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Die magische Kraft des Wünschens
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eBook932 Seiten12 Stunden

Die magische Kraft des Wünschens

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Über dieses E-Book

September 2000: Kurz vor seinem dreizehnten Geburtstag gerät Roger aus Berlin in das Magische Reich, ein Paralleldeutschland, in dem Hexen und Zauberer sich vom vierzehnten Jahrhundert an eine Zuflucht und Heimat geschaffen haben. Regiert wird das Reich von der Großkanzlerin Allegra, die - wie Roger selbst - aus Berlin stammt, sich seiner annimmt und sich sogar um seine Freundschaft bemüht. Roger, der für die schöne, kluge Allegra schwärmt, sie bewundert und verehrt, ahnt nicht, dass sie zwei Gesichter hat - und dass er selbst eine Schlüsselrolle in ihren Plänen spielt. Als sich die Anzeichen verdichten, dass der gestürzte und totgeglaubte Gewaltherrscher Nero aus dem Untergrund heraus seine Rückkehr an die Macht vorbereitet, will Roger - der sich gern ein wenig überschätzt - "seine" Allegra um jeden Preis schützen und setzt sich über ihr ausdrückliches Verbot hinweg, sich um ihretwillen in Gefahr zu begeben. Sein Versuch, eine Gruppe ihrer Gegner auszuspionieren, verstrickt ihn immer tiefer in ein Dickicht aus politischen Manövern, Intrigen, Verrat - und Mord. Roger muss er sich einer verstörenden Erkenntnis stellen: nämlich, dass nicht nur Allegra ein zweites Gesicht hat, von dem er nichts ahnt, sondern auch er selbst…
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Sept. 2020
ISBN9783347123656
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    Buchvorschau

    Die magische Kraft des Wünschens - M. G. Fermand

    ROGER

    Roger wusste nicht, wie ihm geschah, als das Schulgebäude um ihn herum sich unversehens in Luft aufzulösen schien. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er sich im freien Fall aus fast zwanzig Metern Höhe befand und die Erde unaufhaltsam auf ihn zuraste.

    Gerade, als ihn die Erkenntnis durchzuckte, dass er sterben würde, verlangsamte sich sein Sturz, als finge ein unsichtbares Netz ihn auf, und er landete weich auf allen Vieren.

    Roger sah sich um. Die Schule war verschwunden. Die Stadt war verschwunden. Der Boden unter ihm roch nach frisch gepflügter Erde, denn er war auf einem Acker gelandet. Ein Mann mittleren Alters, der ein großes schwarzes Barett und einen grünen Leinenumhang trug, und dessen Kleidung im Übrigen aussah, als sei sie aus Jutesäcken zusammengenäht worden, lief auf ihn zu, während er sich aufrappelte.

    „Det ick det ooch mal erleben darf!, rief der Mann, kurz bevor er ihn erreichte. „Du musst näm‘ich wissen, det sowat sehr selten jeschieht!

    „Ach wat?", versetzte Roger. Der Mann wollte ihn veralbern, so etwas geschah überhaupt nicht, es sei denn – im Traum! Na klar, er träumte!

    Roger hatte sich angewöhnt, sich in absurden oder bedrohlichen Situationen immer zu fragen, ob er womöglich träumte, um gegebenenfalls den Notausgang zu benutzen, den er selbst erfunden hatte: Wurde ein Alptraum nämlich zu schrecklich, dann pflegte Roger sich einfach selbst die Augenlider hochzuziehen und sich dadurch zum Erwachen zu zwingen.

    Einen Augenblick lang erwog er, genau dies zu tun, ließ es dann aber bleiben. Ein Traum, in dem man den Mitschülern, die einen verprügeln wollten, dadurch entkam, dass man sich aus dem Schulgebäude einfach wegwünschte, dann aus dem fünften Stock stürzte, ohne sich auch nur einen blauen Fleck zu holen, und schließlich einem lustig gekleideten Mann begegnete, der verrückte Dinge sagte, war – ungeachtet der Schrecksekunde beim Sturz – ziemlich unterhaltsam, in jedem Fall aber definitiv kein Alptraum.

    „Wo bin ick hier?", fragte er den Mann.

    „Unjefähr hundert Ruten nordöstlich von Rixdorf", antwortete der Mann und wies auf eine Ansammlung niedriger Häuser, die ein paar hundert Meter entfernt standen, und aus deren Mitte das Türmchen einer kleinen Kirche ragte.

    Dieser Traum, fand Roger, war wirklich kurios. Seine Schule stand tatsächlich einige hundert Meter nordöstlich des alten Rixdorf, das aber schon vor Ewigkeiten im Berliner Bezirk Neukölln aufgegangen war. Und was um alles in der Welt waren „Ruten"?

    Roger musterte das Dorf und den Mann, der sich über seine Verwirrung im Stillen zu amüsieren schien, genauer: So etwas hatte er doch schon einmal gesehen? Richtig – auf einem Schulwandertag, der ursprünglich in den Tierpark Friedrichsfelde hatte führen sollen. Damals waren sie wegen Regens in ein Heimatmuseum ausgewichen, und Roger war der einzige Schüler gewesen, der sich für die Ausstellung interessiert hatte. Dieser Mann hier sah aus wie ein mittelalterlicher Bauer, das Dorf so, wie die brandenburgischen Dörfer im Mittelalter ausgesehen hatten. Sein Traum gaukelte ihm eine Zeitreise vor!

    „Äh, könntense mir bitte det heutije Datum sagen?", bat er den Mann.

    „Jerne, antwortete dieser mit einem gewissen Grinsen. „Heute ist Dienstach, der 19. September Anno Domini Zweetausend.

    Jetzt wurde es aber wirklich verrückt! Das Datum war richtig, aber die Umgebung passte überhaupt nicht dazu, der Mann schon gar nicht, und „Anno Domini" sagte schon seit Jahrhunderten kein Mensch mehr.

    „Wie heeßte ee‘ntlich?", fragte der Mann.

    „Roger Hildebrand, und Sie?"

    „Max Kletschke, antwortete der Bauer und schüttelte Rogers Hand. „Aber siez mir bitte nich, fügte er hinzu. „Ick weeß, det ma det bei euch so macht, aber jewöhn dir schonmal an, Erwachsene mit ‚Ihr‘ anzusprechen, det is bei uns so üblich."

    „Wat wollense – ick meen‘, korrigierte sich Roger, „wat wollt Ihr damit sagen: bei uns?

    „Willkommen im Magischen Reich!"

    „Aha, sagte Roger, nach wie vor überzeugt, in einem Traum zu stecken, und grinste den Bauern Kletschke nun seinerseits amüsiert an. „Und wat bitteschön ist det Magische Reich?

    „Meene Jüte", seufzte Kletschke, „ick bin Bauer, keen Lehrer, wie soll ick dir det beibringen? Also: Et jibt nicht nur die Welt, die du kennst, und die wir die Simpelwelt nennen, weil ihre Bewohner sich ihre Welt simpel vorstellen und glooben, det es nur diese eene Welt jibt und sonst nüscht. Et jibt daneben mindestens noch eene Welt, näm‘ich unsere."

    „Det Magische Reich?" fragte Roger.

    „Jenau."

    „Also sozusagen ‘ne, äh – Parallelwelt?"

    Der Bauer sah ihn einen Moment lang verblüfft an. „Alle Wetter, det de solche Ussdrücke kennst … Wie alt bist‘n ee‘ntlich?"

    „Zwölwe, antwortete Roger. „Im November werd ick dreizehn.

    „Denn haste ja jerade noch rechtzeitich die Etage jewechselt."

    „Die Etage?" fragte Roger etwas verwirrt.

    „Wir nennen die beeden Welten manchmal ooch Etagen, weil der Wechsel zwischen ihnen bissken so ist wie der Wechsel zwischen zwee Stockwerken", erwiderte der Bauer.

    „Und wat meenen Se, äh, wat meent Ihr mit ‚rechtzeitich‘?"

    „Rechtzeitich für die Sexta von eener unserer höhern Schulen."

    Roger musste einen Moment grübeln, um sich daran zu erinnern, dass „Sexta" ein altmodischer Ausdruck für eine fünfte Klasse war, aber nur an Gymnasien.

    „Dafür bin ick wohl zu alt, meinte er. „Ick bin in der, ähm … Quarta, gloob ick. Er meinte die siebte Klasse. Seine Schule war zwar kein Gymnasium, aber darauf, fand er, kam es jetzt nicht an.

    „Wir zählen bissken anders, erwiderte der Bauer. „Aber ditt wird man dir allet noch jenauer erklären. Ick bring dir jetz nach Berlin zur Simpel-Findelstelle.

    Er zog aus seinem Umhang einen Stab von der Länge eines Lineals, steckte ihn sich irgendwie auf den rechten Zeigefinger, schwenkte ihn in Richtung des Dorfes und murmelte dazu etwas.

    Roger fand seinen Traum sehr lustig. Er las gerne Fantasy-Geschichten, und das, was sich gerade in seinem Kopf abspielte – wo denn sonst? –, war unverkennbar ein Fantasy-Film. Er grinste in sich hinein: Bestimmt war der Stab ein Zauberstab, und der Bauer rief gerade seinen Besen herbei, um darauf mit ihm nach Berlin-Mitte zu fliegen!

    In der Tat kam ein Gerät angeflogen: eine etwa zwei Meter lange hölzerne Stange, auf die hinten und in der Mitte zwei Sitze montiert waren, die entfernt an Fahrradsattel erinnerten. An der Spitze und hinter dem ersten Sattel ragten zwei Gestelle heraus, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Fahrradlenkern aufwiesen. Kurz gesagt, sah das seltsame Gerät ungefähr aus wie der obere Teil eines Tandems, das man knapp unter den Satteln horizontal entzweigesägt hatte. Als Roger genauer hinsah, bemerkte er hinter den Satteln Vorrichtungen, die Fußrasten sein konnten. Im Stillen amüsierte er sich darüber, was seine Phantasie so alles zusammenmixte.

