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Ein Jude aus Böhmen im Strudel der Zeitgeschichte: Manuskript über das Leben eines einfachen Mannes, eines Juden in einer furchtbar bewegten Zeit: in Böhmen 1902 – 1949 und in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1973
Ein Jude aus Böhmen im Strudel der Zeitgeschichte: Manuskript über das Leben eines einfachen Mannes, eines Juden in einer furchtbar bewegten Zeit: in Böhmen 1902 – 1949 und in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1973
Ein Jude aus Böhmen im Strudel der Zeitgeschichte: Manuskript über das Leben eines einfachen Mannes, eines Juden in einer furchtbar bewegten Zeit: in Böhmen 1902 – 1949 und in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1973
eBook407 Seiten6 Stunden

Ein Jude aus Böhmen im Strudel der Zeitgeschichte: Manuskript über das Leben eines einfachen Mannes, eines Juden in einer furchtbar bewegten Zeit: in Böhmen 1902 – 1949 und in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1973

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Über dieses E-Book

Die Autobiographie beschreibt das Leben eines deutschen Juden in Böhmen, der als Jugendlicher und junger Mann sein Leben weitgehend unbeeinflusst vom Weltgeschehen nach dem Ende des ersten Weltkrieges gestaltet. Dies ändert sich schnell mit dem Einmarsch der Deutschen und der Judenverfolgung in Prag ab 1939 und führt schließlich 1945 zu seiner Einweisung in das KZ Theresienstadt. Nach seiner Befreiung wird er als Deutscher in der Tschechoslowakei zunehmend isoliert und übersiedelt in die junge Bundesrepublik Deutschland, deren Entwicklung er kritisch porträtiert. Basierend auf persönlichen Erfahrungen vermittelt diese Lebensgeschichte einen spannenden Einblick in das ungewöhnliche Schicksal eines Juden während großer Umwälzungen in der Tschechoslowakei und der jungen Bundesrepublik Deutschland.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Juli 2015
ISBN9783739272535
Ein Jude aus Böhmen im Strudel der Zeitgeschichte: Manuskript über das Leben eines einfachen Mannes, eines Juden in einer furchtbar bewegten Zeit: in Böhmen 1902 – 1949 und in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1973
Autor

Wilhelm Robert Humburger

Wilhelm Robert Humburger wurde 1902 als deutscher Jude in Trautenau in Böhmen geboren und verbrachte dort seine Jugend. Als junger Mann durchlebte er die Inflation in Wien und entwickelte sich zum erfolgreichen Bankkaufmann in Böhmen. Nach dem Einmarsch der Deutschen erfuhr er hautnah die zunehmende Judenverfolgung in der Tschechoslowakei und landete kurz vor Kriegsende im KZ Theresienstadt. Seine dortigen Erfahrungen veranlassten ihn später, diese Lebensgeschichte aufzuschreiben. Nach Kriegsende wurde sein Leben als Deutscher in der Tschechoslowakei zunehmend schwieriger und er übersiedelte 1949 in die junge Bundesrepublik Deutschland, deren Entwicklung er bis zu seinem Tod 1973 mitgestaltete und kritisch verfolgte.

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    Buchvorschau

    Ein Jude aus Böhmen im Strudel der Zeitgeschichte - Wilhelm Robert Humburger

    hat.

    Geleitwort des Herausgebers

    Wilhelm Humburger, geboren am 1.Mai 1902 in Trautenau, Böhmen verstarb Ende 1973 in Düsseldorf. Nach dem Tod seiner Frau Helene Humburger, geb. Kotthaus, der Schwester meines Vaters, am 17. August 1981 wurde mir in der Eröffnung ihres gemeinsamen Testaments im Herbst desselben Jahres der Wunsch übermittelt, mich um die Herausgabe der Erinnerungen meines Onkels zu bemühen. Nach einer ersten Durchsicht der maschinengeschriebenen Seiten mit vielen handschriftlichen Korrekturen wurde mir klar, dass damit ein größerer Zeitaufwand verbunden sein würde, den ich in dieser Phase meines Lebens kaum aufbringen konnte. Auch kam ich zum Schluss, dass bei den vielen im Text namentlich genannten Persönlichkeiten eine Veröffentlichung erst nach einer sorgfältiger Prüfung der Namen und Beschreibungen sowie einer angemessenen Karenzzeit erfolgen sollte. Andererseits wollte ich aber das Vermächtnis meines Onkels wegen seines außergewöhnlichen Schicksals verbunden mit seinen auch zeitgeschichtlich interessanten Beschreibungen und Wertungen zu gegebener Zeit der Öffentlichkeit zugänglich machen.

    Da mein eigenes Leben in den folgenden Jahren sowohl privat als auch beruflich unruhig, spannend und sehr erfüllt verlief, fand ich lange nicht die Muße, den Text angemessen zu redigieren, ohne dabei die Geschichte und die Diktion meines Onkels im Grunde zu verändern. So dauerte es schließlich 33 Jahre bis ich - jetzt selbst im (Un)- Ruhestand - mir die Zeit genommen habe, diese Memoiren zugänglich zu machen. Dabei habe ich mir Mühe gegeben, wo immer möglich die genannten Namen von Personen durch Recherchen zu verifizieren und gegebenenfalls durch Vornamen zu ergänzen und zu korrigieren. Ortsnamen habe ich in der ursprünglich deutschen Form so buchstabiert verwendet, dass die heutigen Bezeichnungen auf Wikipedia.de gefunden werden können. Schließlich habe ich ein paar Wiederholungen gekürzt und einige schwer verständliche oder unvollständige Sätze des zu wesentlichen Teilen diktierten Textes zur besseren Lesbarkeit leicht umgestellt oder ergänzt, aber dabei den Originaltext so wenig wie möglich modifiziert. Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser dieser Erinnerungen so einen Einblick in den außergewöhnlichen und erlebnisreichen Lebensweg des deutsch-böhmischen Juden Wilhelm Humburger und seine auf sehr persönlichen Erfahrungen basierenden Beschreibungen und Wertungen einer geschichtsträchtigen Epoche im Zentrum Europas während der ersten 70 Jahre des letzten Jahrhunderts erhalten.

