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Verlorene Seelen: Ein Hamilton-Krimi
Verlorene Seelen: Ein Hamilton-Krimi
Verlorene Seelen: Ein Hamilton-Krimi
eBook319 Seiten4 Stunden

Verlorene Seelen: Ein Hamilton-Krimi

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Über dieses E-Book

Ein Unbekannter liegt tot im Holyrood Park, ein Wohnungseigentümer findet die Leiche eines Obdachlosen - Alltagsroutine für die Polizei in einer Großstadt. Doch für den Chef der schottischen Kriminalpolizei Bob Hamilton ist das Desinteresse der Kollegen und der Öffentlichkeit fast schon zu auffällig und so nimmt er die Ermittlungen selbst in die Hand. Doch bald eröffnen sich ihm Abgründe, die er am liebsten verdrängen würde. Und allmählich verwischen die Linien zwischen Gut und Böse, zwischen Freund und Feind.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Apr. 2020
ISBN9783347042292
Verlorene Seelen: Ein Hamilton-Krimi
Autor

Ralf Göhrig

Ralf Göhrig wurde 1967 in Eberbach am Neckar geboren. Seit rund dreißig Jahren lebt und arbeitet der anglophile Förster in Jestetten am Hochrhein. Seine literarischen Spuren hat er in forsthistorischen Betrachtungen, sowie vereinsgeschichtlichen Rückblicken hinterlassen. Seit 1995 ist er Autor für die Jestetter Ortschronik, seit 2019 hauptverantwortlicher Chronist der Gemeinde. Daneben arbeitet Göhrig als freier Mitarbeiter beim Südkurier. Im Jahre 2011 legte er mit "Kopflos in Cornwall" seinen ersten Kriminalroman vor. Es folgten "Mörderischer Sturm", "Jerusalem", "Schatten folgen dem Licht", "Der Cornwall-Ripper", "Sendeschluss in Edinburgh", "Verlorene Seelen", "Dämonen", die Erzählungen "Geschenk des Himmels" und "Lotty" sowie der Gedichtband "Purpurne Zeit". Ralf Göhrig ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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    Buchvorschau

    Verlorene Seelen - Ralf Göhrig

    Kapitel 1

    Arthur’s Seat lag im warmen Licht der nachmittäglichen Frühjahrssonne, was dem Berg einen märchenhaften Glanz verlieh. Kräftiges Grün, das allmählich in Gelb- und Brauntöne überging, über dem 251 Meter hohen Gipfel das schattige Blau des Himmels, welches vom jüngst vergangenen Regenschauer Zeugnis ablegte. Für Einheimische ein gewohntes Bild, für Fremde, besonders Touristen, das Ziel aller Sehnsüchte, die mystische Natur inmitten der Stadt.

    Niemand weiß, wie der Berg, der inzwischen komplett von den Vororten der schottischen Hauptstadt umschlossen ist, zu seinem Namen gekommen ist. Es gibt keine gälische Bezeichnung und die Vergangenheit des Basaltfelsens, genauer genommen des Lavadoms eines urtümlichen Vulkans aus dem Erdzeitalter des Karbons, ist weitgehend unbekannt, was dazu führt, dass die Sagen und Mythen darüber inzwischen fast zur Wahrheit geworden sind. Und etliche Menschen sind der Ansicht, dass hier tatsächlich das legendäre Camelot von König Arthur gestanden habe. Der Südwesten von England beansprucht allerdings ebenfalls, der Hüter der Tafelrunde zu sein, und so mögen sich die Freunde der Arthur-Sage darüber streiten, wo denn nun dieser seine mutmaßlichen Heldentaten begangen hatte. Tatsächlich belegt ist hingegen die menschliche Präsenz in prähistorischer Zeit.

    Unbeeindruckt von erfundener oder wahrer Geschichte ist der eindrucksvolle Berg inmitten des Holyrood Parks ein beliebter Naherholungsort für die städtische Bevölkerung, die ihn auf zahlreichen Pfaden oder über die steilen Basaltklippen bezwingt, um dann die großartige Sicht über die Stadt bis ins Hinterland oder aufs Meer zu genießen. Die Menschen führen hier ihre Hunde Gassi, verbringen die Mittagspause auf einer Sitzbank oder einer der zahlreichen Grünflächen, Liebespärchen schlendern händchenhaltend oder eng umschlungen im Schatten der grünen Bäume und Selbstmörder stürzen sich von den Salisbury Crags.