    „Wat is‘n dette?", fragte er den Bauern, als das Gerät neben ihnen in der Luft schweben blieb.

    „Meen Besen."

    Also doch!

    Ditt soll‘n Besen sein?", fragte Roger zweifelnd, während der Bauer sich auf den vorderen Sitz schwang.

    „Wir nennen et immer noch so, erwiderte der Bauer gelassen, „weil unsere Vorfahrn im Mittelalter ihre Flugjeräte als Besen jetarnt ham, um den Hexenverfoljungen zu entjehn. Der Name hat sich jehalten, aber Besen, mit denen man ooch den Boden fejen könnte, benutzt heutzutage keen Mensch mehr zum Fliejen. Also jedenfalls nich bei uns, höchstens in England – dort halten ulkije Bräuche sich bissken länger als anderswo. Der Bauer lachte. „Nu steig aber uff, wir ham nicht den janzen Tach Zeit."

    Roger tat wie geheißen, und noch ehe er es so recht begriff, schossen sie in rund zehn Metern Höhe über den Acker dahin.

    Roger liebte die Träume, in denen er fliegen konnte, und nahm sich vor, diesen hier in vollen Zügen zu genießen. Aufwachen und enttäuscht feststellen, dass er in seinem Bett lag, würde er noch früh genug. Besonders genoss er, dass in diesem Traum alles viel realer war als in seinen sonstigen Träumen. Obwohl er ein phantasievoller Junge war, hatte er noch nie in einem Traum Ackerboden gerochen und den Wind auf seinen Wangen gespürt. Er konnte von den zahllosen Einzelheiten, die er während des Fluges wahrnahm, gar nicht genug bekommen: Unter ihm hoppelte ein Hase über das Feld, ein Bussard zog weit über ihm seine Kreise, Roger sog den Duft der Nadelbäume ein, als sie einen Wald überflogen – hier schien es überhaupt sehr viele und dichte Wälder zu geben…

    Der Flug endete viel zu früh, nach wenigen Minuten nur stupste Kletschke ihn an und zeigte nach vorn: Vor ihnen erhoben sich die Mauern einer mittelalterlichen Stadt voller höchstens einstöckiger Gebäude, die man aus Holz, Fachwerk, hier und da auch aus Ziegeln oder groben Feldsteinen errichtet hatte. Mit dem Berlin, das Roger kannte, hatte dieses malerische Nest fast nichts zu tun. Nur der aus dem Gewirr der engen Gassen ragende Turm der Marienkirche zeigte ihm, dass er tatsächlich über Berlin sein musste. Das mittelalterliche Berlin – was für ein irrer Traum!

    Kletschke drehte sich zu ihm um: „Det wollt‘ick dir nur ma‘ zeijen, de Findelstelle is bissken außerhalb."

    Kletschke ließ seinen sogenannten Besen nun auf einen etwa südöstlichen Kurs schwenken. Sie ließen die Stadtmauer hinter sich und überflogen, dicht über den Baumwipfeln, wieder ein Waldgebiet.

    Als Roger an der Schulter des Bauern vorbei nach vorn lugte, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu können: Mitten aus dem dichten Wald ragte ein vierzehnstöckiges modernes Bürogebäude! Er hatte seine Verblüffung schnell wieder im Griff – schließlich, so besann er sich, war er in einem Traum, und im Traum waren absurde Szenenwechsel ganz normal.

    Als sie das Gebäude fast erreicht hatten, drückte der Bauer die Spitze seines Fluggeräts nach unten und leitete damit einen steilen Sinkflug ein. Knapp über dem Boden zog er sie wieder in die Waagerechte und drosselte das Tempo, bis der Besen unbeweglich über dem Boden schwebte. Dann setzten sie ihre Füße auf die Erde.

    „Da wärn wa."

    Der moderne Bau lag inmitten einer Waldlichtung. Roger bemerkte, dass die Lichtung, soweit er es von seinem Standort aus sehen konnte, fast genau rechteckig, wahrscheinlich also künstlich durch Rodung angelegt worden war. Der moderne gläserne Eingang des Gebäudes und damit auch dessen Erdgeschoss lagen etwa zwei Meter über dem Niveau des Bodens, auf dem sie standen. Unterhalb davon gab es weder Fenster noch Türen. Zum Eingang führte eine steile, schmale hölzerne Treppe, fast schon eine Stiege. Rogers Traum wurde immer verrückter!

    Vor dem Haus stand eine kleine Säule, die einer Notrufsäule nicht unähnlich, aber aus Holz war. An ihr war ein Schild angebracht: „Zur Simpel-Findelstelle bitte anrufen und Frau Kleiber verlangen."

    Kletschke öffnete ein Türchen im oberen Teil der Säule, entnahm ihr unter Rogers ungläubigem Blick – wahrhaftig! – einen Telefonhörer und drückte einen Knopf.

    „Frau Kleiber?, hörte Roger ihn sagen. „Mein Name ist Max Kletschke uss Rixdorf. Ick hab hier ‘n Jungen für Sie … Ja, bis gleich. Er legte auf. „Frau Kleiber kommt gleich runter. Sie wird dir allet Weitere erklären."

    Als Frau Kleiber in der Tür erschien, war Roger bitter enttäuscht: Er hatte auf eine waschechte Hexe mit Spitzhut und phantasievoll gemustertem Umhang gehofft, möglichst mit dicken Warzen im Gesicht und einem Raben auf der Schulter – wozu war er denn im Magischen Reich? Frau Kleiber aber wirkte so wenig magisch wie das Gebäude, in dem sie ihr Büro hatte: eine rundliche, mütterlich dreinblickende Frau in den Fünfzigern, die einen beigefarbenen Pullover und darüber eine rosa Strickjacke trug. Eine Lesebrille hing an einer Kette um ihren Hals.

    „Hallo, sagte sie freundlich zu Roger und reichte ihm die Hand. „Mein Name ist Roswitha Kleiber, ich betreue aufgefundene Kinder aus der nichtmagischen Welt. Darf ich fragen, wie du heißt und wie alt du bist?

    „Roger Hildebrand, ick bin zwölf." Er sagte es nicht gerade unfreundlich, aber auch nicht wirklich nett. Irgendetwas missfiel ihm an der Frau, er kam nur nicht sofort darauf, was es war.

    Der Bauer verabschiedete sich nun, und Frau Kleiber ging mit Roger die Holztreppe hinauf und durch die Glastür in das Gebäude, das auch von innen wie ein modernes Behördengebäude aussah, in dem offenbar ganz normal gekleidete Menschen arbeiteten, fuhr mit ihm im Aufzug in den siebten Stock und führte ihn in ihr Büro.

    Das Büro war klein, schlicht möbliert und mit Aktenschränken gefüllt. Sie bot Roger den Stuhl vor ihrem Schreibtisch an und begann ohne weitere Einleitung das Gespräch:

    „Roger, du fragst dich bestimmt, wo du hier bist. Dies ist zum einen die Berliner Findelkindstelle des Magischen Reiches, gleichzeitig aber auch das Jugendamt von Berlin-Mitte."

    Jugendamt! Jetzt wusste er, was ihn an Frau Kleiber störte – außer, dass sie nicht wie eine richtige Hexe aussah: Sie hatte diesen gewissen Sozialpädagoginnenblick, den er von den Mitarbeiterinnen des Neuköllner Jugendamtes kannte, die schon öfter bei ihm und seiner Mutter nach dem Rechten gesehen hatten, und die er nicht ausstehen konnte.

    Er wusste, dass das ungerecht war, und sein Mathematiklehrer – der einzige Lehrer, vor dem er Respekt hatte, dessen Unterricht er deshalb nur selten schwänzte, und dem er auch manchmal etwas Persönliches erzählte – hatte ihn einmal energisch deswegen zurechtgewiesen:

    „Menschen, die einen solchen Beruf wählen, hatte er gesagt, „tun es, um Anderen zu helfen. Es sind gute Menschen, du hast kein Recht, abfällig von ihnen zu sprechen!

    Roger sah ein, dass der Lehrer recht hatte, und ja, die Damen vom Jugendamt waren eigentlich alle sehr nett – hilfsbereit, verständnisvoll, gütig und fürsorglich.

    Aber genau das hasste er so: Er wollte nicht als jemand betrachtet werden, der auf anderer Leute Hilfe, Verständnis, Güte und Fürsorge angewiesen war, es verletzte seinen Stolz. Es war ihm peinlich, dass diese fremden Menschen seine Mutter als eine Frau betrachteten, die ihrer Hilfe bedurfte, weil sie ihren Sohn – im Grunde aber ihr ganzes Leben – nicht in den Griff bekam. (So peinlich freilich, dass er deswegen mit seinen Schulschwänzereien aufgehört hätte – so peinlich war es ihm nun auch wieder nicht.)

    Es ärgerte ihn, dass diese Leute so taten, als sei er ihnen Rechenschaft schuldig. Er hasste ihre zwei Sorten von Predigten: Die eine war die Weißtdueigentlichwasdudeiner-Mutterdamitantust-Predigt. O ja, das wusste er, es war ihm nur egal – nein, es war ihm nicht egal, es war einer der Gründe, warum er es tat…

    Es ärgerte ihn, dass diese Leute so taten, als sei er ihnen Rechenschaft schul-dig. Er hasste ihre zwei Sorten von Predigten: Die eine war die Weißt-du-eigent-lich-was-du-deiner-Mutter-damit-antust-Predigt. O ja, das wusste er, es war ihm nur egal – nein, es war ihm nicht egal, es war einer der Gründe, warum er es tat…

    Die andere war die Denk-doch-mal-an-deine-Zukunft-Platte. Roger dachte durchaus an seine Zukunft, aber er glaubte nicht daran, dass sie glücklich sein würde. Wenn die Damen vom Jugendamt ihm so kamen, konnte er schlecht etwas dagegen einwenden (und dabei war er ziemlich gut im Erfinden von Einwänden), und doch raunte eine innere Stimme ihm zu, dass all dies irgendwie verkehrt und falsch und irrelevant war. So schwieg er die Sozialarbeiterinnen an, bis sie ihm ein lahmes Versprechen aus der Nase gezogen hatten, wieder regelmäßig zur Schule zu gehen. Ohne Überzeugung hielt er sich zwei oder drei Wochen lang daran, nur um dann wieder zu schwänzen…

    Der Traum, der so verheißungsvoll begonnen hatte, wurde jetzt schal und platt. Eben war er noch auf einem Besen geflogen, jetzt saß er im Büro einer Jugendamtstante. Es war höchste Zeit, diesen Traum zu beenden!

