ehemaliger Fischer war er ein erfahrener Yacht-Seemann. Er war einer der führenden Experten für die Geschichte des Seekajaks und der traditionellen Arbeitsboote der Hebriden. Zudem war er Kirchenältester seiner Kirche in Leverburgh und Verfasser eines Buchs über die Kirche von Rodel, in der sich das Birlinn-Relief befindet. Etwa zwei Monate stand ich mit John brieflich oder gelegentlich telefonisch in Kontakt. Ich meinte, für mein Vorhaben würde ein Boot von zwölf Fuß Länge reichen. Er sagte, es müsste mindestens sechzehn Fuß lang sein. »Ich lasse Sie auf keinen Fall mit einem zwölf Fuß langen Teil da raus.« Ich wollte etwas mit zwei Enden, an Bug und Heck spitz zulaufend. John sagte: »Die reinste Holzverschwendung. Besser wäre ein Heckspiegel.« Ein Sechzehnfüßer mit einem Heckspiegel – mit rechteckig geschlossenem Heck – entspricht einem auch am Hinterende spitz zulaufenden Zwanzigfüßer. Auf den baumlosen Hebriden war Holz immer Mangelware gewesen. »Es wäre eine Verschwendung. Von Holz. Und Zeit. Und Geld«, sagte er.

    Er schickte mir Zeichnungen des Boots, das er im Sinn hatte. Da ich im Lesen solcher Dinge unerfahren und auch nicht in der Lage war, aus den Längsschnitten oder dem Deckssprung des Dollbords auf Verhalten und Qualität zu schließen, nahm ich ihn beim Wort. Ich hatte ihn noch nicht getroffen, aber selbst aus der Ferne strahlte er eine Autorität und Überzeugung aus, die zurückzuweisen nicht leicht war. Wiederholt beschäftigte ich mich mit einer Passage aus seinem Buch über die Birlinn:

    Zwischen dem Schiffsbauer und dem fertigen Schiff entwickelt sich eine enge Beziehung, fast eine spirituelle Verbindung, die über die gesamte Lebensdauer seines Werks fortbesteht. Es wird von Bootsbauern berichtet, die sich weigerten, für einen Kunden zu bauen, wenn sich zwischen ihnen keine Verbindung einstellen wollte. Einem anständigen Schiffsbauer wird nichts daran liegen, seine hingebungsvolle Arbeit in die falschen Hände gelangen zu sehen, und er wird eher einen undurchsichtigen Grund finden, den Bau abzulehnen, als später in eine Position zu geraten, in der er einen wenig vertrauenswürdigen Kunden der Unfähigkeit bezichtigen muss …

    Strenge lag auf dieser Seite wie Säure. Die Nicolsons mögen behaupten, von den alten Clanchefs von Lewis abzustammen. Ihre Berlinn mag von den Macleods im Minch, irgendwo vor den Shiants, versenkt worden sein. Vielleicht fließt nordisches Blut durch meine Adern, doch wenn, dann nur ein dünnes Rinnsal. John MacAulay jedoch war ein Urgestein. »MacAulay«, sagte er einmal, »ist einfach Gälisch für Olafson«. Die Welt der Sagas, tausend Jahre zurück, kam durch das Telefon gekrochen.

    Härte war die Gewähr für seine Seriosität. Ich traf ihn das erste Mal, als das Boot fast fertiggestellt war. Seine Werkstatt befand sich in einer Nissenhütte an der Küste von Flodabay. Die Straße war ein gewundener Streifen Asphalt, der sich durch Felsen und um schmale Buchten bis zu der Ansiedlung schlängelte. Nirgendwo auf den Britischen Inseln ist das schon lange besiedelte Land trostloser als hier. Der vom Eis geformte Gneis birgt nicht viel mehr als Torfmulden und saures Gras. Die Häuser der Menschen, die hier leben, liegen verstreut entlang der Straße. Sichtbare Zeichen für eine Gemeinschaft gibt es keine. Eine karge Welt.

    Außenstehende sehen solche Orte wohl immer so: als Landschaft und Menschen, die etwas brauchen, Fortschritt, mehr Wohlstand, als einen von materieller Armut und faktischer Unfruchtbarkeit geprägten Ort. Doch aus der Nähe betrachtet bietet sich ein genau umgekehrtes Bild. Zwischen den Felsen herrscht ein blühender Reichtum. John empfing mich vor dem Boot, das er gebaut hatte. Vierschrötig, breitbeinig und mit nach hinten gezogenen Schultern stand er, eine Hand auf die Reling gelegt, vor mir. Sein langes graues Haar hatte er an den Schläfen zurückgebürstet. Er trug einen schmalen grauen Schnurrbart und blickte mir direkt in die Augen: ein unverwandter, ruhiger, taxierender Blick. »Bist du dem Boot gewachsen, das ich gemacht habe«, wollte dieser Blick sagen. Konnte der Bootsbauer dem Kunden trauen? Doch dann meinte er: »Willkommen, willkommen.«