    Die Person, die unterhalb dieser Klippen mitten in einem Gebüsch unweit des breiten Wanderwegs lag, hatte keinen Selbstmord begangen. Dies war Brian Walker schnell klar geworden, denn der Tote wies ein hässliches, kreisrundes Loch in seiner Stirn auf, das mutmaßlich von einer Kugel stammen musste.

    Die Leiche war vom Weg aus weder zu sehen noch zu riechen – für einen Menschen zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls noch nicht –, doch für Walkers Hund, einen achtjährigen Labrador, der auf den Namen Ike hörte, war dies ein Leichtes gewesen. Der Hund umkreiste seinen Herrn, wie er das bei allen Spaziergängen machte, und Walker dachte sich nichts dabei, als er in diesem Gebüsch verschwand. Normalerweise kehrte Ike auch recht bald von solchen Erkundungen zurück, doch dieses Mal war das nicht der Fall: Plötzlich bellte er laut und dauerhaft. Dieses so genannte „Totverbellen" war bei Jagdhunden eine gewünschte und herausgezüchtete Eigenschaft, denn so konnten sie gefundenes und verendetes Wild bei einer Jagd dem Hundeführer anzeigen, der sich dann nur noch dem Hundegebell nähern musste. Dies tat an diesem 4. Mai, einem Montag, Brian Walker nun auch und war gespannt, warum der Hund denn so ausdauernd bellte. Walker war zwar kein Jäger, wusste aber um die Wesenszüge seines vierbeinigen Freundes und erwartete, der Jahreszeit entsprechend, eigentlich eher ein Rehkitz, das von seiner Mutter im Dickicht abgelegt worden war. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass es am Arthur’s Seat Rehe geben sollte, andererseits lebten Rehe genau in solchen kleinen Gehölzen, wie sie hier vorzufinden waren.

    Dass es dann doch kein Reh war, das Ike gefunden hatte, überraschte den ehemaligen Postboten, der im ländlich geprägten Süden von Edinburgh vierzig Jahre lang Briefe und Pakete im Namen der Königin zugestellt hatte, und die gefundene Leiche übte einen größeren Reiz auf ihn aus, als er sich das hätte vorstellen können. Vielleicht war es auch nur der Schock, aber die Faszination, die von dem toten Mann ausging, überwog deutlich das Erschrecken über den gewaltsamen Tod eines Menschen. Zwar hatte Walker bereits Tote gesehen – die eigenen Großeltern, die eigenen Eltern, sonstige Verwandte, auch ein paar Verkehrsopfer und sogar schon einen toten Obdachlosen in einer belebten Einkaufsstraße. Doch dies war etwas anderes. Offenbar wurde dieser Mann ermordet. Ein Schauer der Faszination lief über Walkers Rücken und er beugte sich über den Leichnam, in der vagen Vorstellung, ihn zu kennen. Doch er wusste nicht, um wen es sich hierbei handelte. Ein Mann, mittelgroß, vielleicht Mitte 40, das volle Haar dunkel, mit grauen Strähnen durchzogen, blaue Augen, die seltsam teilnahmslos in den Höhlen ruhten, neue Trekking-Schuhe, blaue Jeans, dunkelgrüne Outdoor-Jacke, Ehering! Er machte einen gepflegten Eindruck auf Walker, wenn man so etwas von einem Toten behaupten kann. Wer mochte dieser Mann wohl sein und warum lag er jetzt hier tot vor ihm? Walker konnte seinen Impuls, den Mann zu durchsuchen, stoppen und zog stattdessen sein Mobiltelefon hervor, um die 999 zu wählen.

    Es dauerte keine zehn Minuten, bis die erste Polizeistreife am Fundort der Leiche eintraf. PC Ken Cox und seine Kollegin PC Marsha Hunt waren gerade auf Streife im Holyrood Park unterwegs, als der Notruf an sie weitergeleitet wurde. Während sich die Polizistin um die Absicherung des Tatortes kümmerte, nahm Cox die Personalien Walkers auf. Dieser redete seinem Hund gut zu, da er offenbar Uniformen nicht leiden konnte und die Polizeibeamten anknurrte. „Er mag keine Kopfbedeckungen, sagte Walker entschuldigend. „Egal ob Hüte oder Motorradhelme, und den Schornsteinfeger kann er überhaupt nicht ausstehen, ergänzte er, als ob diese Information den Polizisten interessiert hätte.