    Roger legte die Zeigefinger beider Hände auf seine Augenlider und zog sie nach oben.

    „Was machst du da?" fragte Frau Kleiber verblüfft.

    „Ick steije aus diesem verdammten Traum uss, knurrte er. „Tschüss.

    Doch er konnte an seinen Lidern zerren, so viel er wollte: Weder das Büro noch Frau Kleiber verschwanden. Sie lächelte.

    „Das wird nicht viel Sinn haben, Roger, du träumst nicht."

    Er ließ die Hände sinken. „Soll det heißen, det allet hier ist echt, und dieset Magische Reich jibt et wirklich?"

    „Natürlich."

    „Und ick habe det allet wirklich erlebt?"

    „Jedenfalls hast du nicht geträumt", erwiderte Frau Kleiber. „Was genau hast du denn erlebt?"

    Roger schilderte ihr alles, von der Flucht vor seinen Mitschülern bis zu dem Moment, wo Kletschke ihn hier ablieferte. Zwischendurch sah er Frau Kleiber immer wieder schmunzeln.

    „Ja, ick weeß, sagte er schließlich, „ditt klingt allet ziem’ich verrückt, ick vasteh schon, det Se grinsen …

    „Ich grinse nicht, korrigierte Frau Kleiber ihn freundlich, „ich finde es nur schön, dass du so nett berlinerst.

    „Ick bin Berliner", antwortete er verdutzt.

    „Sicher, aber die meisten Jungs aus deiner Gegend, auch die Deutschen, sprechen nicht Berlinerisch, sondern Kiezdeutsch."

    Roger stutzte einen Moment. „Ach so, Sie meenen: ‚Üsch‘ statt ‚Icke‘ und so?"

    Sie nickte.

    „Das ist nicht mein Ding, sagte er knapp und auf Hochdeutsch. Dass Frau Kleiber sein Berlinern „nett fand, war für ihn Grund genug, sofort damit aufzuhören.

    „Und bevor sich das Schulgebäude auflöste und du abstürztest, griff Frau Kleiber nun seine Erzählung auf, „hast du dir ganz fest gewünscht, woanders zu sein?

    „Genau", bestätigte Roger.

    „Dass dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist, sagt mir etwas Wichtiges über dich."

    „So?, fragte Roger. „Was denn?

    „Sieh mal", meinte sie behutsam. „Wir Menschen wissen von Natur aus, dass dem Wunsch eine magische Kraft innewohnt. Weil das so ist, wünschen wir einander Glück, Gesundheit, ein gutes neues Jahr und so weiter, was in allen menschlichen Kulturen als höflich und freundlich gilt. Das wäre aber nicht so, wenn wir – und sogar die, die es nie zugeben würden – nicht tief im Inneren daran glaubten, dass ein Wunsch etwas bewirkt."

    Roger nickte verstehend. So hatte er es noch nie gesehen, aber es war logisch!

    „Und wir würden nicht daran glauben, fuhr Frau Kleiber fort, „wenn es nicht auch so wäre.

    „Ach?" Mehr brachte Roger in seiner Verblüffung nicht heraus.

    „Bei den meisten Menschen, erläuterte Frau Kleiber weiter, „ist diese magische Wirkung des Wunsches verschwindend gering. Einige wenige aber können durch den bloßen Wunsch eine wahrnehmbare Wirkung erzielen. Solche Menschen nennen wir Zauberer, Magier, Hexer und Hexen.

    Roger verstand plötzlich, warum Dinge, die er sich, meist im Zorn, gewünscht hatte, manchmal in Erfüllung gegangen waren. Nicht oft, aber doch oft genug, dass er seinen Mitschülern deswegen unheimlich war. Trotzdem …

    „Entschuldigung, wandte er etwas schüchtern ein. „Das mit dem Wünschen klappt aber bei mir nur sehr selten.

    Frau Kleiber nickte. „Weil du keine magische Ausbildung und vor allem keinen Zauberstab hast. Man kann zwar auch ohne Zauberstab eine magische Wirkung erzielen, aber die magische Energie ist viel stärker, wenn man sie bündelt, und dazu benötigt man einen Zauberstab. Der Unterschied zwischen einem Zauber mit und ohne Stab ist – wie soll ich sagen …"

    „… wie zwischen einem Laserstrahl und einer Taschenlampe?", ergänzte Roger fragend.

    Frau Kleiber nickte sichtlich beeindruckt. „Donnerwetter, den Vergleich muss ich mir merken. Ja, das trifft den Nagel auf den Kopf!"

    Sie sah einen Moment sinnend in die Luft, wie um die Freude an dem schönen Vergleich noch einmal auszukosten, und wandte sich dann wieder an Roger:

    „Hilfsweise kann man die magische Energie auch im Zeigefinger bündeln. Sie ist dann nicht ganz so stark wie bei der Bündelung durch einen Zauberstab, aber immerhin. Und bei Zaubern, die auf die eigene Person zielen, muss die Energie noch weniger gebündelt werden. Deshalb konntest du durch deinen bloßen Wunsch die Etage wechseln."

    „Herr Kletschke hat mir schon gesagt, dass wir hier in einer Art Parallelwelt sind", meinte Roger.

    „Nun ja", erwiderte Frau Kleiber, „hier eigentlich nicht. Aber der Reihe nach: Du hast vielleicht schon einmal davon gehört, dass Hexen und Zauberer früher verfolgt wurden."

    „Habe ich. Viele Hexen wurden auf Scheiterhaufen verbrannt. Es fing im Mittelalter an, am schlimmsten war es aber nach der Reformation."

    Wieder zog Frau Kleiber erstaunt die Augenbrauen hoch.

    So genau weißt du darüber Bescheid? Interessierst du dich für Geschichte?"

    „Fürs Mittelalter schon – na ja, und was so dranhängt."

    „Wieso ausgerechnet fürs Mittelalter? Die meisten Kinder finden es todlangweilig."

    „Ich nicht."

    Er hätte in der Tat nicht sagen können, warum ausgerechnet die mittelalterliche Welt ihn fesselte und ins Träumen brachte. Es war einfach so.

    „Liest du überhaupt viel?, wollte Frau Kleiber wissen. „Also, außer übers Mittelalter?

    „Wenn, dann Fantasy und Science-Fiction. Sonst mag ich eher Technik und so. Neulich habe ich sogar ganz allein unsere Waschmaschine repariert!"

    Frau Kleiber quittierte den unüberhörbaren Stolz in seiner Stimme mit einem anerkennenden Nicken und sah ihn einen Moment lang nachdenklich an, bevor sie zu ihrem Thema zurückkehrte:

    „Überall in Europa benötigten Hexen und Zauberer damals Zufluchtsorte. In den meisten Ländern schirmte man zu diesem Zweck bestimmte Orte durch Verwirrungszauber so ab, dass nichtmagische Menschen sie weder wahrnehmen noch betreten konnten, Magier aber schon. Diese Abschirmungen existieren vielerorts bis auf den heutigen Tag. Hier in Deutschland sind wir von Anfang an einen Sonderweg gegangen. Ich werde versuchen, es dir zu erklären. Sei aber nicht enttäuscht, falls du es nicht verstehen solltest, es ist sehr kompliziert, und du bist noch sehr jung …"

    „… aber nicht schwer von Kapee!" rief Roger patzig dazwischen.

    Frau Kleiber lächelte: „Das habe ich auch nicht unterstellt! Also, wir Menschen nehmen die Welt von Natur aus räumlich wahr, genauer als dreidimensionalen Raum. Weißt du, was das heißt?"

    „Klar weiß ich das, erwiderte Roger, dem – wie immer – nicht bewusst war, dass er in diesem Moment wie ein ausgemachter Klugscheißer klang. „Der Raum hat drei Dimensionen: links-rechts, oben-unten, vorne-hinten. Deshalb braucht man drei Zahlen, um die Lage eines Punkts zu beschreiben. Vorausgesetzt, man hat einen Nullpunkt.

    Frau Kleiber starrte ihn mit offenem Mund an: „Also schwer von Kapee bist du wirklich nicht! Wie kann es sein, dass du …"

    „Ich sagte doch, fiel Roger ihr ins Wort, „ich lese Science-Fiction. Und wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich meinen Mathelehrer.

    Sie nickte langsam und fuhr dann fort: „Einer der begabtesten Magier des vierzehnten Jahrhunderts war Ritter Ragnar von Rabenstein. Er war einer der ersten, die Magie mit wissenschaftlichem Forscherdrang verbanden, und seine Entdeckungen sind noch heute für die magische Wissenschaft so grundlegend wie die von Pythagoras für die Mathematik oder die von Newton für die Physik. Rabenstein entdeckte also eines Tages bei seinen Experimenten, dass der Raum in Wahrheit nicht drei, sondern mindestens vier Dimensionen hat, wobei aber die vierte Dimension latent ist. Das heißt, sie ist nicht wahrnehmbar und gewissermaßen nur als Möglichkeit vorhanden. Kannst du mir folgen?"

