Morac: Roman
Von Paul M. Whiting
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Über dieses E-Book
Paul M. Whiting
Paul M. Whiting wurde 1950 in der Nähe von Boston (USA) geboren. Nach dem Studium der Germanistik übersiedelte Whiting 1979 nach Deutschland, das er zu seiner Heimat gemacht hat. Nach Beendigung seiner Lehrtätigkeit am Gymnasium arbeitet Whiting weiterhin als freiberuflicher Autor für einen großen deutschen Bildungsverlag. Sein Debütroman 'Morac' erschien 2017 bei Tredition.
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Buchvorschau
Morac - Paul M. Whiting
Teil I
Im Schatten des Drachen
Kapitel 1 Das Auge der Finsternis
Das Erste, was Moracs Ohr erreichte, waren die gedämpften Angstschreie, die der Wind von der Ebene her den Hang hinauftrug. Sofort richtete er sich von den Sträuchern auf, wo er eben nach Beeren gesucht hatte, und schaute in die Ferne. Winzige, in Panik flüchtende Gestalten, doch nichts, was den Grund ihrer Flucht erkennen ließ. Dann erblickte er es: Gleichmäßig wie der Schatten einer Wolke glitt es über das fahle Grasland, lautlos und unaufhaltsam. Von Angst gepackt, warf er sich ins Gestrüpp. Er presste sein Gesicht gegen die harte Erde. Am liebsten hätte er sich ein tiefes Loch gegraben und wäre hineingekrochen. Und dann hörte er das grässliche Geräusch, wie das Schlagen schwerer Stoffbahnen im Wind, und der Schatten des Ungeheuers verschlang ihn, wo er lag. Wie ein riesiger Raubvogel im Rüttelflug schwebte es jetzt direkt über ihm. Morac wagte nicht, sich umzudrehen und dem Tod ins Gesicht zu schauen. Und dann spürte er es: spürte, wie das Auge des Ungeheuers sich in seine Seele bohrte, immer tiefer. Der Druck wuchs und wurde unerträglich. Der Rhythmus der gewaltigen Flügelschläge verschmolz mit dem Pochen seines Herzschlags, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Lieber tot sein, als einen Augenblick länger dieser Qual standzuhalten. Er sprang auf und lief um sein Leben—und prallte mit dem Gesicht gegen die Wand.
Einen Augenblick lang stand er da wie benommen. Durch den plötzlichen Schmerz war er mit einem Mal hellwach geworden. Morac sah sich um, soweit das im Dunkeln möglich war. Er stand mitten in der Hütte, unweit seiner Schlafstätte. Er musste im Traum aufgesprungen und gegen die Wand gelaufen sein. Er fasste sich vorsichtig an die Nase. Es tat weh, aber anscheinend war nichts gebrochen. Dann trat er ins Freie.
Draußen war es noch dunkel, aber nicht mehr die Finsternis der mondlosen Nacht. Im Osten hob sich schon die erste zaghafte Helligkeit des Tages deutlich von der schwarzen Scheibe des Horizonts ab. Eine leichte Brise zog von der Ebene her. Nach der angstvollen Enge der Traumwelt tat es gut, Morgenluft einzuatmen, während um ihn herum das Dorf noch friedlich schlief.
Er hatte also wieder davon geträumt. Von dem Drachen, der seinen Vater getötet und Zerstörung über das Land gebracht hatte. Und nun im Traum ihn heimsuchte, Nacht für Nacht. Morac wünschte, sein Vater wäre noch da und könnte ihm sagen, was der Traum bedeutete, oder er hätte einen älteren Bruder, mit dem er darüber reden könnte. Seiner Mutter durfte er nichts davon sagen. Seit Arnors Tod hatte sie sich immer tiefer in ihrer Trauer vergraben, redete kaum mit ihm.
‚Wieder so früh unterwegs?’
Morac zuckte zusammen und drehte sich um. Es war Orla, das Mädchen aus der Nachbarhütte. Sie hatte ihre Kapuze gegen die Kühle hochgezogen, aber im ersten Licht des Tages konnte er ihre Gesichtszüge deutlich erkennen. In der Morgendämmerung sahen sie sehr schön aus; das machte ihn einen Augenblick verlegen.
‚Was ist nun? Hast du deine Zunge im Stroh verloren?’, fragte sie lachend.
‚Nein, es ist nur.…’ Morac wusste nicht, wie er ihr etwas erklären sollte, was er selber nicht verstand.
‚Was ist denn mit deiner Nase?’, fragte sie plötzlich. ‚Du blutest ja.’