    Kurze Zeit später waren weitere Polizisten eingetroffen und bald flatterte ein blauweißes Plastikband in einem weiten Bereich um die Fundstelle der Leiche. Der Wanderweg war mit dem Hinweisschild gesperrt, dass es sich um eine „Crime-Scene" handelte.

    Nach einer weiteren halben Stunde wimmelte es nur so von Polizisten und Walker wurde von Ken Cox zu einem Mannschaftswagen, einem schwarzen Mercedes-Bus, geführt und hineingebeten. Er stieg gespannt ein, Ike, der Labrador, folgte ihm neugierig.

    „Nehmen Sie doch bitte Platz, bat ihn eine rothaarige Frau mit feinen Gesichtszügen. „Ich bin Chief Inspector Hamilton von der CID der E-Division in Edinburgh und leite die Untersuchungen in diesem verdächtigen Todesfall.

    Walker nickte und Rebecca Hamilton konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen, denn eigentlich war sie als Leiterin der Abteilung für häusliche Gewalt nicht für Mordfälle zuständig. Da der zuständige Ermittlungsbeamte jedoch im Urlaub, sein Stellvertreter auf Fortbildung und ansonsten kein leitender Kriminalbeamter vor Ort war, riss sie diesen Fall, zumindest vorübergehend, an sich. Wenn es kompliziert wurde, tauchten ohnehin die Kollegen des Ermittlungsteams aus dem Hauptquartier auf. Dort thronte ihr Mann, Bob Hamilton, als Chef der schottischen Kriminalpolizei berühmt und berüchtigt, wobei das Eine wohl die Voraussetzung des Anderen war.

    Neben Rebecca saß noch eine weitere Polizistin, Sergeant Emily Carter, ihre engste Mitarbeiterin, im Fahrzeug, schwieg jedoch und machte nur ab und an durch ein sanftes Nicken auf sich aufmerksam.

    „Gehen Sie hier häufig mit ihrem Hund spazieren, Mr Walker?"

    „Ja, Madam, fast jeden Tag. Nur wenn das Wetter zu ungemütlich ist, bleiben wir unten im Park. Am Morgen und Abend laufen wir nur mal eben um den Block – ich wohne mit meiner Frau Alice in der Nähe von Holyrood Palace –, aber am Nachmittag machen wir immer einen ausgiebigen Rundgang bis oben. Mehr an sportlicher Betätigung ist mir nicht geblieben. Früher habe ich mal Fußball gespielt, aber das wird Sie wohl nicht interessieren."

    Persönlich hatte Rebecca tatsächlich kein Interesse an Walkers Leben und sportlichen Aktivitäten, doch als Polizistin hatte sie gelernt, dass alles, was ein Zeuge oder Verdächtiger zu sagen hatte, von Bedeutung werden konnte.

    „Ist Ihnen in jüngster Zeit bei Ihren Spaziergängen etwas aufgefallen?"

    „Wie soll ich diese Frage verstehen?"

    Rebecca strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Sind Ihnen Personen aufgefallen, die sich auffällig verhalten haben, oder gab es Vorfälle, die außergewöhnlich waren?"

    Walker zuckte mit den Schultern. „Nicht dass ich sagen könnte. Hier gibt es so viele Menschen; Einheimische, Touristen, die Junkies unten in Stadtnähe. Da gibt es bisweilen schon seltsame Typen. Doch über so manches Verhalten, das vor dreißig oder vierzig Jahren noch die Polizei auf den Plan gerufen hätte, sieht man heute geflissentlich hinweg."

    „Ist Ihnen heute etwas Besonderes aufgefallen?"

    „Nur der tote Mann. Mein Hund ist im Dickicht verschwunden und fand ihn."

    „Kennen Sie das Opfer?"

    Fast schon entsetzt starrte Walker die Polizistin an. „Nein, den habe ich noch nie gesehen, Madam. Wieso fragen Sie?"