    „Ich frag schon, wenn ich etwas nicht verstehe", erwiderte Roger lässig.

    Sie räusperte sich leicht indigniert.

    „Ich möchte es trotzdem veranschaulichen. Stellen wir uns einen Moment vor, die Welt sei zweidimensional wie die Oberfläche eines Blatts Papier. Die Menschen in dieser Welt wären dann ebenfalls zweidimensional und wüssten nichts von der Welt außerhalb ihrer Fläche."

    Sie zog einen Bogen weißes Papier aus der Schublade, legte es vor sich auf den Schreibtisch und malte einige einfache Männchen darauf.

    „Stellen wir uns vor, dies sei die Welt. Wir als dreidimensional denkende Menschen wissen natürlich, was die zweidimensionalen Papierbewohner sich nicht vorstellen können, nämlich, dass man unendlich viele dieser Blätter aufeinander stapeln könnte, und jedes von ihnen wäre eine Welt für sich."

    Roger starrte fasziniert auf das Papier: „Sie sagen aber, es gibt eine vierte Dimension, sagte er nachdenklich. „Das heißt, es könnte auch jede Menge dreidimensionale Welten nebeneinander geben, die nichts voneinander wissen?

    „Könnte es", bestätigte Frau Kleiber. „Soweit wir wissen, gibt es aber nur eine Parallelwelt zur Simpelwelt, nämlich die, die Rabenstein und seine Nachfolger geschaffen haben, und zwar mit Hilfe eines sehr durchdachten Verdoppelungszaubers. Es ist ungefähr so, als würde man diese Welt hier – sie hob das Blatt hoch – „also dieses Blatt kopieren und die beiden Kopien aufeinanderlegen.

    „Dieser Rabenstein hat die Welt einfach kopiert?" fragte Roger staunend.

    „Nicht die ganze Welt, schmunzelte Frau Kleiber, „das hätte nicht einmal Rabenstein geschafft, es wäre auch nicht sehr sinnvoll gewesen: Hätte er die Welt kopiert, so wären die Menschen, auch die Simpel und ihre Inquisitoren und Hexenhasser ja mit kopiert worden, und von denen wollte man sich gerade trennen. Abgesehen davon wäre es auch ziemlich unmoralisch gewesen, andere Menschen ohne deren Wissen magisch zu klonen …

    „Er hat Ausschnitte der Welt kopiert?" unterbrach Roger, der all dies ungeheuer spannend fand und wollte, dass Frau Kleiber zum Punkt kam.

    „Genau. Er kopierte stets Ausschnitte, in denen sich garantiert keine Menschen aufhielten. Du kannst dir vorstellen, wie schwierig das vor allem in den Städten war. Zweihundert Jahre lang musste man sich Haus für Haus und Straße für Straße vorarbeiten, dann war es geschafft: 1556 war das gesamte Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation kopiert, von ein paar Inseln abgesehen, auf die wir noch zu sprechen kommen …"

    „Also ich stelle mir das jetzt mal vor, unterbrach Roger sie erneut. „Könnte ich vielleicht noch ein Blatt haben? – Danke.

    Er legte das zweite Blatt unter das erste, auf das er mit Kugelschreiber ein Quadrat malte, wobei er so fest aufdrückte, dass der Umriss auch auf dem zweiten Blatt eine Furche bildete. Zugleich erklärte er, was er tat:

    „Ich bin also jetzt Rabenstein, umreiße die Fläche, die ich kopieren will, sage dann ‚Simsalabim‘ …"

    Simsalabim geht nicht, warf Frau Kleiber ein. „Ist durch ständigen Missbrauch unwirksam geworden!

    „Ja, oder eben sonst einen Zauberspruch, und bekomme dann diesen Ausschnitt hier, – er griff nach einer Schere und schnitt das Furchenquadrat des zweiten Blatts aus –, „als Kopie. Jetzt bin ich diese Büroklammer.

    Er legte eine Büroklammer auf das erste Blatt, mitten in das von ihm gezeichnete Quadrat.

    „Jetzt wünsche ich mir einen Etagenwechsel, so wie vorhin in der Schule."

    Er nahm die Büroklammer vom Blatt, legte das ausgeschnittene Quadrat deckungsgleich auf das erste und die Büroklammer wieder obenauf und fuhr fort: „Damit wechsele ich die Etage, richtig?"

    Frau Kleiber nickte. Roger sah grübelnd auf das Papier und murmelte:

    „Ja, aber wenn immer nur ein Ausschnitt kopiert wird … Er schob die Büroklammer an den Rand des ausgeschnittenen Quadrats. „Wenn ich in der magischen Welt bin und die Grenze des Ausschnitts erreiche – was ist dann dort? Eine Wand? Oder ein Nichts?

    Frau Kleiber schüttelte den Kopf. „Dann gehst du nahtlos wieder in die Simpelwelt über, ohne es zu merken. Um bei dem Beispiel mit dem Blatt zu bleiben: Das Blatt verdoppelt sich an den Kanten deines Quadrats, bleibt aber mit beiden Quadraten, dem alten und der Kopie, fest verbunden. Wenn du es quer durchschneiden würdest, würde sich die Schnittkante dort verzweigen, wo dein Quadrat beginnt, um wieder zusammenzulaufen, wenn du sein Ende erreichst."

    „Aha, sagte Roger, in seine Gedanken versunken. „Ich merke also nicht, wenn ich das magische Reich verlasse und in die Simpelwelt eintrete – aber wie ist es umgekehrt? Er sah auf und fixierte Frau Kleiber. „Wenn ich aus der Simpelwelt komme, an die Grenze stoße und weitergehe? Lande ich dann automatisch in der magischen Welt, oder bleibe ich in der Simpelwelt?"

    „Das kannst du dir aussuchen."

    „Ja, aber woran merke ich, dass ich die Wahl habe?"

    „Geh einmal ans Fenster, erwiderte Frau Kleiber, „und sag mir, was du siehst.

    Roger wunderte sich – Was sollte schon anderes zu sehen sein als der Wald, in dessen Mitte man kurioserweise ein Bürohochhaus errichtet hatte? –, ging aber gehorsam ans Fenster und sah hinaus. Wie erwartet, sah er den Wald, aber irgendetwas irritierte ihn. Ganz schwach sah er ein zweites Bild, irgendwelche Gegenstände, die sich schnell von links nach rechts und umgekehrt zu bewegen schienen. Er konzentrierte sich auf das schwache zweite Bild, das nun zusehends klarer wurde. Vor dem Hochhaus, in dem er sich befand, erschien ein vergleichsweise niedriges Gebäude mit nahezu quadratischem Grundriss und dahinter eine breite Straße mit vier Spuren in jeder Richtung, auf der Autos fuhren. Sie waren die Gegenstände, die er gesehen hatte. Als er den Blick ein wenig hob, nahm er hinter der Straße das Häusermeer des heutigen Berlin wahr.

    Der Wald aber war keineswegs verschwunden, sein Bild war nur jetzt genauso blass wie zuvor das der Straße. Er konzentrierte sich darauf und konnte den Wald wieder klar sehen, während die Straße verblasste. Er wiederholte das Spiel einige Male.

    „Kommt mir vor, sagte er schließlich, „wie eins dieser Vexierbilder, bei denen man von zwei Bildern immer das sieht, auf das man sich gerade konzentriert. Einmal sehe ich Wald, einmal eine große Straße mit Autos.

    „Die Karl-Marx-Allee, präzisierte Frau Kleiber. „Das Gebäude, in dem wir uns befinden, ist das Bezirksrathaus Berlin-Mitte, das vollständig zur Simpelwelt gehört. Es ist eine der Inseln, die ich erwähnt habe. Der Raum, den dieses Gebäude einnimmt, ist nach seiner Errichtung in der Simpelwelt aus der magischen Welt sozusagen ausgestanzt und vernichtet worden. Die Außenwand des Gebäudes ist eine Grenzlinie – oder vielmehr Grenzfläche. Du befindest dich hier also in der Simpelwelt, aber an einer Grenze zum Magischen Reich. Damit dürfte deine Frage beantwortet sein, woran man merkt, dass man diese Grenze erreicht hat. Man sieht dann beide Welten, konzentriert sich auf eine und setzt seinen Weg in der Welt fort, für die man sich entschieden hat. Dass du beide Welten sehen kannst, ist der endgültige Beweis dafür, dass du Zauberer bist, Simpel können das nämlich nicht. Meine Kollegen hier betreten und verlassen dieses Haus jeden Tag, ohne zu ahnen, dass es einen Ausgang ins Magische Reich hat. Sie grinste.

    „Dann können Simpel die magische Welt also überhaupt nicht betreten?", wollte Roger wissen.

    „Doch, aber nur an der Hand eines Zauberers oder einer Hexe, die sie führt. Und ich werde mich hüten, sie zu führen. Ohne ausdrückliche Erlaubnis der Großkanzlei ist das nämlich streng verboten."

    „Was ist die Großkanzlei?"

    „Die Regierung des Magischen Reichs. ‚Magisches Reich‘ ist eine Art Kürzel und eigentlich nicht korrekt. Der offizielle Name dieses Staates lautet ‚Reich der Vereinigten Magischen Orden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation‘."

    „Nanu? fragte Roger verblüfft. „Das Heilige Römische Reich ist doch 1806 untergegangen?

    „Auch das weißt du? Na, mich wundert bei dir ja nichts mehr… Ja, dieses Reich ist untergegangen, aber sein magischer Ableger ist quicklebendig."

    „Krass, meinte Roger und sah wieder auf den Wald vor dem Fenster. „Aber wenn man sich schon die Mühe macht, das ganze Land zu kopieren, warum hat man diese Inseln übriggelassen oder sogar eigens – Wie sagten Sie? – ausgestanzt?