    München, im Frühjahr 2015

    Jörg P. Kotthaus

    Vorwort

    Der Verfasser dieser Erinnerungen wurde Anfang 1968, unmittelbar nach Beendigung seiner Tätigkeit als Abteilungsdirektor der Zentrale der Dresdner Bank in Düsseldorf wegen eines Krebstumors am Ausgang des Darmes operiert. Der Tumor konnte nicht entfernt werden.

    Während meines Krankenhausaufenthaltes in einem komfortablen, ruhigen Einzelzimmer hatte ich zum ersten Mal in meinem turbulenten, schwierigen Leben Zeit, darüber nachzudenken und fand, dass es der Sache wert sein könnte, über meine abenteuerlichen Erlebnisse als Jude in der Verfolgungszeit, die sonst mit meinem Tode erlöschen würden, etwas zwecks Veröffentlichung aufzuschreiben. Noch im Krankenhaus begann ich dies mit der Erinnerung an meinen Aufenthalt im Ghetto Theresienstadt, die ich als die interessanteste Zeit meines Lebens ansah. Nach Hause zurück gekehrt beendete ich den Theresienstädter Bericht. Inzwischen hatte ich mich entschlossen, ein Erinnerungsbuch über mein ganzes Leben zu schreiben, das insofern bemerkenswert war, als ich, in Trautenau in Böhmen geboren, die Gründung der Tschechoslowakei nach dem ersten Weltkrieg aus den Trümmern des alten Österreich, ihre Zerstörung durch die Deutschen nach ihren ersten glücklichen 20 Jahren dort miterlebt hatte, dort die Judenverfolgung überlebt habe und nach dem Krieg noch zusehen konnte, wie die ČSR kommunistisch wurde, bis ich am 30. Juni 1949 in die Bundesrepublik Deutschland emigrierte, wo ich von Anfang an den interessanten Wiederaufbau dieses im Krieg völlig zerstörten Landes und das sogenannte Wirtschaftswunder mit ansehen konnte. Zu Hause ging es mir zuerst nach der Operation verhältnismäßig gut, ich hatte wenig Schmerzen, konnte Spazieren gehen, sogar noch Autofahren, und das Memoirenschreiben schien mir als Ruhebeschäftigung nach einem durch Arbeit ganz ausgefüllten Berufsleben, als Ausgleichstätigkeit das Richtige zu sein. Die Theresienstädter Erinnerungen hatte ich als erstes zu Hause zunächst fertiggestellt und wollte sie dann später in meine Erinnerungen einbauen.

    An meinen Memoiren habe ich dann fleißig über ein Jahr lang gearbeitet. Inzwischen hat sich mein Zustand aber sehr verschlechtert. Am anus praeter hatte ich mir einen sehr großen Wundrandbruch zugezogen, der mich sehr behinderte; ich hatte zunehmende Schmerzen. Das Schreiben strengte mich zu sehr an, und ich merkte zu meinem Bedauern, dass ich nicht mehr lange weiterschreiben konnte. Ich habe dann nur noch einen Vorspann zu den Theresienstädter Erinnerungen geschrieben, die ich als selbständiges Teilerlebnis nach meinem Tode veröffentlichen lassen wollte. Die Niederschrift der eigentlichen Memoiren musste ich damals abbrechen. Dann hat sich mein Zustand vor Jahresfrist so verschlechtert, dass ich nicht mehr gehen, stehen und nur ganz kurze Zeit sitzen kann und die Schmerzen, die ich ständig habe, noch am besten ertragen kann, wenn ich flach im Bett liege. Ich sollte eigentlich Morphium bekommen, es gelang mir aber bisher, die Schmerzen durch ständige Lektüre bei Tage zu ertragen und die Nächte mit Hilfe schwerer Schlafmittel zu verschlafen.