    Rebecca ging nicht auf seine Gegenfrage ein. Sie versuchte abermals, ihre widerspenstige Haarsträhne zu bändigen, und fragte dann nach Walkers Personalien.

    „Das habe ich doch schon alles dem Polizisten draußen erzählt", meinte er gereizt.

    „Ich möchte Sie trotzdem bitten, sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln und schob ihm ihre Karte entgegen. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen. Sie streckte ihm die Hand entgegen und verabschiedete den Mann und seinen Hund.

    „Warum hast du nicht energischer nachgehakt?", fragte Emily Carter, nachdem Walker das Fahrzeug verlassen hatte.

    Rebecca zupfte sich ihr Jackett zurecht und lehnte sich entspannt zurück. „Hast du nicht gespürt, wie der Mann plötzlich dicht gemacht hat?"

    „Gerade deshalb hätte ich ihn in die Mangel genommen."

    „Es gibt zwei Möglichkeiten. Die Wahrscheinlichste ist, dass Walker das Opfer nicht kennt, doch befürchtet, in die ganze Geschichte mit hineingezogen zu werden."

    „Das verstehe ich jetzt nicht ganz", warf Emily ein.

    „Stell dir vor, du wirst von der Polizei befragt und dann auch noch in einem Mordfall. Jeder Mensch ist nervös, wenn die Polizei Fragen stellt, ganz besonders, wenn es sich um ein schweres Verbrechen handelt. Ich habe schon so oft erlebt, dass ganz normale und unbeteiligte Zeugen plötzlich von der Angst überwältigt wurden, in das Verbrechen hineingezogen zu werden. Und bei Mr Walker war diese Stufe erreicht."

    „Und wenn er den Mann doch kennt? Vielleicht sogar der Täter ist?" Emily sah ihre Vorgesetzte gespannt an.

    „Dann erfahren wir das noch früh genug, antwortete diese mit einem Lächeln. „Aber das glaube ich nicht.

    „Wissen wir denn schon, wer das Opfer ist?"

    „Nein. Der Mann hatte keine Papiere bei sich und viel mehr konnten die Kollegen nicht sagen, da müssen wir abwarten. Wenn sich die Identität nicht bald herausstellt, werden wir ein Bild in den Medien veröffentlichen."

    „Ich hatte noch nie mit einem Mordfall zu tun, sagte Emily nach einer Weile des Schweigens. „Also noch nie mit einem richtigen, aktuellen Mordfall. Das ist alles so unwirklich.

    Rebecca nickte. „Und das wird alles vermutlich noch viel schlimmer und unwirklicher, wenn etwas Licht in die Sache kommt und wir hinter die Kulissen schauen können. Das ist ganz anders als bei den theoretischen Fällen in der Polizeischule oder bei alten Fällen, die zu Ausbildungszwecken durchgekaut werden. Wir werden es mit richtigen Menschen zu tun haben, die in Abgründe schauen, die wir uns besser gar nicht vorstellen."

    Die Abteilung für häusliche Gewalt war schon schlimm genug, aber Todesfälle waren nicht an der Tagesordnung, wenn auch misshandelte Kinder, Ehefrauen, Ehemänner oder Großeltern das Seelenleben der Polizeibeamten bisweilen sehr in Unordnung brachten. Doch es bestand immer die Hoffnung, eine scheinbar aussichtslose Situation zum Guten zu wenden, die Not, das Leid, die Angst, die Traurigkeit zu lindern. Es flackerte meist ein Licht am Ende des Tunnels, zumindest bestand die Hoffnung auf eine Besserung der Situation.

    Bei der Mordkommission war dieses Licht erloschen, die Hoffnung zu Staub zerborsten, das Grauen ausweglos. Wenn ein Kriminalbeamter mit Leichen, mit gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen zu tun hatte, dauerte es oft nur kurze Zeit, bis er sich in zynischen Sarkasmus, exzessiven Alkoholkonsum, innere Emigration oder alles zusammen gleichzeitig flüchtete.

