Neu codiert: Ein Schießbefehl verändert den Lebensweg nachhaltig
Von Dirk Otto
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Über dieses E-Book
»Neu codiert« ist nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument, das den Alltag in der DDR und der Volksarmee lebensnah beschreibt, sondern auch ein Bericht darüber, wie sich ein über Jahrzehnte aufgebautes Wertegefüge binnen weniger Stunden ins Gegenteil verkehren kann.
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Buchvorschau
Neu codiert - Dirk Otto
Kapitel: Ein verhängnisvoller Brieffreund
Herausarbeitung des Charakters der Rückverbindungen und
Ursachen der Verschleierung über die Adresse der Großmutter.
Dieser Satz blieb mir hängen. Ich stand in meiner Wohnung und wusste nicht, wie mir geschah.
War ich wütend, weil ich monatelang durchleuchtet wurde? Von wem? Wer waren die IMs „Pohle und „Georgie
, die auf mich angesetzt wurden?
War es Erleichterung, weil die Grenzen geöffnet wurden und sich das Ministerium für Staatssicherheit, wie die „Stasi" offiziell hieß, in Luft aufgelöst hatte und das Ermittlungsverfahren gegen mich fallen gelassen wurde?
Vielleicht war ich in Sorge, weil ich nicht wusste, ob es Vergeltungsakte geben würde. Wer sich einmal so nah an mich heranpirscht, tut das möglicherweise mehrmals. Bestimmt war es von allem ein bisschen und ich muss sagen: Ich hatte es kommen sehen.
Immer wieder hegte ich Zweifel, ob ich das, was ich tat, fortführen sollte. Es hatte sich rumgesprochen, wie Pakete durchsucht wurden, und es war nur eine Frage der Zeit, bis man mir auf die Schliche käme.
Wenn ich das 30 Jahre später erzähle, klinge ich wie ein Verbrecher. „Auf die Schliche" kommt man doch eigentlich nur Kriminellen; Mördern, Räubern, Triebtätern. Aber so muss man es so sagen: Aus Sicht der Regierung war ich kriminell.
***
Mit 16 befand ich mich in der Blütezeit der Pubertät: Ich fuhr ein Moped, trug tolle Klamotten, war viel mit Freunden unterwegs und genoss die unbeschwerte Zeit, führte ein ganz normales Leben. Mein Vater arbeitete als Ingenieur bei der Post, meine Mutter als Lehrerin, wir hatten nicht viel, aber auch nicht wenig, uns ging es gut. Die sozialistische Indoktrination habe ich zwar wahrgenommen, aber nicht weiter reflektiert. Amerika und der Westen waren ‚böse‘, Konzepte wie Kapital, Wohlstand und Freiheit wurden verhöhnt und in der DDR standen wir auf der Seite der ‚Guten‘. Mich interessierte das nicht; meine Tage waren vollgepackt mit Hausaufgaben, dem Werkkeller und dem Besuch von Badeseen.
Meine Oma erzählte mir eines Tages, sie habe Kontakt zu einer Bekannten, die einige Jahre vorher in den Westen übergesiedelt war. Sie bot mir an, einen Brief an sie zu schreiben, da sie einen Sohn hatte, der ebenfalls in meinem Alter war. Ich verbrachte gerne Zeit mit meiner Oma, sie hatte ein Funkeln in den Augen und gewann mit ihrer mitreißenden Art Menschen für sich. Ich willigte ein – ein Brieffreund im Ausland, sowas hatten meine Kumpels nicht. Spannend klang das – und auch ein bisschen aufregend.
Der Brief war schnell geschrieben, ich gab mir nicht besonders viel Mühe. Ein bisschen erzählte ich von meinem Zimmer, dem Zweirad und meinen anderen Freunden, verklebte ihn und übergab ihn meiner Oma, die ihn in die Stadt mitnahm und dort versendete. Ob ich wohl eines Tages eine Antwort erhalten würde?
***
Sie kam – und wie!
Sein Brief war um einiges ausführlicher als meiner. André hieß der Junge, und er erzählte mir ausführlich von der Wohnung, in der er mit seiner Mutter lebte, seinen Steckenpferden und dem, was er in seiner Freizeit so trieb. Außerdem legte er drei Klebesticker in den Umschlag, auf denen verschiedene Abbildungen von Motorrädern zu sehen waren – ich war völlig aus dem Häuschen! Auch meine Oma war gerührt, als sie ein paar Tage später zu Besuch bei uns war und ich ihr den Brief zeigte: „Das finde ich aber toll, dass er dir so nett geantwortet hat! Jetzt hast du einen neuen Freund gewonnen!" Ich war motiviert, mir bei meiner Antwort dieses Mal ebenso viel Mühe zu geben und verfasste ein mindestens genauso langes Schreiben an André. Zwar hatte ich keine Sticker, aber ich zeichnete ihm den Zündschlüssel meines Mopeds an den Rand. Bestimmt würde er sich darüber freuen.