    Inzwischen hat sich unsere Situation auch insofern sehr verschlimmert, als sich der Gesundheitszustand meiner Frau, die an einer schweren Polyarthritis leidet, so verschlechtert hat, dass sie an Händen und Füßen nahezu völlig gelähmt ist. Bis zu meiner Operation war sie noch trotz dieser Krankheit, an der sie schon seit langem leidet, eine blühende Frau. Sie hat mich dann rührend gepflegt und sich dabei überanstrengt. Auch hat meine schwere Krankheit auch sie mitgenommen. Sie hat 40 Pfund abgenommen und auch sie erleidet quälende Schmerzen. Wir sind ganz auf fremde Hilfe im Haushalt angewiesen, die so schwer zu haben ist. Bisher konnte diese Hilfe immer noch irgendwie beschafft werden. In der letzten Zeit hat mich der Gedanke verfolgt, nach zweijähriger Pause die Verfassung meiner Memoiren doch wieder aufzunehmen. Ich hielt es vor allem für wünschenswert, neben dem Thema Theresienstadt als zweiten Schwerpunkt darüber zu berichten, wie aus der reichen und so mit Schätzen gesegneten ČSR das Armenhaus Europas geworden ist. Ich habe dies ja selber in allen Phasen miterlebt die Vertreibung der Juden, die ich von einem besonders begünstigten Aussichtspunkt gut beobachten konnte, als erster Schritt beim wirtschaftlichen Niedergang der ČSR - dann die Vertreibung der Deutschen aus der ČSR, die seine wichtigste Ursache wurde, und schließlich die kommunistische Misswirtschaft, welche die Verarmung beendet und für alle Zeiten endgültig gemacht hat. All dies habe ich miterlebt, und es ist in meinen Lebenslauf eingebettet. Ich kann darüber als objektiver Zuschauer berichten in einer Zeit, in der alle Beteiligten mit Ressentiments belastet sind, die bei mir fehlen.

    Meine Frau und ich können und wollen unsere schöne Wohnung, die uns jetzt seit 18 Jahren ein geliebter, gewohnter Zufluchtsort geworden ist, lebendig nicht mehr verlassen. Wir sind auf einander angewiesen und wollen auch durch den Tod des Einen oder des Anderen uns nicht mehr trennen lassen. Wir führen nur noch ein geborgtes Leben. In dieser Situation war es eigentlich ein leichtsinniger Entschluss, mit den Memoiren noch einmal zu beginnen. Das schon weit Gediehene, das ich schon niedergeschrieben hatte, konnte ich mit Ausnahme des Theresienstädter Teiles als zu ausführlich nicht mehr gebrauchen. Ich habe es vernichtet, um den Text auf mein neues Hauptthema ausrichten zu können. Den neuen Text habe ich nicht mehr handgeschrieben sondern in ein Dikta-phon gesprochen. Es hat mich angestrengt, aber auch von den Schmerzen abgelenkt. Jetzt, Ende 1972, konnte ich das Wichtigste, die Zeit bis zu meiner Emigration in die Bundesrepublik fertig stellen. Ich will dann auch noch versuchen, mein interessantes Leben in diesem Land ab Juli 1949 zu schildern, um dieses Buch zu vollenden. Vielleicht werde ich Glück haben und dies auch noch fertig bringen.

    Düsseldorf, Anfang des Jahres 1973

    Wilhelm R. Humburger

    1. Jugend in Trautenau und Prag, 1902–1921

    Ich wurde am 1. Mai 1902 in Trautenau in Böhmen, einem blitzsauberen Städtchen in reizender Lage am Fuße des Riesengebirges, geboren, wo ich meine Jugend verlebte. Ich war ein normales, sehr behütetes Kind und wuchs in einem großbürgerlichen Haushalt als einziges Kind meiner Eltern auf.

    Böhmen, meine Heimat, war vor allen Ländern Europas das am reichsten mit allen Schätzen gesegnete Land. Ein landschaftlich besonders schönes Land, in dem tatsächlich Milch und Honig floss. Dazu kam noch, dass dank der Geschicklichkeit der Arbeiter im Zuge der Industrialisierung auch Waren hoher Qualität für den Export hergestellt werden konnten, die anderen in vielfacher Hinsicht überlegen waren. Im Konkurrenzkampf mit anderen Ländern war so die Tschechoslowakei sehr gut gestellt, weil sie ihre Exportwaren auch zu verhältnismäßig niedrigen Preisen herstellen konnte. So konnte die Tschechoslowakei die benötigten Rohstoffe aus den Exporterlösen jeweils dort einkaufen, wo sie am günstigsten zu haben waren. Auch konnte sie wegen ihres besonders großen Exportüberschusses auch beliebig Waren für den Bedarf der eigenen Bevölkerung beschaffen, so dass diese einen verhältnismäßig hohen Lebensstandard hatte. Dabei war das Leben in der Tschechoslowakei immer billiger als in den Nachbarländern. Die enorme Fruchtbarkeit des inneren, ebenen Landesteils ermöglichte es, landwirtschaftliche Produkte besonders hoher Qualität herzustellen. Es wurden Feldfrüchte aller Art erzeugt, so z.B. Hopfen und Gerste zur Herstellung von Bier und Zuckerrüben als Grundlage für die Erzeugung von Zucker, einem besonders wichtigen Exportartikel. Die Bauern in diesen Gebieten, hauptsächlich Tschechen, Mähren aber auch Slowaken waren wohlhabend und hatten keine besondere Veranlassung, sich für die Industrialisierung zu interessieren. Die Gewässer waren reich an Fischen aller Art. Es gab z.B. den Wittingauer Karpfen in besonders guter Qualität. Auch gab es die berühmten Heilquellen in Karlsbad, Marienbad, Franzensbad, das radiumhaltige Wasser in Joachimsthal, die Schlammbäder in Pistan. In all diesen Kurorten gab es eine alte Tradition der Bevölkerung in der Betreuung von Gästen, so dass diese seit Jahrhunderten von anspruchsvollen Gästen besucht wurden, welche dem Land sehr gute Deviseneinnahmen brachten.