    Rebecca Hamilton hatte schon viele Kollegen an der Last ihrer Aufgabe zerbrechen sehen. Als Polizistin mit abgeschlossenem Journalismus-Studium war sie lange Jahre als Pressesprecherin der Polizeibehörde von Devon und Cornwall tätig gewesen und hatte den ganzen Polizeibetrieb eher aus der Beobachterwarte aus gesehen. Ähnlich einer Nachrichtensprecherin im Fernsehen hatte sie gelernt, unbeteiligt zu bleiben, und da sie in die eigentlichen Ermittlungsarbeiten nicht involviert war, konnte Rebecca sich gut von den ganzen Verbrechen und Abgründen menschlichen Verhaltens abgrenzen. Doch sie musste beobachten, wie viele Ermittlungsbeamte im Laufe der Jahre von diesem Job zunehmend aufgerieben wurden. Zerbrochene Familien, Alkoholeskapaden, Nikotin und andere Drogen, Glücksspiel, Schulden und sonstige Scherbenhaufen des Lebens waren treue Begleiter vieler Polizisten und manche gerieten derart tief in den Sumpf, dass sie sich plötzlich auf der anderen Seite des Gesetzes wiederfanden.

    Jeder Polizist musste einen Weg finden, einigermaßen unbeschadet die Jahre durchs Berufsleben zu überstehen. Lernen sich abzugrenzen. Doch dieses Vorhaben glich nur zu oft einem guten Vorsatz zu Jahresbeginn, der bald über Bord geworfen wurde. Die menschliche Natur war nun mal durch die Fähigkeit zur Empathie geprägt. Wer sie verloren hatte, war zwar immun gegen die Grausamkeiten des Polizeilebens, aber eben auch kein menschliches Wesen mehr.

    Manchmal fragte sich Rebecca, wie ihr Mann mit diesen Grausamkeiten umging. Als Kripochef hatte er schon lange Zeit die tägliche Alltagsarbeit hinter sich gelassen, doch sie wusste, dass Bob als verdeckter Ermittler in Manchester Dinge erlebt hatte, die sie gar nicht wissen wollte. Außerdem hatte er Kontakte in die höchsten Kreise von Politik und Gesellschaft und offenbar auch Verbindungen in dubiose, kriminelle Milieus. Doch darüber würde er nie mit ihr sprechen. ‚Es ist sicherer für dich, wenn du manche Dinge nicht weißt und dir auch nicht den Kopf darüber zerbrichst’, hatte er einmal vor Jahren zu ihr gesagt, und sie hatte beschlossen, diesen Rat zu befolgen. Vermutlich war es nicht ganz so extrem wie in den Büchern von Ian Rankin, dessen Inspektor John Rebus mit dem Chef der Edinburgher Unterwelt im Pas de Deux durch die Geschichten geistert, doch irgendwie schien es so, als seien Gut und Böse nicht so leicht zu trennen, wie es in alten Hollywood-Western gezeigt wurde, in denen John Wayne kurzerhand die Bösen erschoss. Es war Rebecca, wie jedem vernünftigen Menschen, schon lange klar, dass die Welt nicht in Schwarz und Weiß, sondern allenfalls in diverse Grautöne einzuteilen war, doch je älter sie wurde, desto mehr verdichtete sich ihre Überzeugung, dass Gut und Böse bisweilen den gleichen Ursprung hatten.

    „Was machen wir jetzt?" Emily Carter riss sie aus ihren Gedanken.

    „Akten studieren, Spuren auswerten, Zeugen befragen", antwortete Rebecca lapidar, ohne ihre Kollegin anzusehen.

    „Das heißt, wir fahren zurück ins Büro?", fragte sie fast ungläubig.

    Rebecca nickte. „Hier können wir nicht mehr viel tun. Die Kollegen von der Spurensicherung kümmern sich um den Tatort, die Pathologen um die Leiche. Und Sergeant Hillman befragt mit seinem Team die Passanten draußen auf den Wegen. Vielleicht hat jemand etwas gesehen. Wenn wir Glück haben, ergibt sich rasch ein Bild, vielleicht ist alles ganz einfach und die Puzzleteile lassen sich recht schnell zusammensetzen. Jetzt nahm sie Blickkontakt zu Emily auf. „Aber zunächst müssen diese Puzzleteile gesammelt werden. Doch ich befürchte, das wird eine harte Nuss.

    „Wieso meinst du?"

    „Nur so ein Gefühl. Das Opfer hatte keine Ausweispapiere bei sich und auch keine Geldbörse. Das einzig Persönliche, das er trug, war ein Ehering. Der lässt sich aber nicht ohne weiteres lösen, und das ist vermutlich unsere wichtigste Spur."