    Frau Kleiber nickte, als habe sie die Frage erwartet: „Du hast doch gemerkt, dass der willkürliche Wechsel von einer Welt in die andere ziemlich heikel ist? Beim direkten magischen Wechsel aus der Simpelwelt landest du bei uns genau an dem Punkt, an dem du auch in der Simpelwelt warst, und das betrifft auch die Höhe. Du hättest dir beim Sturz den Hals gebrochen, wenn wir nicht unser gesamtes Gebiet mit einem Abfederungszauber geschützt hätten."

    „Ach so, nickte Roger, „aber in der Gegenrichtung funktioniert es nicht, weil es diesen Zauber in der normalen Welt … also der Simpelwelt nicht gibt? Wenn ich in die Simpelwelt wechsle und zufällig an einer Stelle bin, an der zum Beispiel eine Baugrube ausgehoben wird, stürze ich hinein, richtig?

    „Und wenn du auf einer Autobahn oder auf irgendeiner vielbefahrenen Straße landest, wirst du überfahren, ergänzte Frau Kleiber. „Du weißt normalerweise einfach nicht, wie es auf der anderen Seite aussieht, du weißt nicht einmal, an welcher Stelle der Etagenwechsel überhaupt möglich ist. Er klappt nämlich nur, wenn auf der anderen Seite etwas ist, was du mit deinem Körper verdrängen kannst, Luft zum Beispiel oder Wasser. Wenn aber auf der anderen Seite etwas Festes ist, Erde etwa, eine Mauer oder ein Baum, bleibst du, wo du bist. Und das heißt, dass du in den Städten fast nirgendwo einfach in die Simpelwelt wechseln kannst. Das Bodenniveau in den Städten der Simpelwelt liegt fast durchgehend über dem bei uns, weil sie jahrhundertelang immer wieder überbaut wurden, unsere aber nicht.

    „Wieso eigentlich nicht?, wollte Roger wissen. „Ich meine, wieso sieht im Magischen Reich immer noch alles aus wie im Mittelalter?

    „Es gab keinen Grund, viele Neubauten zu errichten, antwortete Frau Kleiber, „weil wir mit einfachen Instandhaltungszaubern jedes Gebäude intakt halten können, das bei den Simpeln irgendwann abgerissen wird. Straßen und Eisenbahnen brauchen wir nicht, weil wir Flugbesen und magische Tunnel als Transportmittel haben. Elektrizität brauchen wir nicht, weil wir zaubern können, damit entfallen Kraftwerke und Stromleitungen. Neue Häuser brauchen wie ebenfalls nicht, weil wir die kopierten Behausungen von mehreren Millionen Simpeln benutzen können, die für uns knapp dreihunderttausend Magier locker ausreichen. Tatsächlich verfallen bei uns viele alte Simpeldörfer sogar, weil wir zu wenige sind, um sie zu besiedeln. Weite Teile des Magischen Reiches sind wieder von Urwäldern bedeckt, weil wir bei weitem nicht so viel Fläche brauchen, wie wir haben. Das Leben spielt sich fast ausschließlich in den Städten und ihrer Umgebung ab, aber im Durchschnitt ist unsere Bevölkerungsdichte geringer als die von Simpel-Kanada, und das will etwas heißen!

    „Und warum hat man das ganze Land kopiert, wenn man nur einen Bruchteil davon braucht?" fragte Roger.

    Frau Kleiber zuckte mit den Achseln.

    „Keine Ahnung. Deutsche Gründlichkeit, würde ich sagen. Und ansonsten – nun ja, es waren Männer. Sie machten es einfach, weil sie es konnten. Sie schmunzelte. „Wir sind aber ein wenig abgeschweift. Du hast gefragt, warum es diese Inseln gibt. Sie dienen als sichere Übergangsstellen von einer Welt in die andere. Dieses Rathaus zum Beispiel betritt man, wenn man aus der magischen Welt kommt, über die Holztreppe, so wie wir eben, dreht sich dann um und geht einfach hinaus, am Kino International vorbei auf die Karl-Marx-Allee. Und umgekehrt.

    „Und nachts, wenn das Gebäude verschlossen ist?", fragte Roger.

    „Für den Besitzer eines Zauberstabs ist auch das kein unüberwindliches Hindernis", grinste Frau Kleiber.

    „Und wieso steht diese Übergangsstelle mitten im Wald?" Das kam Roger besonders bizarr vor.

    „Die meisten Übergangsgebäude befinden sich tatsächlich in den Städten. In praktisch jeder Ortschaft gibt es eines oder sogar mehrere. Für dieses Gebäude hier hat man eine Ausnahme gemacht, und zwar meinetwegen. Weißt du, Roger, in früheren Jahrhunderten hatte der Simpel-Findeldienst alle Hände voll zu tun. Die magisch befähigten Simpelkinder – nun, ich will nicht gerade sagen, dass sie vom Himmel regneten, aber es waren doch sehr viele. Heute sind es in Berlin-Brandenburg pro Jahr nur noch drei bis sechs, weil magische Begabung in der Simpelwelt durch die ständige Abwanderung von Zauberern und Hexen sehr selten geworden ist. Für diese paar Kinder lohnt es sich nicht, eine Vollzeitkraft zu beschäftigen. Ich verwalte die Findelstelle also im Nebenberuf. Der Provinzialrat hat mir diese Aufgabe übertragen, weil ich bei den Simpeln im Jugendamt arbeite und es deshalb nicht auffällt, wenn ein Kind in meinem Büro sitzt."

    „Und warum arbeiten Sie nicht im Magischen Reich?" fragte Roger.

    „Ich bin zwar eine Hexe, erwiderte Frau Kleiber, „aber eine ziemlich schlechte. Ich könnte mit meiner Zauberkraft nicht einmal meinen Haushalt bewältigen. Deshalb brauche ich Strom und Gas, einen Warmwasseranschluss, eine Waschmaschine und so weiter, kurz gesagt lauter Dinge, die es in der Simpelwelt gibt, in der magischen aber nicht. Daher bin ich Grenzgängerin geworden, das heißt ich lebe und arbeite in der Simpelwelt, kehre aber immer wieder in die magische Welt zurück, allein schon, um meine Familie und meine alten Freunde zu besuchen, und verwalte außerdem die Findelstelle.

    „Gibt es viele solche Grenzgänger?"

    „Vielleicht zehntausend in ganz Deutschland. Manche sind Menschen wie ich, andere simpelstämmige Zauberer wie du, die bei uns ausgebildet wurden, aber die Verbindung zur Simpelwelt nicht abreißen lassen möchten und dort Aufgaben für das Magische Reich übernehmen, indem sie zum Beispiel die Großkanzlei über die Entwicklungen in der Simpelwelt auf dem Laufenden halten. Vielleicht wirst du nach deiner Ausbildung auch einmal Grenzgänger."

    „Was für eine Ausbildung?", fragte Roger.

    „Die Ausbildung an einer unserer weiterführenden Schulen, an der du lernen wirst, mit deinen magischen Fähigkeiten umzugehen. Ab dem zwölften Lebensjahr kommt jeder Magier an eine dieser Schulen, die allesamt Internate sind. Sie haben sieben Klassenstufen: Sexta, Quinta, Quarta, Tertia, Sekunda, Unterprima und Oberprima."

    Eine Schule, an der man zaubern lernte – das klang gut!

    „Aber nur einmal angenommen, ich würde mich weigern?"

    „Dann müsste unser Notdienst deine Erinnerungen an die vergangenen Stunden blockieren. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass du dich weigern wirst."

    In der Tat leuchteten seine Augen. Ob mit oder ohne Zauberei – jede Schule würde besser sein als die, auf der er war, jede Welt besser als die, in der er lebte! Ohne, dass er hätte sagen können, warum, war er überzeugt, dass diese magische Welt, die er doch kaum flüchtig kannte, seine Welt war, und dass er hierher gehörte.

    „Für die Vorbereitung müsstest du normalerweise mit den anderen simpelstämmigen Schülern ein Sommerferienlager absolvieren, aber das, seufzte Frau Kleiber, „ist für dieses Jahr schon vorbei, das Schuljahr beginnt, wie jedes Jahr, am ersten Werktag nach der Herbst-Tagundnachtgleiche, dieses Jahr also am 25. September. Ich werde für dich eine Gastfamilie suchen, die dich in den wenigen verbleibenden Tagen mit der magischen Welt vertraut macht und dich in die Grundzüge der Zauberei einführt.

    Sie überlegte einen Moment und murmelte: „Es müssten ziemlich gute Zauberer – sie warf Roger einen süßsauren Blick zu – „und ziemlich geduldige und tolerante Leute sein… Ich glaube, ich weiß, wen ich frage…

    Sie trat ans Fenster, öffnete es und rief etwas, was klang wie „Krah", und zwar so laut, dass Roger zusammenzuckte. Wenige Sekunden später ließ eine Krähe sich auf dem Fenstersims nieder. Frau Kleiber befahl ihr:

    „Flieg zu Brida Köhler und sag ihr – sie sprach jetzt langsam und deutlich – „‚Roswitha bittet dich, für ein paar Tage einen Simpeljungen bei euch aufzunehmen, um ihn auf die Stableite vorzubereiten.‘

    Sie zog eine Schachtel aus der Jackentasche, entnahm ihr etwas, das wie ein Katzen- oder Hundeleckerchen aussah, und legte es vor die Krähe. Die Krähe beäugte das Leckerchen, pickte es in aller Ruhe auf und sagte dann ganz deutlich – Roger traute seinen Ohren nicht:

    „Mehr!"

    Frau Kleiber schien das Spiel schon zu kennen und fügte zwei oder drei Leckerchen hinzu. „Jetzt ist es aber genug!"

    Wieder pickte die Krähe die Leckerchen auf, dann ließ sie sich dazu herbei, sich vom Sims abzustoßen und davonzufliegen.

    Roger hatte den Vorgang mit offenem Mund verfolgt. „Und dieser Vogel kann sich das merken und ausrichten?"