    Auch guter Wein wurde in großen Mengen produziert. Gleichzeitig war der Reichtum an Nutzholz ungewöhnlich groß, und zwar vor allem in den gebirgigen Randgebieten, in denen vorwiegend die Deutschen lebten. Dort gab es aber wenig fruchtbares Ackerland, so dass die Bevölkerung keine ausreichende Lebensgrundlage in der Landwirtschaft hatte. Dies machte notwendig, dass sie sich anderen Beschäftigungen zuwandte und eine alte Tradition in handwerklicher Betätigung entstand. Es wuchsen dort vor allem Flachs und Kartoffeln. Das Spinnen und Weben von dem vorhan denen Flachs begründete die Jahrhunderte alte Leinenindustrie. Hochwertiges Holz war das Ausgangsmaterial für die Herstellung von Musikinstrumenten. Kaolinvorkommen in höchster Qualität dienten als Grundlage für die ebenfalls traditionelle Porzellanherstellung. Diese Fertigkeiten und auch die Glasherstellung waren die Voraussetzungen für die sich in diesen Gegenden sehr rasch entwickelnde Industrialisierung. Die Geschicklichkeit der Industriearbeiter sorgte ebenfalls für die hervorragende Qualität der tschechischen Industrieproduktion. Die Industrie entstand vorwiegend in den von Deutschen besiedelten Randgebieten, und es fanden sich auch einige unternehmungslustige Deutsche, die Industrieunternehmen gründeten.

    Ich möchte hier einmal die Namen einiger prominenter deutscher Industriellen aus dem Dunkel der Vergangenheit ans Licht bringen. Es handelt sich hier um Leute, die aus dem Arbeiterstand oder dem Handwerk kamen und im Zeitalter der Industrialisierung in einer, höchstens zwei Generationen durch ihre Tüchtigkeit zu großen Fabrikherren wurden, mit Riesenwerken internationaler Bedeutung, die in Schlössern inmitten großer Parks lebten und Macht ausübten. Die Größten waren die Schichts in Aussig, die mit ihrem Seifen- und Margarine-Imperium in der Tschechoslowakei ein Monopol hatten. Die Firma ist dann schon vor dem zweiten Weltkrieg in dem großen Konzern Unilever in Holland und England aufgegangen. Die Liebigs in Reichenberg hatten riesige Fabriken mit Wollspinnereien Webereien und Färbereien. Die Wolfrums in Aussig betrieben Spiritus-, Hefefabriken und ein Bankhaus von Bedeutung. Ein Enkel konnte in der Bundesrepublik wieder eine große Karriere machen und wurde Vorstand der Westfalenbank in Bochum. Die zwei Bruder Riedel erzeugten die farbigen Glasstabe, aus denen die Perlen für die Gablonzer Schmuckindustrie gemacht wurden. Es ist ein sehr schwieriges Verfahren und gab es nur in der Tschechoslowakei. Inzwischen ist Gablonzer Industrie als Flüchtlingsindustrie in der Bundesrepublik in IdarOberstein zu neuem Leben erwacht. Dann gab es noch eine Firma Schowanek in der Nähe von Reichenberg, die originelles Kinderspielzeug aus buntem Holz erzeugte. Ich glaube, dass dieses Unternehmen verschwunden ist.

    Den Hauptanteil an der Gründung der Industrie in der Tschechoslowakei hatten aber die Juden. Näheres hierzu wird noch später gesagt werden. Tschechen entwickelten wenig Initiative zur Gründung von Industrieunternehmen. In der tschechischen Gegend entstand vor allem Industrie auf landwirtschaftlicher Basis, wie z.B. Brauereien, Zucker-Industrie und Holzindustrie. Für die Tätigkeit von Tschechen als Industrielle gab es nur zwei wichtige Ausnahmen. Das waren die Gebrüder Bata und Baron Skoda. Skoda gründete die weltberühmten Skoda-Werke in Pilsen, eine Maschinenfabrik von internationalem Ansehen. Bei den Gebrüdern Bata war Tomas derjenige, der die Initiative ergriff. Als armer Schuster errichtete er in Mähren zu einer Zeit, in der die ländliche Bevölkerung in der Tschechoslowakei noch barfuß ging, eine kleine Schuhfabrik. Diese produzierte zunächst nur einfache Halbschuhe aus Stoff mit Gummisohlen, um die Bauern zu bekleiden. Diese Schuhe wurden in eigenen Geschäften, die über das ganze Land verteilt waren, verkauft. Daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit ein riesiger Industriekonzern, zunächst in Zlin, wo der ärmliche Boden wenig hergab, so dass dort die nötige Reserve von Menschen für die Arbeiterschaft zur Verfügung stand. In einem riesigen Komplex von Hochhäusern wurden schließlich Schuhe besserer Qualität, aber immer sehr billig, dann Gummischuhe, Autoreifen, Gummimäntel, gewirkte Unterwäsche, Socken, Gummiwaren aller Art, Kunstseide und Maschinen hergestellt. Das Unternehmen hatte eine Organisation, die einer Kommune sehr ähnlich sah. Bata zahlte geringe Löhne und war dadurch auf seinem Gebiet sehr konkurrenzfähig. Er behielt einen Teil der Lohnsumme als Guthaben der Arbeiter bei der Firma zurück und finanzierte sich auf diese Weise. Das konnte er deshalb tun, weil er selbst die Arbeiter mit allem versorgte, was sie zum Leben nötig hatten. Er hatte eigene Kaufhäuser, Krankenhäuser, Schulen, ein Hotel, Lebensmittelläden, Arbeiterhäuser. Die Bedürfnisse der Arbeiter wurden entweder umsonst oder sehr billig befriedigt, so dass die Leute mit ihren kleinen Löhnen gut auskommen konnten. Dem Unternehmen wurden mit der zur Verfügung stehenden großen Finanzkraft dann auch eigene Gummiplantagen in den Tropen, eigene Rinderherden und Maschinenfabriken angegliedert, die u. a. auf eigenen Erfindungen beruhende Maschinen für die Schuhfertigung nicht nur für den eigenen Bedarf herstellten, sondern auch verkauften und exportierten. Als die Gebrüder Bata nach dem zweiten Weltkrieg die Tschechoslowakei verlassen mussten und das Unternehmen verstaatlich wurde, blieb im Ausland noch genug Finanzkraft übrig, um einen großen Konzern zu bilden, der neben der verstaatlichten tschechischen Firma als Eigentum der Gebrüder Bata weiter existierte. Die Organisation und das Kontrollwesen der Firma Bata war sehr gut, so dass bei der Verstaatlichung der Industrie in der Tschechoslowakei nach dem zweiten Weltkrieg dieses Schema für die ganze verstaatlichte Industrie übernommen wurde, was sich bewährt hat.