    Emilys Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie nicht folgen konnte. „Kannst du mir das erklären?"

    Rebecca lächelte. „Es ist noch zu früh, etwas zu sagen. Doch der Mann hat keine Papiere, die ihn identifizieren. Aber einen Ehering. Vermutlich hat der Täter versucht, den Ring zu entfernen, wurde aber gestört."

    „Wie kommst du darauf?"

    „Was würdest du machen, wenn sich ein Ring nicht lösen lässt?"

    „Seife", schlug Emily vor.

    „Und wenn du keine Seife hast und der Ringträger ohnehin tot ist?"

    „Messer?"

    Rebecca nickte. „Wer jemanden umbringt, hat gewiss nur wenig Hemmungen, einer Leiche den Finger abzutrennen. Das geht übrigens recht gut, wenn man den Finger am Gelenk löst."

    Emily verzog das Gesicht. „Du bist gruselig."

    „Das ist unser Beruf."

    Kapitel 2

    Kayla Rosscraig konnte sich glücklich schätzen. Mehr als glücklich, denn sie fand eine Wohnung in Edinburgh. Damit hätte sie niemals gerechnet, nicht mit einer solchen Unterkunft in der Cumberland Street in der New Town, mitten in der Stadt, in bester Lage. Es waren zwar lediglich 45 Quadratmeter, die sich auf eine Wohnküche, ein kleines Schlafzimmer und ein Badezimmer unter dem Dach verteilten, doch für Kayla war dies die Erfüllung eines Traumes. Eine eigene Wohnung! Mehr noch, eine bezahlbare Wohnung, denn sie gehörte einem Freund ihres Vaters, der dafür keine Verwendung hatte, sie aber auch nicht an Fremde vermieten wollte. Und verkaufen kam auch nicht in Frage, eine Wohnung in Edinburgh kann man schließlich immer brauchen. Um die Sache perfekt zu machen, lag sie auch nur wenige Minuten von Kaylas Arbeitsplatz entfernt. Seit Beginn des Jahres war Kayla in der Verwaltung der Scottish National Portrait Gallery beschäftigt. Wohl nicht das, was man als definitiven Traumjob bezeichnen konnte, doch Kayla war kunstinteressiert, in der schottischen Historie bewandert und hatte eine gewisse Affinität zu trockener Büroarbeit. Außerdem lag das Museum in der Queen Street und damit nur wenige Hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt. Sie konnte also bequem zu Fuß zur Arbeit gehen und musste nicht, wie früher, fast eine Stunde lang mit dem Auto fahren. Das sparte Zeit und vor allem Geld, denn als Erstes hatte sie sich ihres motorisierten Untersatzes, einem alten Vauxhall Astra, der zum Groschengrab mutiert war, entledigt. Hier in der Stadt konnten alle Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigt werden. Und im Fall der Fälle stand immer noch die Option eines Mietwagens offen.

    Kayla Rosscraig war 23 Jahre alt, eins sechzig groß und hatte lange, dunkle Haare und blaue Augen. Vielleicht konnte sie als etwas pummelig bezeichnet werden, in jedem Fall war sie in den Augen der vorherrschenden Meinung eine attraktive junge Frau mit einem freundlichen Lächeln, gutem Geschmack und ausreichender Bildung, um sich trittsicher auf dem Parkett der gehobenen Mittelklasse zu bewegen. Sie hatte keinerlei Ambitionen, die Welt zu verändern, gar zu verbessern, doch Kayla wollte ihr Leben so führen, dass sie auch am Ende des Tages ohne Reue zurückblicken konnte.