Morac fasste sich vorsichtig ins Gesicht. Es tat nicht mehr so weh wie vorhin, aber seine Finger spürten sofort die Nässe.
‚Ich bin…im Schlaf gegen die Wand gestolpert.’
‚Komme mit’, sagte Orla. ‚Ich muss sowieso Wasser holen. Dann putze ich dir die Nase sauber.’ Sie ging mit ihrem Holzeimer zum Brunnen. Morac folgte ihr und half beim Wasserschöpfen. Dann stellte sie sich vor ihn hin, machte den Zipfel ihres Ärmels nass und wischte ihm vorsichtig das Blut aus dem Gesicht. Morac versuchte, ihren Blick zu meiden.
‚Nicht wahr, du hast wieder davon geträumt’, sagte sie schließlich.
Morac setzte sich auf den Brunnenrand, um sie nicht direkt anschauen zu müssen. Orla setzte sich zu ihm.
‚Hör mal, Morac. Ich habe schon oft die Alten sagen hören, dass Träume versteckte Botschaften enthalten. Ich habe selbst einen Traum gehabt, der mir einen wichtigen Hinweis gab. Ich hatte meine Stecknadel verloren. Tagelang habe ich nach ihr gesucht, doch ohne Erfolg. Ich war ganz niedergeschmettert, denn sowas ist kostbar. Sie war noch von meiner Großmutter. Dann hatte ich einen seltsamen Traum. Ich war allein in der Ebene unterwegs und hatte mich verlaufen. Ich suchte verzweifelt, aber ich konnte den Weg nicht mehr finden. Schrecklichen Durst hatte ich auch. Dann hatte ich plötzlich eine Eingebung: in der Richtung liegt Wasser. Ich weiß nicht, wie der Gedanke zu mir gekommen ist, er war einfach auf einmal da. Ich bin dahingerannt, aber in dem Augenblick, wo ich eigentlich zu dem Wasser hätte kommen müssen, bin ich aufgewacht.’
‚Und dann?’ Morac schaute sie interessiert an.
‚Was dann?’
‚Was war denn mit der Botschaft?’
‚Ach ja. Der Traum hat mich tagelang beschäftigt. Er war so deutlich, deutlicher noch als das gelebte Leben. Aber verstehen konnte ich ihn nicht. Darum bin ich zu der alten Eliora gegangen und habe ihr davon erzählt. Sie sagte zu mir: „Du hast doch etwas gesucht. Dein Traum hat dir gesagt, wo du es finden wirst."‘
‚Aber du hast das Wasser im Traum gar nicht gefunden’, wandte Morac ein.
‚Eben. Ich habe im wirklichen Leben kein Wasser gesucht, sondern meine verlorene Nadel. Der Traum hat mir nur gezeigt, wo ich sie suchen musste.’ Sie wies auf eine Stelle an der Brunneneinfassung, wo mehrere Steine übereinander lagen. ‚Ich sollte zum Wasser gehen und dort suchen. Das war die Botschaft. Und hier hinter diesem Stein habe ich meine Stecknadel gefunden. Ich muss sie beim Wasserziehen verloren haben.’
Morac schaute vor sich hin. Er hatte zum Schluss nur halb hingehört. Seine Gedanken waren woanders, bei seinem eigenen Traumerlebnis.
‚Eliora lebt nicht mehr. Aber du könntest mit deiner Mutter über deinen Traum sprechen. Mirna ist doch eine kluge und erfahrene Frau.’
‚Das geht nicht. Alles, was mit dem Drachen zu tun hat, erinnert sie an Arnors Tod. Darüber will sie nicht reden.’
‚Wenn du immer wieder von dem Drachen träumst, dann hat es bestimmt etwas mit dir zu tun, nicht mit deinem Vater. Geh doch zu dem Alten. Er war selber dabei, als dein Vater mit dem Drachen gekämpft hat. Wenn einer deinen Traum deuten kann, dann ist er das.’
Ja, da hast du wohl recht’, antwortete Morac, aber seine Stimme klang, als wenn er schon nicht mehr ganz da wäre. ‚Ich danke dir, Orla, für deinen guten Rat. Komm, ich trage dir den Eimer nach Hause. Voll ist er noch schwerer als leer.’
Die beiden Kinder standen auf, und Orla schaute ihn freundlich an. Er musste wieder daran denken, wie schön ihr Gesicht im rötlichen Schimmer des frühen Lichtes aussah. Aber seine Gedanken waren woanders, bei etwas, was Orla nebenbei gesagt hatte. ‚Wenn du immer wieder von dem Drachen träumst, dann hat es bestimmt etwas mit dir zu tun.’ Der Drache in seinem Traum war nicht gekommen, um das Land wieder zu verwüsten. Er war zu ihm gekommen. Er hatte ihn gesucht und am Hang gefunden. Bei dem Gedanken fing Morac unwillkürlich an zu zittern. Er zog sich seine Kapuze über den Kopf.