    Die überragende Stellung der Juden bei der Industrialisierung des Landes bedarf einer besonderen Erklärung, die hier versucht wird. Die Juden in der Tschechoslowakei waren nur eine verhältnismäßig kleine Minorität. Bis zu ihrer Emanzipation in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die mit dem Beginn der Industrialisierung zusammenfiel, war ihre Tätigkeit auf wenige Berufe beschränkt. Sie war sehr arm und lebte hauptsächlich auf dem Lande. Sie waren Getreidehändler, Viehhändler, Hausierer und kleine Geschäftsleute in den Städten. Es gab nur ganz wenige reiche Juden, die ihr Vermögen als Bankiers gemacht haben, wie Rothschild und Gutmann. Ihre Emanzipation setzte aber dann ungewöhnliche geistige Kräfte frei, die ihre Betätigung nicht nur in der Industrialisierung, sondern auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und geistigen Lebens begünstigten und ihnen in der Tschechoslowakei einen Einfluss ermöglichten, der weit über ihr Verhältnis zu der übrigen Bevölkerung hinausging. Die Voraussetzungen für ihre geistige Elastizität lagen einmal in ihrer Beschäftigung mit Handels- und Geldgeschäften sowie wohl auch in ihrem besonderen Glauben an ihre Religion, der ihr Studium begünstigte. Diese geistigen Kräfte waren lange Zeit aufgestaut gewesen. Wie schon erwähnt, lebten die Juden zumeist in den tschechischen Dörfern, sprachen aber merkwürdigerweise beinahe alle auch deutsch. Dies mag damit zusammenhängen, dass in Alt-Österreichs auch in den Ländern der Tschechoslowakei die Amtssprache deutsch war und den Juden als Volk mit stark eingeschränkten Rechten daran liegen musste, sich mit der Obrigkeit gut zu stellen. Der Aufstieg der Juden erfolgte ungemein rasch. Schon in einer Generation wurde sehr oft aus den armen tschechischen Dorfjuden Fabrikanten, Ärzte, Advokaten, Bankdirektoren und Führer des geistigen Lebens und gehörten meistens zur deutsch sprechenden Bevölkerung.

    Die kleine Minderheit von Deutschen in Prag von nur etwa 40.000 Menschen, die dort das geistige und wirtschaftliche Leben beherrschten, bestand hauptsächlich aus Juden. Auch viele Juden, die in Deutschland und Österreich, dabei vor allem in Berlin und Wien zu großem Ansehen kamen, stammten aus kleinen böhmischen Dörfern. Durch den Handel beherrschten die Juden dann im Zuge der Industrialisierung in den deutschen Randgebieten ganze Industriezweige, z.B. die Textilindustrie, mit Ausnahme der Flachsspinnerei. Dieser Industriezweig hat sich vorwiegend bei deutschen Großgrundbesitzern, die Flachs angebaut hatten, entwickelt. Alle übrigen Zweige der Textilindustrie wurden von Juden beherrscht, insbesondere die Baumwollweberei und Spinnerei, die Wollindustrie und die Juteindustrie. Das gleiche gilt für die Porzellanindustrie, die Glasindustrie, die Papierindustrie, die Konfektion, die Lederindustrie, die Handschuhindustrie usw.. Die Kohle- und Schwerindustrie, deren Aufbau große Mittel erforderte, wurde in der Tschechoslowakei von einigen Bankiers und den Banken gegründet und beherrscht, die ihrerseits aber auch wieder von Juden geleitet worden sind. Als dann die Deutschen in den Jahren 1938 und 1939 in die Tschechoslowakei einmarschierten, hat ihnen die überragende Stellung der Juden in allen Gebieten durch die Beschlagnahme des jüdischen Vermögens und die spätere Besetzung aller Spitzenpositionen der Juden durch Deutsche im Rahmen der Arisierung die Einvernahme des Landes sehr erleichtert. Darüber und über die weitere Entwicklung dieses Dramas wird später noch näheres gesagt werden.