Die Brieffreundschaft ging eine Weile hin und her. Zu Beginn noch im Zwei-Wochen-Takt, mittelfristig alle drei bis vier Monate. Nicht jedem Brief lag ein Geschenk bei, aber wenn, dann freute ich mich sehr. Neben Süßigkeiten wie Schokolade gab es die ein oder andere Chrom-Kassette, die ich über das Gerät meines Vaters abspielen konnte. Das hatte neben dem ideellen auch einen realen Wert, da ich in meinem Freundeskreis immer öfter für die Musik zuständig war. Es entwickelte sich ein Hobby daraus und ich wurde zum DJ; wann immer wir uns in größerer Runde trafen, übernahm ich die Verantwortung für die musikalische Untermalung des Abends. Zwar gab es damals einige ostdeutsche Rockbands, aber wir zogen es vor, die Musik von Rockbands aus dem Westen zu hören. Es machte mir großen Spaß, die Kassetten von André aufzulegen und die Leute mit erstklassiger Rock- und Popmusik zu verwöhnen. Dass das nicht erlaubt war, tat den Abenden keinen Abbruch; im Gegenteil, wir fühlten uns auf gewisse Weise wichtig, etwas Halb-Verbotenes zu tun und die ganze Nacht zu trinken und zu den Hits von Falco, Nena oder deutschen Punkbands zu tanzen.
Wenn ich das mit einbeziehe, war es fast so, als wäre André mit anwesend gewesen, wie in einer echten Freundschaft. Ich werde wehmütig, wenn ich mir vorstelle, wie es die Beziehung zwischen heutigen Jugendlichen verändern würde, wenn sie sich statt WhatsApp-Nachrichten im Minutentakt alle paar Wochen einen handgeschriebenen Brief senden würden …
***
Zu Weihnachten musste mein Vater bei der Post eine Art Hilfsdienst leisten; normalerweise arbeitete er dort als Ingenieur, doch zu Zeiten des vorfestlichen Trubels sollte er Kollegen in der Paketzuordnung unter die Arme greifen. Er nahm mich das ein oder andere Mal mit und ich durfte mich in der großen Halle frei bewegen und die Flut an Paketen entlang der Postleitzahlen sortieren. Riesige LKWs, gefühlt zehnmal so groß wie ich, fuhren stapelweise Pakete herein, die zunächst über ein Fließband in eine abgetrennte Nebenhalle geschoben wurden. Zu dieser hatte ich keinen Zutritt, aber nach wenigen Tagen verstand ich, dass diese dort auf staatsfeindliche Verdachtsmomente hin untersucht wurden. Die allermeisten waren nicht weiter auffällig; Menschen versendeten Schokolade, Kaffee, Grundnahrungsmittel oder Kleidung, aber ab und zu gab es unlautere Inhalte, wie etwa Briefe in Anoraks oder kritische Bücher in Schuhkartons. Es ging alles sehr schnell und die Berge an Päckchen wurden im Akkordtempo bearbeitet. Auch wenn ich nie einen Durchsuchungsprozess beobachtet hatte, bekam ich zum ersten Mal einen Eindruck von der Akribie des Geheimdienstes – etwas Derartiges war zur gleichen Zeit im Westen undenkbar.
***
Die Brieffreundschaft ging weiter und mit 19 stand ich vor der militärischen Grundausbildung bei der Nationalen Volksarmee (NVA). Durch diese bekam das Verhältnis zu André eine besondere Note, da er zur gleichen Zeit seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr absolvieren musste. Es war nicht mein sehnlichster Wunsch, zur Armee zu gehen, aber ich wollte Elektrotechnik an der Hochschule in Dresden studieren und dies war mir nur möglich, wenn ich einen dreijährigen Grundwehrdienst vorweisen konnte. Unser Briefkontakt intensivierte sich, da mir der harte Drill des Militärs an der ein oder anderen Stelle zu schaffen machte und ich auf die Erfahrungsberichte von André gespannt war.
***
Bei der NVA gab es auch den ersten Moment, an dem ich schlucken musste, da ich bei der Einweisung gefragt wurde, ob ich Kontakte ins nichtsozialistische Ausland pflegte. Über die Antwort musste ich nicht lange nachdenken: „Nein, natürlich nicht. Äußerlich wirkte ich bestimmt, aber innerlich nagte es an mir, die Brieffreundschaft verbergen und meine Vorgesetzten anlügen zu müssen. Mit „Kontakte
waren schließlich nicht nur militärische oder gar staatsfeindlich intendierte Bemühungen gemeint, sondern eben auch Brieffreundschaften. Das straffe Programm und die geforderte Disziplin erstickten jedoch jedes Nachdenken darüber im Keim.
Allmählich gewöhnte ich mich an meine Rolle als Rekrut und an den Umgang in der Kaserne. Nach ein paar Monaten sollte ich im Chiffrierdienst eingesetzt werden. Dieser nahm eine besondere Rolle in der Volksarmee ein, was verständlich ist, wenn man ein paar Jahrzehnte zurückblickt: Ende 1939 eroberte die deutsche Wehrmacht in Windeseile fast alle europäischen Nachbarstaaten. Kurz nach dem Überfall auf Polen erklärte Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg und wenige Stunden später auch Frankreich. Das Deutsche Reich hatte sich geweigert, das Ultimatum, die Truppen aus Polen zurückzuziehen, zu erfüllen. Damit begann der Zweite Weltkrieg, der erst sechs Jahre später nach Millionen von zivilen Opfern und unzähligen zerstörten Städten beendet werden konnte. Als einer der Hauptwendepunkte galt damals die Entschlüsselung der Funksprüche der Wehrmacht. Insbesondere den Briten gelang mithilfe einer Rotor-Schlüsselmaschine („Enigma") die kontinuierliche Decodierung des deutschen Nachrichtenverkehrs, was ihnen erhebliche Vorteile in der Kriegsführung brachte.
Diese Gefahr hatte auch die NVA permanent vor Augen. Unsere Funksprüche zwischen einzelnen Abteilungen der Armee wurden per Richtfunk übertragen und hätten auf diese Weise vom Klassenfeind abgehört werden können. Das sollte um