Kapitel 2 Die Hütte des Alten
Der Alte wohnte abseits, dort wo das Land abfiel und eine flache Rinne bildete, in der nur wenig wuchs. Sein Name war eigentlich Eringar, aber seitdem er der Älteste im Dorf war, wurde er nur der Alte genannt, genau wie sein Vorgänger. Seine Hütte war auch die einzige, die einen zweiten Raum besaß.
Morac fand ihn vor seiner Hütte, wo er auf einem verwitterten Holzsteg saß, von dem aus man einen weiten Blick in die Landschaft hatte. Der Alte hielt einen Holzstab in der linken Hand, den er mit einem Messer bearbeitete. Er schaute nicht hoch, als Morac sich zu ihm setzte.
‚Ich wusste, dass du einmal kommen würdest.’
Der Alte schnitzte weiter, ohne ihn anzuschauen. Morac betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Mit seinem grauen Bart und seinem verwitterten Gesicht sah er schon sehr alt aus—vielleicht sogar schon vierzig. So würde sein Vater aussehen, wenn er noch am Leben wäre.
‚Schau mal, wo wir jetzt sitzen—hast du schon mal darüber nachgedacht, warum der Steg hier steht?’
Morac schüttelte den Kopf.
‚Der Graben hier, zu unseren Füßen’—der Alte unterbrach seine Arbeit und machte eine ausladende Handbewegung—‚er zieht sich quer durch die Steppe, in einem breiten Bogen, soweit das Auge reicht. Vor Jahren war hier der Fluss, und dieser Steg, auf dem wir sitzen, war ein Bootssteg, von dem aus man ins Wasser stechen konnte. Im Fluss wimmelte es von Fischen; man konnte sie fast mit bloßen Händen fangen. Hier am Ufer standen Bäume, in deren Schatten man sich im Sommer ausruhen konnte. Manche davon trugen Früchte. Es gab reichlich zu essen. Die Menschen wurden satt und lebten lange.’
‚Wieso ist das alles nicht mehr?’, fragte Morac.
Eringar antwortete nicht gleich. Er schaute Morac zum ersten Mal direkt an. ‚Was weißt du über deinen Vater?’
‚Nicht viel.’ Morac spürte, wie es in seiner Kehle plötzlich brannte. ‚Mit Mirna kann ich nicht über ihn sprechen. Ich weiß nur, dass er im Kampf mit dem Drachen gefallen ist. Damals war ich noch klein.’
‚Ja’, sagte der Alte nachdenklich, ‚das waren große Zeiten. Wir tragen alle daran schwer.’ Er begann wieder, an seinem Stab zu schnitzen. ‚Vor dem Drachen hatten wir alle Angst. Darüber zu reden ist eines—vor ihm zu stehen und ihm standzuhalten ein anderes. Dein Vater war der Tapferste von allen.’
Er schwieg. Es schien, als ob er sich in Erinnerungen an eine ferne Zeit verloren und darüber die Gegenwart vergessen hätte.
‚Dann hat der Drache ihn getötet?’, fragte Morac schließlich, als er meinte, der Alte habe Zeit genug für seine Erinnerungen gehabt.
‚Lange hatte man von dem Drachen nichts mehr gesehen,’ antwortete Eringar, als er wieder zu reden begann. ‚Einige meinten, es gebe ihn nicht mehr, er sei gestorben, oder vielleicht weggeflogen. Dann war er plötzlich wieder da. Groß, schrecklich, unbesiegbar—sowas hatte keiner von uns vorher gesehen. Wir Männer beratschlagten, was zu tun sei. Große Wurfspeere wurden angefertigt. Die Spitzen wurden mit Gift bestrichen. Als er wieder auftauchte, waren wir bereit. Schon als er am Horizont erschien, griffen wir zu unseren Speeren. Zwölf starke Männer. Was dann passierte, kann ich dir kaum beschreiben…’
Seine Stimme brach ab. Er schien mit der Erinnerung zu kämpfen.