    Über meine Familie habe ich zunächst folgendes zu berichten: Die Familie meines Vaters lebte seit einiger Zeit in einem kleinen tschechischen Dorf an der Elbe, etwa 50km südlich von Prag zwischen Pardubitz und Kolin. Dieses kleine Dorf Pre-lauc hatte in Böhmen einen ähnlichen Ruf wie Schilda in Deutschland. Mein Großvater hatte da auf dem Marktplatz ein kleines Bauernhaus mit einem Schuppen und einer Backstube und betrieb Getreidehandel, Futtermittelhandel, eine kleine Bäckerei und ein Gemischtwarengeschäft, wie es in solchen Dörfern üblich war. Der Großvater war arm. Er ernährte mühsam seine 12 Kinder, die nur ganz einfache Schulbildung von ein paar Klassen Volksschule in der tschechischen Schule hatten. Die Familie sprach zu Hause aber deutsch. Von meinem Großvater geht die Mär, dass er seine eigenen Kinder, er hatte ja so viele, auf der Straße nicht wieder erkannte. Alle Geschwister meines Vaters kamen zu Ansehen, zum Teil auch zu großem Vermögen. Nur eine Schwester blieb zu Hause mit ihrem wenig unternehmenslustigen Mann, führte das kleine Gemischtwarengeschäft weiter und ernährte sich nur mühsam.

    Mein Vater kam sehr jung aus dem Haus und erlernte in einem kleinen deutschen Ort im Riesengebirge das Geschäft der sogenannten Faktorei. Es handelt sich dabei um ein kleines Unternehmen, das den Handwebern in den Dörfern Leinengarn zum Verweben lieferte und die fertigen Leinenstoffe übernahm und verkaufte. Mein Vater übersiedelte dann in noch sehr jungen Jahren nach Trautenau im Riesengebirge, einer kleinen Stadt von etwa 15.000 Einwohnern in ganz reizender Umgebung. Als sich dann im Zuge der Industrialisierung in Trautenau und Umgebung die Maschinenspinnerei und Weberei ausbreitete und die Handweberei langsam verdrängte, wurde Trautenau das Zentrum der Leinenindustrie, die sich im Riesengebirge und in der Umgebung von Mährisch-Schönberg immer stärker ausbreitete. In Trautenau wurde dann mit dem Beginn der Industrialisierung die Leinenbörse gegründet, die in einem Hotel Zippel am Marktplatz in einem Saal stattfand und wo dann alle zusammenkamen, die mit der Leinenin dustrie etwas zu tun hatten. An dieser Börse wurde Flachs und Leinengarn gehandelt. Der Flachs, der im Lande wuchs, kam später in zunehmendem Maße, als dieses heimische Rohprodukt nicht ausreichte, vor allem aus den baltischen Staaten, aus Russland und für die feineren Qualitäten aus Belgien.

    Das Wachstum des Flachses ist sehr wetterabhängig. Die Zubereitung des Rohflachses zur spinnbaren Faser und das Verspinnen ist ein sehr schwieriger und komplizierter und entsprechend teurer Prozess. Deshalb ist Leinen auch immer teurer gewesen als Baumwolle. Die Leinenindustrie hatte aus diesem Grunde auch einen schweren Stand gegen die billigere Baumwolle, die aus Amerika importiert wurde und im weiteren Verlauf der Industrialisierung eine weit größere Bedeutung erlangte als Leinen. Der Umgang mit Flachs und Leinengarn erforderte große Fachkenntnisse und lange Erfahrung. Als mein Vater im Jahre 1901 heiratete, war er Direktor der Firma Heinrich Klinger in Wien, die in Trautenau zunächst eine Faktorei betrieben hatte. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung hatte sich diese Firma zu dem bedeutendsten Unternehmen der Leinenindustrie in der ganzen Welt entwickelt mit der Zentrale in Wien und Webereien in allen Kronländern der österreichischen Monarchie. Diese Firma hatte dann später auch eine Monopolstellung in technischen Geweben aus Leinen, wie z.B. Schläuchen. In Trau-tenau wurde später die Faktorei durch einen kleinen mechanischen Betrieb abgelöst. Die wichtigste Funktion meines Vaters im Bereich der Firma Heinrich Klinger war aber der Zentraleinkauf von Leinengarn und Flachs für alle Betriebe dieses riesigen Unternehmens. Der Einkauf erstreckte sich sowohl auf Flachs, den die Firma bei den Spinnereien im Lohn zu Leinengarn verarbeiten ließ, als auch auf den Einkauf von Leinengarn. Die Einkaufstätigkeit war eine sehr verantwortungsvolle und schwierige Tätigkeit. Mein Vater war ein einfacher und bescheidener Mann, der jedermann, ob es sich nun um einen kleinen Handweber handelte oder um einen großen Fabrikanten, mit der gleichen Liebenswürdigkeit ohne große Allüren behandelte. Seine Tätigkeit als größter Einkäufer in der Branche machte ihn zu einer wichtigen Persönlichkeit mit großem Ansehen und rückte ihn auch gesellschaftlich in die erste Reihe. Er war bei jedermann sehr beliebt.

    Meine sehr viel jüngere Mutter, die im Alter von 21 Jahren heiratete, stammte aus einer bürgerlichen, schon arrivierten Familie, welche ihr eine gute Erziehung geben konnte. Mein Großvater mütterlicherseits hatte in der Prager Altstadt in der Michaelgasse ein Textilschnittwarengeschäft. Das sehr verwinkelte, weitläufige Haus, ein altes früheres Kloster, in dem er sein Geschäft hatte und in dem er auch wohnte, war sein Eigentum. Mein Großmutter hat es auch nach dessen Tod, als das Geschäft aufgegeben wurde, bewohnt und lebte als Witwe ganz behaglich mit einem Dienstmädchen von ihren Mieteinnahmen und von den Zuwendungen ihrer Kinder, von denen einige sehr vermögend waren.