    Frau Kleiber nickte: „Rabenvögel sind von Natur aus sehr intelligent. Um sie als Boten einsetzen zu können, mussten wir allerdings mit Zauberei nachhelfen. Besonders zuverlässig sind sie trotzdem nicht. Nicht, weil sie zu dumm wären, sondern im Gegenteil, weil sie ziemlich phantasievoll und eigenwillig sind. Und sie sind schnell beleidigt. Einmal habe ich Geburtstagsgrüße an meine Schwiegermutter geschickt, hatte aber nur noch ein Leckerchen übrig. Der Vogel war so eingeschnappt, dass er meiner Schwiegermutter nicht nur die Grüße ausrichtete, sondern auch an sie weitertratschte, was ich sonst noch über sie gesagt hatte. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis sie wieder mit mir redete…"

    Roger prustete. Auch Frau Kleiber musste schmunzeln.

    „Ich hoffe nur, sagte sie, „dass Brida Köhler ihre Leckerchen dabeihat, sonst kann es passieren, dass die Krähe meine Botschaft für sich behält. – Wenn Brida einverstanden ist, und das wird sie sein, wie ich sie kenne, wirst du die nächsten Tage bis zur feierlichen Übergabe deines Zauberstabs bei den Köhlers verbringen. Dort wird dich auch eine Kommission des Scholarenmagistrats aufsuchen …

    „Was ist das?"

    „Der Scholarenmagistrat ist quasi unser Bildungsministerium. Die Kommission entscheidet, an welche Schule du kommst. Unsere Schulen haben nämlich jede ein eigenes pädagogisches Konzept. Bei deiner Intelligenz glaube ich allerdings, dass es die Löwenschule sein wird."

    „Die Löwenschule?" Roger machte ein fragendes Gesicht.

    „Die ersten zwölf Schulen wurden nach den Tierkreiszeichen benannt, die späteren nach Sternen und Planeten. Die Löwenschule im Spessart ist die Eliteschule für unsere Besten, und wenn du nur halb so gut zaubern wie denken kannst, bist du dort richtig."

    „Wann geht es los?", fragte Roger, der es gar nicht erwarten konnte.

    „Sobald ich das Gespräch mit deinen Eltern geführt habe, sie müssen ja ihr Einverständnis erklären."

    „Meinen Vater werden Sie kaum sprechen können, der … – er druckste ein wenig – „nun ja, der will mit mir nix zu tun haben, hat auch kein Sorgerecht, das hat nur meine Mutter …

    „Nun, dann spreche ich eben mit deiner Mutter, meinte Frau Kleiber gleichmütig – mit kaputten Familien hatte sie täglich zu tun. Und da Roger plötzlich etwas bedrückt dreinschaute, fragte sie nach: „Meinst du, sie wird zustimmen?

    Seine Miene verfinsterte sich. „Sie hat zuzustimmen!", presste er zwischen den geschlossenen Zähnen hindurch.

    ***

    Paula Hildebrand schnaubte vor Zorn. Vor etwa einer Stunde hatte die Schule ihres Sohnes sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass ihr Sprössling unauffindbar war. Offenbar hatte er wieder einmal eigenmächtig die Schule verlassen. Na, der konnte etwas erleben! Sie steigerte sich in ihre Wut hinein, bis sie hörte, dass die Tür der Zwei-Zimmer-Wohnung von außen aufgesperrt wurde.

    „Ick hab jemand mitjebracht", rief ihr Sohn ihr entgegen, noch bevor sie mit ihrer Donnerpredigt loslegen konnte. Als sie Frau Kleiber sah, wusste sie sofort: Jugendamt! Immer noch besser als die Polizei, aber dennoch unerfreulich.

    „Was hast du jetzt wieder angestellt?", herrschte sie ihren Sohn an, ohne Frau Kleiber zu begrüßen.

    „Ick hab nischt anjestellt", gab der trotzig zurück.

    „Und hör auf zu berlinern!, donnerte sie. „Was soll die Dame vom Jugendamt denken? Äh – Sie sind doch vom Jugendamt, oder?

    „Roswitha Kleiber, Jugendamt Berlin-Mitte, ja. Und Sie sind sicher Frau Paula Hildebrand?"

    „Ja, richtig, Tach auch. Entschuldigung, aber Sie wissen nicht, was ich mit dem Kerl durchmache. Der kann perfekt Hochdeutsch …"

    „Ich weiß", warf Frau Kleiber ein, ohne dass Rogers Mutter es beachtet hätte.

    „… und berlinert wie ein Müllkutscher, nur um mich zu ärgern!" Dann stutzte sie. „Sagten Sie: Jugendamt Mitte? Wir sind hier in Neukölln! Wieder schnauzte sie ihren Sohn an: „Biste wieder durch die halbe Stadt gefahren? Und wahrscheinlich schwarz? Und ich darf’s bezahlen, ja? Wovon eigentlich?

    Nun griff Frau Kleiber energisch ein: „Frau Hildebrand, nun beruhigen Sie sich doch! Ihr Sohn hat überhaupt nichts angestellt, er ist nicht schwarzgefahren, und er hat auch nicht die Schule geschwänzt – jedenfalls nicht freiwillig. Und er hat sich sehr gut benommen. Ich schlage vor, wir setzen uns jetzt erst einmal in Ruhe hin, und ich erkläre Ihnen alles. Ich habe eine – wie ich finde – sehr erfreuliche Nachricht für Sie."

    Rogers Mutter sah sie etwas misstrauisch an, bat sie dann aber in das gemütliche, wenn auch nicht sehr aufgeräumte kleine Wohnzimmer. Auf die Idee, der Dame vom Jugendamt eine Tasse Kaffee anzubieten, kam sie nicht.

    Frau Kleiber brachte der Mutter behutsam bei, dass ihr Sohn Zauberer war, erläuterte in aller Ausführlichkeit, was es mit dem Magischen Reich auf sich hatte, und schloss mit der Aussicht, dass in diesem Reich eine sehr gute Schule auf Roger wartete, und dazu lediglich ihre, Paulas, Zustimmung erforderlich sei.

    Als sie geendet hatte, starrte Paula Hildebrand sie minutenlang schweigend an. Dann sagte sie:

    „Ist hier irgendwo ‘ne versteckte Kamera oder sowas?"

    „Nicht, dass ich wüsste", erwiderte Frau Kleiber freundlich.

    „Könnte ich mal Ihren Dienstausweis sehen?"

    Frau Kleiber legte beide Dokumente auf den Tisch: Das eine, schlicht und modern, wies sie als Mitarbeiterin des Jugendamtes aus, das andere – handgeschrieben und mit dem altmodischen, aber beeindruckenden Siegel des Provinzialrats der Vereinigten Magischen Orden versehen, beglaubigte sie als Leiterin der Berliner Findelstelle des Magischen Reiches.

    In jedem anderen Land der Welt hätte man Frau Kleiber nun aufgefordert, ihre unglaubliche Geschichte durch wirkliche Hexerei zu untermauern. Paula Hildebrand aber war auf ihre Weise immer noch eine gute Deutsche und als solche eher bereit, an die Existenz von Hexerei zu glauben, als die Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen, eine Amtsperson, die sich mit ihrem Dienstausweis vorstellt, könne in amtlichen Zusammenhängen die Unwahrheit sagen.

    Als sie immer noch nichts sagte, legte Frau Kleiber ihr ein Formular und einen Kugelschreiber vor und fragte vorsichtig: „Würden Sie bitte diese Einverständniserklärung unterschreiben, damit Roger auf diese Schule gehen kann?"

    Sie hatte den Namen „Roger so ausgesprochen wie Roger selbst es tat, also so, wie er geschrieben wird, betont auf der ersten Silbe und mit normalem „g in der Mitte.

    Die Mutter schnappte dazwischen: „Er heißt Roger!"

    Sie sprach den Namen französisch aus, mit einem „g wie in „Gelee und einem betonten „é auf der zweiten Silbe. Roger drehte die Augen zur Decke. Sie hatte ihn schon immer so genannt, aber als er eingeschult wurde, sprachen seine Schulkameraden seinen Namen englisch aus, und er fand damals, dass „Rodscher viel cooler klang. Seit ein oder zwei Jahren nannte er sich nun Roger und fand es noch cooler. Das französische „Rogé" klang in seinen Ohren nur noch geziert und peinlich.

    Frau Kleiber warf ihm einen erstaunten Blick zu, den er aber nicht erwiderte. Er hätte am liebsten widersprochen, schluckte seinen Protest aber hinunter, um seine Mutter, deren Unterschrift er brauchte, nicht zu verärgern.

    „Also Rogé, sagte Frau Kleiber versöhnlich in französischer Aussprache. „Sind Sie einverstanden, Frau Hildebrand?

    Die Mutter, die das Formular schnell durchgelesen hatte, blickte misstrauisch auf:

    „Kann er an einer solchen Schule denn sein Abi machen?"

    „Er wird mit achtzehn Jahren das magische Bakkalaureat ablegen und kann dann an der magischen Akademie studieren …"

    „Und an einer normalen Uni?"

    „Leider nein, jedenfalls nicht ohne Weiteres, räumte Frau Kleiber ein. „Unsere Abschlüsse sind in der Simpelwelt unbekannt und dürfen nicht einmal vorgelegt werden.

    „Dann vergessen Sie es!"

    „Wenn Ihr Sohn Grenzgänger werden möchte – und das werden viele simpelstämmige Zauberer, fuhr Frau Kleiber beharrlich fort, „kann er sich nach seinem Abschluss in einem dreijährigen Sonderkurs auf das Simpel-Abitur vorbereiten und es dann nachholen.

    „Drei Jahre? Das heißt, er hat auf Ihrer Schule praktisch nichts gelernt, was er fürs Abitur braucht?"