‚Der Drache hatte uns natürlich auch schon gesehen. Und flog im Sturzflug auf uns zu. Kurz bevor er uns einholte, stieß er einen Schrei aus…einen Laut wie einen Blitz, der Berge spaltet und Bäume wie Halme umknickt. Wir sind alle in Panik geflohen, nur noch den einen Gedanken im Kopf: weg von hier! Alle außer einem.… Arnor blieb stehen, während wir anderen um unser Leben liefen, blieb stehen, als der Drache tief über seinen Kopf hinwegfloh, den Fliehenden hinterher, und in dem Augenblick warf er seinen Speer in die Luft.’ Der Alte hielt einen Augenblick inne, wie gefangen im Netz der Erinnerung. ‚Ein entsetzlicher Schrei brachte uns zum Stehen. Der Drache war getroffen worden. Arnors Speer steckte noch in seiner Seite. Einen Augenblick drehte er sich wild in der Luft wie ein getroffener Vogel und drohte abzustürzen. Dabei schlug er mit dem Schwanz aus und traf deinen Vater am Kopf. Er sank leblos zu Boden. Dann nahm der Drache seine ganze Kraft zusammen und kämpfte sich mühsam wieder nach oben. Einmal noch kreiste er über der Gegend, dabei stieß er schreckliche Laute aus, dann verschwand er, wie er gekommen war. Seitdem hat kein Mensch etwas von ihm gesehen oder gehört.’
Morac schwieg. Der Gedanke, dass sein Vater als Einziger dem Drachen standgehalten hatte, weckte in ihm widersprüchliche Gefühle.
Der Alte schaute ihn eindringlich an. Er legte seine Hand auf Moracs Schulter. ‚Dein Vater war ein großer Held. Unser Volk hat nie einen größeren gekannt.’
‚Was meinst du.…’ Morac zögerte. ‚Lebt der Drache noch?’
‚Das weiß niemand. Manche sagen sogar, Drachen sterben nie. Keiner von uns hat je von einem toten Drachen gehört.’
‚Wenn er noch am Leben ist…wo lebt er denn?’
Der Alte lächelte, wobei die Falten in seinem Gesicht noch zahlreicher wurden. ‚Willst du ihn etwa zu Hause besuchen?’
‚Nein, natürlich nicht, ich dachte nur, wenn er noch lebt, dann muss er irgendwo etwas wie eine Behausung haben.’
‚Da wirst du wohl Recht haben’, sagte der Alte. ‚Als ich so groß war wie du, erzählten die Alten, dass Drachen in den Bergen hausen, am anderen Ende der großen Steppe.’ Eringar schwieg einen Augenblick und sah ihn fragend an. ‚Du bist zu mir gekommen, weil du etwas auf dem Herzen hast.’
Morac erzählte ihm von dem Traum, der ihn in der letzten Zeit immer wieder heimgesucht hatte. Der Alte hörte ihm aufmerksam zu, dann schwieg er.
‚Ich habe dir die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt’, sagte er schließlich. ‚Nachdem der Drache weg war, blieb der Regen aus. Erst einen Sommer, dann zwei, dann wurden es immer mehr. Das Korn verdorrte am Halm, das Vieh wurde kränklich und gebar nicht mehr. Der Fluss ging immer mehr zurück, bis er nur noch ein kleines Rinnsal war, das in der Sonne austrocknete. Auch die Menschen wurden krank und schwach und starben früh weg, ohne Nachkommen. Unser Dorf…’, er zeigte hinter sich, ‚war noch vor wenigen Jahren doppelt so groß. Die leer stehenden Hütten wurden abgerissen, als es keine Bäume mehr gab, die Brennholz lieferten.’
‚Und ihr meint.…’ Morac zögerte.
‚Was meinen wir?’
‚Dass das der Fluch des Drachen war? Dafür, dass mein Vater ihn verwundet hat?’
Der Alte stand plötzlich auf. Trotz seines Alters war er immer noch eine imposante Gestalt, vor der man Achtung haben musste. Morac erhob sich ebenfalls.
Zusammen gingen sie den Weg zurück, der zum Dorfplatz führte.
Ja, das sagen einige.’ Der Alte sprach langsam, als ob er seine Worte genau abwägen müsste. ‚Aber wissen kann man das nicht. Man hört mal dies, mal das. So reden Menschen, wenn sie ratlos sind.’
Morac blieb stehen. ‚Und du? Was glaubst du denn?’
Eringar schaute ihn wieder eindringlich an. Morac sah, wie er mit sich rang. Als er schließlich sprach, klang es fast wie ein Seufzer. ‚Vergiss deinen Traum und bleib bei Mirna. Sie braucht dich.’
‚Danke’, antwortete Morac. ‚Danke für deinen Rat.’ Er wandte sich ab und ging weg. Er wollte jetzt allein sein.
Denn eins war ihm klar geworden, auch wenn der Alte es nicht auszusprechen wagte: Der Drache, den sein