    Meine Mutter war anerkanntermaßen eine sehr schöne, reizende Frau, eine sehr gute Hausfrau, die den Haushalt im großbürgerlichen Stil führen konnte und meinem Vater half, in seinem Gesellschaftskreis entsprechend zu repräsentieren. Je nach Jahreszeit hatten wir einen Wagen oder einen Schlitten mit guten Pferden zur Verfügung, was damals ein viel, viel wichtigeres Statussymbol war als heutzutage ein Auto. Zu unserem Haushalt gehörten eine vorzügliche Köchin, Stubenmädchen, Kindermädchen, Wäscherin, Büglerin, Näherin und was man sonst eben damals für einen guten Haushalt brauchte. Meine Mutter hatte, wie es dem damaligen Stil entsprach. eigentlich nur zu repräsentieren und zu organisieren. Aber sie war eine sehr fleißige Frau und griff selbst auch zu, wo immer es notwendig war. An Feiertagen oder wenn Gäste da waren, gab es ein überreichliches, wunderbar zubereitetes Menu. Die Woche über lebten wir einfach. Es gab jeden Tag gekochtes Rindfleisch, das aber in hervorragender Qualität, wie dies in Österreich üblich war. Jeden Tag ein anderes Stück Fleisch mit entsprechenden Zutaten, außerdem Rindsuppe und einen sehr guten Nachtisch. Getrunken wurde im allgemeinen nur frisches Quellwasser, das in Trautenau in vorzüglicher Qualität aus der Leitung kam.

    Meine Eltern verkehrten in freundlicher Weise mit der Spitze der dortigen Gesellschaft und den Fabrikanten der Umgebung. Wir wohnten in dem sogenannten Palais, der früheren Residenz des größten Flachsspinners der Gegend, Faltis, der selber verzogen war. Unser Nachbar im 1. Stock dieses sehr weitläufigen, aber ebenso ungemütlichen Hauses mit riesigen Vorhallen, war Herr Vi-deky, der Direktor der Spinnerei und darüber hinaus Leiter des Leinenspinnerkartells, welches die Aufgabe hatte, das Leinengarn, das die Spinner herstellten, zu verkaufen. In dieser Eigenschaft war er eine Persönlichkeit von großem geschäftlichen Einfluss. Er war gleichzeitig auch Aufsichtsratsvorsitzender der böhmischen Escompte Bank, bei der ich dann später beschäftigt war. Herr Videky, fiir mich Onkel Sandor, der mich seit meiner Geburt kannte, war ein sehr vielseitig interessierter und gebildeter Mann. Er kam aus Ungarn. Ob er jüdischer Abstammung war, weiß ich nicht. Zu seinen Lebzeiten konnte man so etwas noch. nicht erfahren. Er war mit der Tochter eines Generals in Wien aus besonders angesehener Familie verheiratet. Er hatte auch auf meine Entwicklung einen großen Einfluss. Die Familien Humburger und Videka waren eng befreundet, und wir waren täglich beisammen. Die Männer unterhielten sich ständig auch über ihre Geschäfte, so dass ich von Kindheit an in die Geheimnisse der Flachsindustrie eingeweiht war und mich in allen Einzelheiten dieser schwierigen Materie auskannte. Gleichzeitig lernte ich auch vieles über die übrigen Zweige der Textilindustrie.

    Noch bevor ich in die Schule ging, hatte ich Stunden bei einer Engländerin, die in Trautenau unterrichtete, so dass mir diese Sprache sehr geläufig war, bald so wie eine zweite Muttersprache. Von dem ersten Weltkrieg sahen wir wenig. Weder mein Vater noch Herr Videky wurden eingezogen. Während des Krieges erwarb die Firma Klinger eine Fabrik in der Nähe von Trautenau, sehr schön gelegen, zu der auch eine größere Landwirtschaft und eine geräumige Villa gehörte, in der wir im Sommer lebten. Aus dieser Landwirtschaft lebten wir auch im Krieg und hatten keinerlei Not. Zu dem Trautenauer Haus, in dem wir den größten Teil des Jahres lebten, gehörte ein großer Park, der meine Welt war und in dem ich meine Kindheit verbrachte. Ich besuchte vier Klassen einer Unterschule, in der wir gut vorbereitet wurden, und dann sieben Klassen einer höheren Schule, in der nur Französisch und Englisch gelehrt wurde, kein Latein und Griechisch. In dieser Schule machte ich mein Abitur im Jahre 1919, kurz nach dem Ende des ersten Weltkrieges, im Alter von nur 17 Jahren. In Trau-tenau gab es nur diese eine Oberschule, und da mir Latein und Griechisch fehlten und ich keine Lust hatte, diese Sprachen nachzuholen, musste ich auf ein weiteres Studium humanistischer Art verzichten. Ich hätte mich besser für das Jus-Studium oder Betriebswirtschaft geeignet, aber so entschloss ich mich, in Prag Maschinenbau zu studieren, an der dortigen technischen Hochschule, die sehr berühmt war. Ich war kein sehr guter Schüler gewesen, sondern nur ein mittelmäßiger, aber ich hatte nie Schwierigkeiten, in der Schule voranzukommen.