    Sie stammte aus Kelso, dem malerischen Ort am Zusammenfluss von Tweed und Teviot, und wurde als drittes Kind eines Bankangestellten und einer Grundschullehrerin geboren. Ihre beiden älteren Brüder waren in die Fußstapfen des Vaters getreten. Während Peter, der Ältere, inzwischen in der Frankfurter Niederlassung der Royal Bank of Scotland beschäftigt war und sich anschickte, Karriere zu machen, war ihr Bruder Steve zu Hause geblieben und arbeitete als Finanzberater der TSB Bank in Kelso. Kayla fand nach ihrer Schulzeit einen Job in Alnwick bei der Familie Percy, deren Oberhaupt den Titel des Herzog von Northumberland trägt. In Alnwick Castle informierte sie Touristen über die Geschichte des Schlosses und der Region. Besonderer Stolz des Schlossherrn war einer von nur drei erhaltenen englischen Langbogen aus dem Jahr 1464. Trotz guter Arbeitsbedingungen und einer abwechslungsreichen Tätigkeit wurde Kayla bald bewusst, dass sie nicht ihr ganzes Leben lang Touristen durch das alte Gemäuer führen wollte. Außerdem war und fühlte sie sich durch und durch als Schottin und fühlte sich in England nicht so ganz wohl. Daher blieb sie auch in Kelso in der elterlichen Wohnung und legte die 70 Kilometer auf der A697 zwei Mal täglich mit ihrem Auto zurück. Und dann erhielt sie das Angebot der Stelle in Edinburgh.

    Hier konnte sie ein neues Leben beginnen, zumindest einen neuen Lebensabschnitt. Die Jahre in Alnwick waren lehrreich und abwechslungsreich gewesen und die Kindheit endgültig beendet. Ihre Freundinnen aus Kelso waren in alle Winde zerstreut. Laura Nichol hatte diesen Neuseeländer geheiratet und war ihm in die Einöde der Südinsel gefolgt, Louise Tennant suchte ihr Glück in Nottingham, Katie Briggs war als Flugbegleiterin auf den Langstrecken von British Airways unterwegs, Amanda Cahill lebte als dreifache Mutter in Dublin und Emma Silverman hatte es nach Tel Aviv verschlagen. Lediglich Rosie Brennan war in der kleinen Stadt am Tweed geblieben. Und die hatte sich an ihren Bruder herangeworfen. Das würde sie Steve nie verzeihen. Er hätte sich mit jeder Frau auf der ganzen Welt einlassen können, doch nicht mit dieser blöden Kuh Rosie. Die war schon früher nur ein geduldetes Anhängsel gewesen, und jetzt hatte sie sich in ihre Familie geschlichen. Vermutlich würde sie sich alsbald schwängern lassen und dann war eine Hochzeit unvermeidlich. Leider war in vielen Gegenden Schottlands die Zeit stehen geblieben.

    Insofern war Kayla glücklich, in Edinburgh zu leben, der großen kleinen Stadt zwischen Meer, Lowlands und Pentland Hills. Eine Stadt auf sieben Hügeln, die weltstädtisches Flair verbreitete, aber bald ländlich wurde, je näher man an die Stadtgrenzen heran rückte. Die unzähligen Touristen drängten sich auf einem relativ kleinen Gebiet zwischen Royal Mile und Princess Street, die Seitenstraßen, die Stadtbezirke und die Parks hatten die Einheimischen für sich.

    Wobei die Schotten keineswegs fremdenfeindlich waren. Im Gegenteil, es lebten viele Nationen gut integriert in dem kleinen Land nördlich des Tweeds. Lediglich die Touristen waren eine Plage, besonders die Amerikaner, die heuschreckengleich einfielen und auf penetrante Weise versuchten, das Land ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Vorfahren kennen zu lernen. Leider nur auf die uramerikanische, oberflächliche Art und Weise, die sich in Kilt-, Dudelsack- und Whiskyorgien offenbarte. Einen wirklichen Draht zu den Menschen, den Bergen, Tälern und Seen, zur Seele des Landes fanden die Amerikaner nicht. Aber immerhin reisten diese Typen wieder ab. Viel schlimmer waren die reichen Araber, die ganze Landstriche aufkauften und die Heimat auf die gleiche schändliche Weise missbrauchten wie die englischen Gutsherren im 18. Jahrhundert.

    Doch daran dachte Kayla im Augenblick nicht. Sie saß mit ihrer Arbeitskollegin, Chloe Blackburn, im Wally Dug, einem gemütlichen Pub in der New Town, und diskutierte über die bevorstehende Neubesetzung der Leitung der Abteilung, in der die beiden arbeiteten. Der alte Chef, ein aus der Zeit gefallener Vertreter der göttlichen Ordnung, der Frauen hinter dem Herd und Männer im Ledersessel ihres Herrenclubs – zu dem das weibliche Geschlecht freilich keinen Zugang hatte –

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