    Zwei Stunden lang gingen wir jeden Zoll des Boots durch. Obwohl ich es war, der es bezahlt hatte, der es benutzen, der ihm sein Leben anvertrauen würde, gab es keinen Zweifel daran, wessen Boot es war. John beschrieb seine Welt. Das Boot erschien mir für seine Länge außerordentlich tief und breit: sechzehn Fuß lang, aber sechs Fuß, zwei Zoll in der Breite und bis zum Heck mindestens zwei Fuß unter der Wasserlinie. »Erklären Sie es mir«, bat ich. Durch die offenen Werkstatttüren kamen kleine Spritzer Regen. »Dieses Boot ist eigens für den Minch gemacht«, sagte er. »Es ist kein Standardboot. Es kennt die Bedingungen, unter denen es arbeiten muss. Und es ist so zugeschnitten, dass Sie damit umgehen können. Zwölf Fuß wären zu klein und etwas Größeres wäre zu groß für Sie.«

    John ließ sich näher über die Unterschiede zwischen diesem und »den meisten Booten« aus. »Die meisten Boote bestehen aus einer Wanne« – er beschrieb in der Luft die Konturen eines Schweins – »und einem Kiel. Eine Wanne für den Auftrieb, einen Kiel für die seitliche Stabilität. Leicht in der Herstellung, billig im Bau. Dieses Boot ist anders. Schon die Art, wie der Rumpf beplankt ist, macht den Kiel. Es ist eine hochkomplexe und integrierte Form, und der über die ganze Bootslänge laufende, eingearbeitete Kiel verleiht sowohl Kurs- als auch seitliche Stabilität.« Die Form, die er da beschrieb, stammte eindeutig von der tiefgängigen Birlinn. So gebaut nämlich befände sich »mehr Boot im Wasser«. Vom Ufer aus, im Wasser treibend, könne man es leicht für eine Nussschale halten. Man würde eben nicht so viel davon sehen. Die Substanz bliebe unsichtbar, unter Wasser, und genau das mache es zu einem guten seegängigen Boot und zu einem guten Segelboot. Es liege besser im Wasser und rolle nicht so schnell wie »die meisten Boote«.

    Hier ging es um Präzision. Die Sprache, die John benutzte, war wissenschaftlich in ihrer Genauigkeit. Die Sägen, Zieheisen, Handbohrer, Stechbeitel, Winkelschleifer und Hämmer hingen ordentlich und sauber, nach Größe geordnet, an den gewellten Metallwänden seiner Werkstatt. Ein Schlägel und ein Maßband lagen auf der Werkbank. In Regalen unter dem Dach war Holz gestapelt, und eines von Johns gefütterten karierten Hemden hing an einem Ende der Kanthölzer. Der durch die großen offenen Garagentüren kommende Wind war das Einzige, was hier nicht irgendeiner Ordnung unterworfen war. »John, wo haben Sie gelernt, so ordentlich zu sein?«, fragte ich.

    »Ich ertrage einfach keinerlei Unordnung«, sagte er.

    In seiner Gegenwart fühlte ich mich ein bisschen verfettet, mental verfettet, von der Welt jenseits dieser Welt, der Welt billiger Lösungen und Abkürzungen, der Welt der »meisten Boote«, in der die peinliche Sorgfalt dieses Mannes und seiner Werkstatt nicht zur Anwendung kam. Langsam wurde mir klar: Es handelte sich hier nicht einfach um ein sehr großes Dinghi. Es war vielmehr ein kleines Schiff. Das war die auf meine Zwecke übertragene Birlinn. All die Prinzipien, die ein Boot seetüchtig machen, die der robusten Konstruktion bei schlanker Form, die eines Schiffs, dazu entworfen, seine Mannschaft zu schützen und ihr Leben zu erhalten, welche wundersamerweise an diesen Mann und seine so akribisch geführte Werkstatt überliefert worden sind, sind in dieses Boot eingeflossen, das ich nun bald mit seiner Billigung das meine nennen würde. John und das Boot, das er gebaut hat, waren aus einer aus der Vergangenheit der Shiants stammenden Welt überliefert worden.

    Aber da war noch mehr. »Der Eintritt ist gut« – der Bug läuft in einer scharfen und schmalen Spitze aus –, »was das Rudern leicht macht. Und die Unterwasserlinien sind sauber, ein schöner sauberer Austritt.« Unter Wasser läuft das Heck in einer ebenso schmalen und feinen Spitze aus wie der Bug. Von hinten gesehen hat das Boot die Form eines Weinglases. Ich – die Crew – würde in der Schale sitzen, das Meer aber würde nur mit dem Stiel

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