    „Doch, erwiderte Frau Kleiber. „Mathematik, Physik, Latein, klassische Literatur – aber zugegeben, der Schwerpunkt liegt auf der Entfaltung und Kontrolle seiner magischen Fähigkeiten.

    „Magische Fähigkeiten …, sinnierte die Mutter. „Also, wenn ich ein Haus haben will, kann er es mir zaubern? Und wenn er einen Job braucht, verhext er den Arbeitgeber, damit er ihn einstellt?

    „Um Gotteswillen, nein! rief Frau Kleiber. „Seine magischen Fähigkeiten darf er nur im Magischen Reich anwenden – und auch dann nicht zur Manipulation von Menschen. Zaubern in der Simpelwelt ist in jedem Fall streng verboten!

    Frau Hildebrands Lippen wurden schmal. „Ich soll meinen Sohn sieben Jahre lang nutzlosen Hokuspokus lernen lassen?"

    „Nicht nutzlos!, entgegnete Frau Kleiber. „Mit seinem Talent kann er bei uns eine große Karriere machen!

    „Ach?, fragte die Mutter hämisch. „Und wenn meine Freundinnen mich fragen, was mein Sohn macht, sage ich ihnen, er promoviert gerade zum Thema ‚Wie verwandle ich Kieselsteine in Brathähnchen‘?

    „Mit einem solchen Zauber, wenn es ihn gäbe, würden Sie zumindest Lebenshaltungskosten einsparen", scherzte Roswitha Kleiber, um der abweisenden Mutter wenigstens ein Lächeln zu entlocken. Vergeblich.

    „Darum geht es doch nicht!"

    „In der Tat, bestätigte Frau Kleiber und wurde wieder ernst. „Es geht darum, dass Ihr Sohn selbst auf diese Schule will, weil sie seinen Interessen und Talenten besonders entgegenkommt. Es geht darum, dass er bei uns ein glückliches Leben führen könnte, ganz egal, ob er Karriere macht oder nicht!

    Ihnen ist das egal, aber mir nicht! Sie haben leicht reden, Sie haben ja studiert! Ich will nur das Beste für meinen Jungen!"

    „Aber Frau Hildebrand, das bezweifelt doch kein Mensch!"

    Roger biss sich auf die Lippen, damit ihm nicht herausrutschte, dass es sehr wohl einen Menschen gab, der das bezweifelte.

    „Mein Sohn könnte alles erreichen und alles werden, was ich will: Arzt, Anwalt, Wissenschaftler …"

    „An der Schule, an der er jetzt ist?" warf Frau Kleiber ein.

    „Er ist doch selber schuld, dass er nicht aufs Gymnasium konnte! Ich war mit ihm beim Psychologen, der Kerl hat einen IQ von hundertsechzig, aber schwänzt andauernd und schreibt Fünfen und Sechsen! Stinkt vor Faulheit!"

    Nun platzte Roger der Kragen:

    „Wärste mal mit jutem Beispiel voranjejangen!, warf er dazwischen, wohl wissend, dass er damit ihren wunden Punkt traf. „Aber dir war doch selber allet andre wichtjer damals, deine Noten waren doch keen‘ Deut besser als meine …

    „Ich weiß aber heute, dass das falsch war und ich damit mein Leben verpfuscht habe …"

    „Ach, und ick bin der Ersatzmann, der’t ussbüjelt, wa? Damit du die Mutter von Herrn Doktor bist und bei deinen Freundinnen anjeben kannst …"

    „Komm mir nicht so! Dass ich dir diesen Wisch unterschreibe, um dich noch zu belohnen, das kannst du dir jedenfalls abschminken, du faule Sau!"

    „Frau Hildebrand, bitte …", flehte Frau Kleiber, aber nun sah Roger nur noch rot. Diese Chance würde er nie wieder bekommen, und die Alte würde sie ihm nicht kaputtmachen! Er funkelte seine Mutter an:

    „Und du", knurrte er so drohend, wie es sein Stimmbruch nur zuließ, „kannst dir abschminken, jemals die Mutter von Herrn Doktor zu sein, so wie du dir schon abschminken musstest, die Frau von Herrn Doktor zu werden, weil’s ja nicht jeklappt hat, dich im Bett meines Vaters hochzuschlafen!"

    Klatsch! Die Ohrfeige seiner Mutter ließ Rogers Wange dunkelrot anlaufen. Mutter und Sohn stierten einander hasserfüllt an.

    „Du wagst es, so mit mir zu reden?", stieß sie schließlich hervor.

    „Ich rede nie wieder anders mit dir, wenn du nicht unterschreibst!"

    Da die Mutter schwieg, fügte Roger hinzu:

    „Reicht immer noch nicht? Na denn …" Er ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, bis er an dem Röhrenfernseher hängenblieb. Er streckte den rechten Zeigefinger durch und visierte das Gerät an. Jetzt muss es einfach klappen, dachte er, jetzt oder nie!

    „Roger, nicht!", schrie Frau Kleiber, doch es war zu spät.

    Peng! Der Fernseher implodierte.

    Als er sich wieder seiner Mutter zuwandte, glühte Abscheu in Ihrem Blick.

    Schließlich griff sie nach dem Kugelschreiber, unterschrieb mit einer Gewalt, als wollte sie eine Furche ins Papier pflügen, und schrie, schon im Hinausgehen, mit sich überschlagender Stimme:

    „In einer halben Stunde bin ich wieder da, und du bist weg! Pack deine Sachen, ich will dich nie wieder sehen!"

    Dann schlug sie die Wohnungstür hinter sich zu.

    Roger wurde sich gewahr, dass Frau Kleiber ihn bleich und schockiert anstarrte.

    „Sag mal, Roger, sagte sie, als sie sich wieder gefasst hatte, „findest du es richtig, so mit deiner Mutter zu sprechen?

    „Hatte ich eine Wahl?", fragte er zurück, den finsteren Blick auf den Boden gerichtet.

    „Also, ich finde, du musst auf sie warten und dich entschuldigen. Das kann nicht das letzte Wort vor deiner Abreise gewesen sein."

    Roger überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf.

    „Nein. Sie soll keine Chance haben, es sich noch anders zu überlegen, ich will unbedingt in eure magische Welt. Außerdem finde ich es gerecht, dass sie sich auch einmal Gemeinheiten von der Art anhören muss, wie ich sie ihretwegen ständig zu hören bekomme. Und schließlich – er zögerte kurz – „war es die Wahrheit. Ich entschuldige mich nicht.

    Da Frau Kleiber nichts sagte, fügte er hinzu:

    „Sie haben es gehört, ich muss meine Koffer packen, und viel Zeit habe ich dazu nicht."

    „Ich helfe dir", sagte Roswitha Kleiber.

    ALLEGRA

    Roger schwitzte ein wenig, als sie das Rathaus von Berlin-Mitte wieder betraten, denn er war zu stolz gewesen, sich von Frau Kleiber beim Koffertragen helfen zu lassen. Sie durchschritten den Eingang, machten auf dem Absatz kehrt und verließen das Gebäude wieder Richtung magische Welt.

    „Fliegen wir wieder auf einem Besen?", wollte Roger wissen, nachdem sie die Holztreppe hinabgestiegen waren.

    Roswitha seufzte. „Ich besitze zwar einen Flugbesen, komme aber schlechter damit zurecht als selbst die meisten Simpel es täten, wenn man ihnen einen Besen gäbe. Ich fühle mich immer wie ein Kind, das gerade Radfahren lernt. Nur dass das Kind irgendwann wirklich radfahren kann. Es ist zwar nicht schlimm, vom Besen zu fallen – du weißt ja, wir haben einen flächendeckenden Abfederungszauber –, aber lästig ist es schon. Wir gehen zu Fuß."

    Sie zückte ihren Zauberstab und versuchte, die Koffer schweben zu lassen, die Roger abgestellt hatte, um seine Hände auszuschütteln. Die Koffer rührten sich nicht.

    „Das habe ich befürchtet, sagte sie und seufzte wieder. „Sie sind für meine Zauberkraft zu schwer. Ich schlage vor, wir nehmen jeder einen.

    „Wollen wir es nicht doch mit einem Besen probieren?", bat Roger. „Ich könnte doch versuchen, ihn zu fliegen, vielleicht sind meine Zauberkräfte ja stärker als Ihre …"

    „Eure, korrigierte Roswitha Kleiber. „Denk daran, du bist hier im Magischen Reich. Sie zögerte einen Moment. „Es ist keine Frage der Zauberkräfte, sogar Simpel könnten einen Flugbesen steuern, wenn sie einen hätten. Nein, ich habe wohl einfach eine Phobie gegen Geschwindigkeit, habe auch keine Simpel-Fahrerlaubnis, weil ich mich am Steuer eines Autos immer verkrampfe. Also gut, versuchen wir’s, viel passieren kann ja nicht."

    Sie öffnete eine Tür zu einem Verschlag unter der Holztreppe und entnahm ihm einen Besen, der ungefähr so aussah wie der des Bauern Kletschke, befestigte die beiden Koffer mit Hilfe zweier Karabinerhaken, die wohl eigens zu solchen Zwecken schon am Besen hingen, stieg auf den hinteren Sitz und bedeutete Roger, vorne Platz zu nehmen.

    „Die Magie steckt im Besen, erläuterte sie, „er kann also von Natur aus schweben. Damit er sich fortbewegt, brauchst du ihn nur in die Richtung zu drücken, in die du fliegen willst. Er fliegt dann ziemlich langsam, aber das sollte für unsere Zwecke genügen.

    „Und wie bringe ich ihn dazu, schneller zu fliegen?"

    „Indem du es dir magisch wünschst – also indem du dir deinen Willen, aber auch das Gefühl, schneller zu fliegen, bewusst machst und es im Geist vorwegnimmst."