    Nach dem Abitur trat ich aus der jüdischen Gemeinde, der ich bis dahin angehört hatte, aus und ließ mich als konfessionslos registrieren. Mein Elternhaus war nicht religiös; ich hatte an der jüdischen Religion kein Interesse. Ich fühlte mich als Freigeist und Deutscher. Der Freundeskreis meiner Eltern bestand in gleicher Weise aus jüdischen und deutschen Familien. Meine eigenen Schulfreunde waren Deutsche und Juden. Ich hatte, wie ich es zu Hause gelernt hatte, keinerlei soziale Vorurteile und verkehrte mit jedermann, ob arm oder reich, in gleicher Weise. Im Gesellschaftskreis meines Elternhauses hatte ich gelernt, auch mit hochgestellten Leuten auf gleicher Ebene zu verkehren und mich zu behaupten.

    In den Ferien nach dem Abitur erblindete ich nach einem Sprung in kaltes Wasser an einem sehr heißen Tag auf dem linken Auge. Es stellte sich dann heraus, dass ich an einer tuberkulösen Erkrankung der Blutgefäße der Augen litt. Die erste Blutung ging rasch vorbei, aber es stellten sich später viele, zum Teil sehr starke Blutungen ein. Diese Krankheit hatte auf meine weitere Entwicklung einen großen Einfluss. Ich begann dann im Jahr 1919 mein Studium in Prag und wohnte bei meinem reichen Onkel, bei dem ich sehr gut aufgehoben war. Im nächsten Frühjahr erkrankte ich an einer schweren Grippe und bekam anschließend einen Lungenspitzenkatarrh. Mein Onkel schickte mich nach Meran, wo ich in sechs Wochen diese Krankheit ausheilen konnte. Ich fuhr über Venedig, Triest und Wien nach Hause zurück. Das war in der damaligen Zeit für einen so jungen Mann eine wunderbare Reise, die meinen Gesichtskreis sehr erweitert hat. Mein Augenleiden machte sich dann wieder bemerkbar, was mich veranlasste, das Studium zunächst aufzugeben. Ich fuhr nach Hause und arbeitete zwischen den Blutungen in der Firma des Onkels Sandor. Das Kriegsende im Jahr 1918 und der Zerfall des österreichischen Reiches, zweifellos Ereignisse von großer Bedeutung, haben auf mich keinen Eindruck gemacht und ich habe daran keine Erinnerungen.

    Die Eltern Humburger, ca. 1900

    Willi mit Mutter und mit Eltern in Heringsdorf

    Willi wird erwachsen

    2. Zur Inflationszeit in Wien, 1921 – 1923

    Mein Augenleiden hat sich dann verschlechtert, und meine Eltern schickten mich nach Wien zu einem Professor Löwenstein, dem Bruder des Augenspezialisten, der mich in Prag behandelt hatte. Professor Löwenstein behandelte mich mit Tuber-kulin und schickte mich zu den Professoren Fuchs in Wien. Das waren damals, Vater und Sohn, die berühmtesten Augenärzte in Europa. Das rechte Auge war auch erkrankt, blutete aber nicht. Ich hatte, und zwar in immer stärkerem Maße Blutungen im Glaskörper des linken Auges, die mich oft für längere Zeit blind machten. Zur rascheren Aufsaugung der Blutungen bekam ich dann Injektionen von konzentriertem Kochsalz, und zwar jeweils 1 cbcm direkt ins Auge unter die Bindehaut. Das war ein ganz furchtbar schmerzhaftes Verfahren. Das Auge schwoll stark auf, und ich musste viele Tage im verdunkelten Zimmer liegen, ohne mich zu rühren. Ich musste äußerst vorsichtig leben, Sport und jede sexuelle Aufregung waren mir verboten. Das war für einen so jungen Mann - ich war damals 19 Jahre alt - eine sehr schlimme Zeit.

    In Wien lebte ich damals in einer kleinen, verhältnismäßig billigen Pension. Eine reiche alte Engländerin nahm sich meiner an und bemutterte mich und einen jungen schwedischen Offizier, der auch in der Pension lebte und irgendwelche Kurse absolvierte. Diese überaus freundliche Dame hat mir damals sehr geholfen, diese schwierige Zeit meines Lebens zu überwinden. Sie nahm uns mit ins Theater, in die Oper, auf den Semmering, in teure Restaurants. Es dauerte in Wien damals ca. ein Jahr, bis ich ausgeheilt war. Ich hatte keine Lust, nach Prag oder Trautenau zurückzukehren, sondern wollte in Wien bleiben. Die Inflation hatte angefangen, und an der Börse hatte der wilde Spekulationstaumel begonnen. Die Banken und Bankhäuser suchten dringend junge Leute, um die Arbeit der Effektenbüros zu bewältigen. Ich trat bei Rosenfeld & Co., einem sehr reichen und angesehenen Bankhaus in der Rathausstraße, ein. Ich war eigentlich nicht mehr als ein Schreiber im Börsenbüro im Zentrum des Spekulationsfiebers, und es konnte nicht ausbleiben, dass dieses Fieber auch mich erfasste.

    In der Tschechoslowakei hat es eine geschickte Regierung verstanden, das Land vor der Inflationskatastrophe seiner Nachbarn zu retten. Die tschechische Krone war nach dem Krieg auch weniger wert als vorher, im Gegensatz zu den Nachbarländern wurde die tschechische Krone aber aufgewertet und zwar ganz gehörig, wenn ich mich recht erinnere um 25 oder 30%. Dies brachte zwar gewisse Schwierigkeiten für die Exportindustrie mit sich,

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