    Roger packte die Griffe fest mit beiden Händen – wahrhaftig, der Besen bewegte sich! Als er die Griffe vorsichtig nach oben und nach vorn drückte, ging das Gerät in einen sanften Steigflug über.

    „Wow!", flüsterte er.

    „Du machst das sehr gut, sei am Anfang aber vorsichtig!", mahnte Roswitha Kleiber.

    Vorsicht gehörte nicht zu Rogers bevorzugten Tugenden. Kaum hatten sie die Baumwipfelhöhe überschritten, da konzentrierte er sich auf seinen Willen: Schneller!, befahl er sich und seinem Besen, und prompt schoss er über die Bäume, als wollte er ein Rennen gewinnen.

    „Vorsichtig, habe ich gesagt", rief seine Mitreisende, der offenbar mulmig wurde, von hinten.

    Roger grinste: „Na und?", rief er, den Kopf halb nach hinten gewandt

    Spaßeshalber flog er eine S-Kurve, woraufhin der Besen bedrohlich ins Schwanken geriet, weil die aufgehängten Koffer wild hin und her zu baumeln begannen.

    „Nicht!", kreischte es von hinten.

    „Immer locker bleiben, Frau Kleiber, ick mach det schon."

    In der Tat gelang es ihm, seinen Besen zu stabilisieren und wieder schnurgeradeaus zu fliegen, auf Berlin zu.

    Der Flug endete viel zu schnell. Als sie den Turm der Marienkirche erreichten, beugte Roswitha Kleiber sich vor, damit er ihre Hand sehen konnte, und deutete auf ein großzügig bemessenes einstöckiges Fachwerkhaus eine Gasse weiter. Roger seufzte, hielt aber gehorsam darauf zu und landete sachte einige Meter von der Eingangstür entfernt.

    „Nicht schlecht für den Anfang, wa?", fragte er mit einer gewissen Selbstgefälligkeit.

    Roswitha, die ein wenig bleich geworden war, atmete tief durch, bevor sie bestätigte: „Nicht schlecht. Aber fürs nächste Mal suche ich mir lieber einen anderen Piloten. Für diese Art von Flug bin ich nicht mehr jung genug."

    Roger sah sich um und stellte fest, dass die Straße gepflastert war.

    „Komisch, meinte er. „Ich hab mal gelesen, dass man im Mittelalter in den Städten knöcheltief in der Sch… äh, im Schlamm stand.

    „Das war auch so, erwiderte seine Begleiterin, die Rogers Koffer ausgeklinkt hatte und mit dem Besen in der Hand auf die Tür zuging. „Aber dass unsere magische Welt sich im Mittelalter von der Simpelwelt abgesondert hat, heißt ja nicht, dass deshalb bei uns die Zeit stehengeblieben wäre. Im Gegenteil, als wir endlich ungestört zaubern konnten, war es ein Kinderspiel, die Straßen zu pflastern – jedenfalls für bessere Zauberer, als ich es bin. Außerdem stammte der Mist auf den Straßen früher meistens von Pferden, aber wir reiten hier ebenso selten wie ihr in der Simpelwelt, und wenn, dann zum Spaß, genau wie ihr.

    Während Roger seine Koffer hochhob, ergriff sie den mächtigen Ring, der aus einer Löwenkopfskulptur ragte, die in die Tür eingebaut war. Noch bevor sie damit klopfen konnte, gab der Löwenkopf ein markerschütterndes Brüllen von sich, und sie sprang vor Schreck unwillkürlich einen Schritt zurück.

    „Was war das denn?", fragte Roger, der ebenfalls zusammengezuckt war.

    „Das, erwiderte sie grimmig, „war eine der Kindereien von Alwin Köhler. Er hat vermutlich den Türklopfer verzaubert.

    Roger grinste in sich hinein: Wer immer Alwin Köhler sein mochte, seine Art von Humor war ihm sympathisch.

    Die Tür wurde von innen geöffnet. Im Rahmen stand eine Frau, die Mitte dreißig sein mochte. Unter dem naturfarbenen Tuch, das sie turbanartig um den Kopf geschlungen hatte, lugten strohblonde Haare hervor. Ihr Kleid war anscheinend selbstgewebt und mit zahlreichen Stickereien verziert: ein Mittelding zwischen einer Art Hippielook und einer Tracht – zu sorgfältig gearbeitet für das eine, aber zu lässig für das andere.

    Wäre ihm jemand in solchen Klamotten in der Simpelwelt begegnet, so wären Roger dazu vermutlich Kommentare wie „Öko-Tante oder „Müslifresserin eingefallen, aber da er hier sozusagen im Ausland war, fand er, er sollte sich mit derartigen Urteilen zurückhalten – denn bereits ein kurzer Blick die Gasse entlang hatte ihn belehrt, dass hier wohl die meisten Frauen so oder so ähnlich herumliefen.

    Nachdem die beiden Frauen einander mit einer herzlichen Umarmung begrüßt hatten, stellte Roswitha ihren Schützling vor:

    „Das ist Roger Hildebrand aus Simpel-Rixdorf. Er wird schon im November dreizehn, deshalb muss er jetzt auf die höhere Schule, obwohl die Vorbereitungslager schon vorüber sind. Ich dachte mir, du könntest ihn vielleicht so lange bei dir aufnehmen und ihn ein wenig unterweisen. Er hat erst heute Mittag zum ersten Mal die Etage gewechselt, und da Alwin fast im gleichen Alter ist …"

    „Von Herzen gern, unterbrach die andere Frau und reichte Roger lächelnd die Hand. „Sei mir gegrüßt, Roger, ich bin Brida Köhler.

    Brida war nicht unbedingt das, was man eine schöne Frau nennt, aber selbst Roger – der sonst größten Wert auf ein betont cooles Auftreten legte –, konnte sich dem Wärmestrom nicht entziehen, der von ihrer Person und ihren großen blauen Augen ausging, und strahlte zurück, als er ihre Hand ergriff.

    „Guten Tag, Frau Köhler, sagte er artig – wenn er wollte, wusste er sich durchaus zu benehmen –, „und vielen Dank für Ihre … äh, Eure Gastfreundschaft.

    „Es ist uns eine Freude, sie zu gewähren, meinem Mann und mir, erwiderte Brida. Es klang etwas förmlich, aber nicht floskelhaft, und Roger war sich sicher, dass sie es genau so meinte, wie sie es sagte. Zumal sie fortfuhr: „Im Übrigen würde ich mich freuen, wenn du mich duzen und ‚Brida‘ nennen würdest. Die Kleine hier ist meine Tochter Kati.

    „Hallo Kati", sagte Roger zu dem etwa dreijährigen Mädchen mit dunkelblonden Zöpfen, das ein bisschen schüchtern, ein bisschen vorwitzig und mit freundlicher Neugier am Bein seiner Mutter vorbeispähte, als wollte es ihn auf seine Eignung als Spielkamerad taxieren. So unvermittelt angesprochen, suchte die Kleine aber sicherheitshalber erst einmal das Weite. Dabei stieß mit einem Jungen zusammen, der aus der offenen Tür eines Nebenzimmers kam und geistesgegenwärtig seine kleine Schwester festhielt, damit sie nicht hinfiel, bevor sie hinauslief.

    „Ich bin Alwin, sei gegrüßt!", stellte sich der Junge vor, der offenbar das Strohblond und die Augen seiner Mutter geerbt hatte.

    Aha, dachte Roger, das ist also der, der den Türklopfer verzaubert hat!

    „Roger, hallo."

    Die beiden Jungs brauchten sich nur einen Moment lang anzusehen, um festzustellen, dass sie einander mochten.

    „Du bleibst erst einmal bei uns, habe ich vernommen?", wollte Alwin wissen, während sie die geräumige Wohnstube betraten, die ungefähr so eingerichtet war, wie Brida sich kleidete:

    Roger hatte dunkelgebeizte Möbel erwartet, wie er sie aus dem Heimatmuseum kannte; tatsächlich dominierte aber Naturholz, das lediglich ein wenig nachgedunkelt war, und in dem auch die Wände vertäfelt waren. Auch die Fenster waren ziemlich groß für ein Fachwerkhaus und ließen mehr als genug Licht ein, um den Raum, in dem ein großer Kamin den Blick auf sich zog, freundlich und einladend wirken zu lassen.

    „Ich denke schon, ja", beantwortete Roger Alwins Frage.

    „Er ist unser Gast bis zu seiner Stableite, präzisierte Brida und wandte sich dann ihrer Freundin zu: „ Apropos, weißt du schon, welche Schule ihn aufnehmen soll?

    „Ich werde die Löwenschule empfehlen, aber das letzte Wort hat die Kommission …"

    „Löwenschule wär gut, warf Alwin ein und fügte, an Roger gerichtet, erklärend hinzu: „Da komme ich nämlich auch hin, dann hätten wir gemeinsam Stableite.

    „Was ist denn eine Stableite?", fragte Roger verwirrt. Er hatte diesen komischen Ausdruck zwar aus Roswithas Mund schon einmal gehört, konnte sich aber nichts darunter vorstellen.

    „Die Stableite, erläuterte Alwin, „ist ungefähr das, was im Mittelalter die Schwertleite war, bei der die jungen Krieger ihr erstes eigenes Schwert bekamen und in den Ritterstand erhoben wurden. Nur, dass wir eben kein Schwert, sondern einen Zauberstab bekommen.

    „Waaahnsinn!", meinte Roger mit so verzückt leuchtenden Augen, dass alle Anwesenden verständnisvoll lachten.

    „Ist dir eigentlich gar nicht bange? fragte Brida. „Also, nicht dass du Grund dazu hättest, aber die meisten Simpelkinder, die zu uns kommen, sind erst einmal etwas verschüchtert …

    „Wenn er es mal wäre!, rief Roswitha indigniert dazwischen. „Dann würde er weniger draufgängerisch Besen fliegen, und meinem Magen ginge es besser!

    „Ich geb dir einen

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