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Erwählung: Altberliner Kriminalroman
Erwählung: Altberliner Kriminalroman
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eBook141 Seiten1 Stunde

Erwählung: Altberliner Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Die Berliner Oberschicht ist in Aufruhr: Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Wochen ist ein zahlender Kunde des Rotlichtviertels erstochen aufgefunden worden. Polizei-Inspektor Johann Baptist von Arnaud tappt zunächst im Dunkeln, bis ein junger Adeliger, dem es durch einen Sprung in die nächtliche Spree gelungen ist, dem Täter zu entkommen, bei Arnaud ein überraschendes Geständnis ablegt. Indessen hat die Polizeidirektion, der Skandale überdrüssig, mit einem Großaufgebot der Gendarmerie den Bordellbetrieb faktisch lahmlegen lassen. Arnaud, der seine Bemühungen, an den Täter heranzukommen, zunichte gemacht sieht, wendet sich an den Kammergerichtsrat E. T. A. Hoffmann, der sich eine raffinierte Falle ausdenkt, um den Mörder aus der Deckung zu locken—was ihm dann auch gelingt, aber anders als geplant.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Juli 2022
ISBN9783347488168
Erwählung: Altberliner Kriminalroman
Autor

Paul M. Whiting

Paul M. Whiting wurde 1950 in der Nähe von Boston (USA) geboren. Nach dem Studium der Germanistik übersiedelte Whiting 1979 nach Deutschland, das er zu seiner Heimat gemacht hat. Nach Beendigung seiner Lehrtätigkeit am Gymnasium arbeitet Whiting weiterhin als freiberuflicher Autor für einen großen deutschen Bildungsverlag. Sein Debütroman 'Morac' erschien 2017 bei Tredition.

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    Buchvorschau

    Erwählung - Paul M. Whiting

    Als ihr Todestag zum zwölften Male wiederkehrte, stand Arnaud eine Stunde früher auf als gewöhnlich, wusch sich das Gesicht und ließ sich von seinem Diener Antoine rasieren und ankleiden, um nach seinem üblichen Frühstück, bestehend aus einer Tasse Tee und einem Croissant, seine Wohnung in der Schützenstraße zeitig zu verlassen. Es war dieselbe Dreizimmerwohnung, die er zwölf Jahre zuvor im geräumigen Friedrichsstädter Patrizierhaus einer Tuchhändlerwitwe bezogen hatte. Der Besitzerin, einer Frau Mathilde Bailleu, hatte ihr Gatte bei seinem unerwarteten Ableben ein ansehnliches Vermögen hinterlassen; dennoch hatte sie nach seinem Tod das Bedürfnis gespürt, das Haus, das sie nun mit ihrer Dienerschaft allein bewohnte, zumindest ansatzweise wieder mit Leben zu füllen, indem sie einen Teil der Zimmer zur Vermietung anbot. Arnaud, dem die großzügig geschnittene Bel-Étage-Wohnung in der Behrenstraße nach dem Tod seiner Frau wie ein Geisterhaus vorgekommen war, hatte ohne lange Überlegung die Gelegenheit ergriffen, sich zu verkleinern, und war mit seinem Diener unter das Dach von Madame Bailleu gezogen. Von dort aus waren es nur wenige Schritte zu seinem Dienstsitz beim Polizeipräsidium in der Wilhelmstraße.

    Arnaud verließ das Haus, bog links in die Jerusalemer Straße ein und lief quer über den Dönhoffschen Platz am Palais Hardenberg vorbei auf die Spittelbrücke zu. Der Morgen war noch kalt, aber der leicht faulige Geruch, der vom Festungsgraben her wehte, war bereits von einem ersten zaghaften Frühlingshauch unterwandert. Langsam regte sich in den Straßen das Leben: Fenster wurden geöffnet, hölzerne Läden zurückgeklappt, erste Karren rumpelten schwerfällig über die Pflastersteine. Arnaud mochte diese frühen Stunden, wenn das ungebärdige Riesenkind Berlin noch im Halbschlaf die Glieder reckte und lauthals gähnte. Die preußische Residenzstadt war zu schnell gewachsen, um wirklich zivilisiert zu sein. In den letzten hundert Jahren hatte sie sich verdreifacht; dabei hatte sie alle Grenzen gesprengt, war über die Festungsgräben gewuchert, hatte die Schutzwälle hinter sich gelassen und breitete sich wie Quecken weithin in der Fläche aus. Unter den drei deutschen Großstädten nahm sie bereits den zweiten Platz ein, aber anders als die gesitteten Konkurrentinnen Wien und Hamburg hatte sie bei ihrem ungestümen Wachstum nie Zeit gehabt, das zu entwickeln, was die anderen beiden auszeichnete: ein eigener Charakter. Berlin war Zwitter geblieben, halb Athen, halb Sparta, Kind einer zweifelhaften Mesalliance von Geist und Gehorsam. Es war die Stadt Humboldts, Fichtes und Schleiermachers, aber auch Blüchers, Scharnhorsts und Gneisenaus; es gab die Charité, die Universität und die Akademie der Wissenschaften, aber auch die Kasernen, die Exerzierplätze, die Zeughäuser und Pulvertürme. Unter den Linden flanierten modisch gekleidete Bürger zwischen Alleebäumen, die in Reih und Glied stramm standen, als würden sie jeden Augenblick einen Truppenaufmarsch erwarten. Berlin war im Grunde eine einzige Garnison: nirgends sonst in Europa sah man so viele Uniformierte auf den Straßen, und selbst der Volksmund war nachhaltig vom rauen Kasernenhofton unterwandert.

    Arnaud hatte indessen die kleine Spittelkirche umrundet und überquerte den Marktplatz. Auf dessen linker Seite, im Schutz hochgiebeliger Bürgerhäuser, hatte ein Blumenhändler seine Bude aufgeschlagen. Ein Mädchen mit grüner Kittelschürze stand am Ladenfenster und schaute erwartungsvoll auf, als Arnaud sich näherte.

    ‚Morjen der Herr. Der Herr wünschen?‘

    ‚Ich hätte gern einen Strauß Lilien. Zwölf Stück.‘

    Ein Hauch von Verunsicherung huschte über ihr Gesicht. ‚Ick weeß nicht, ob so viel da sind. Ick geh man kieken.‘ Einen Augenblick verschwand sie im Halbdunkel des Verschlags. Als sie wiederkam, erkannte Arnaud sofort, dass sie keine gute Nachricht für ihn hatte.

    ‚Bedaure sehr. Nur noch sieben Stück.‘

    ‚Dann nehme ich die sieben.‘

    ‚Ick könnte den Herrn ‘n bissjen Myrte zubinden. Det macht sich hübsch zu de weißen Blüten, und der Strauß sieht nach mehr aus.‘

    ‚Wie du meinst. Du wirst es schon richtig machen.‘

    Das Mädchen errötete flüchtig und wendete sich ab. Offenbar war sie es nicht gewohnt, von Kunden Freundliches zu hören, dachte Arnaud. Sie war noch jung, höchstens dreizehn oder vierzehn. Ob Céline jetzt auch so aussehen würde, wenn sie gelebt hätte? Er konnte sich nur mit Mühe an ihr Aussehen erinnern. Ihre Bekanntschaft hatte immerhin nur wenige Tage gedauert.

    Von seinem Standort aus konnte Arnaud schemenhaft erkennen, wie das Mädchen an einem Holztisch im Innenraum der Bude hantierte. Kurze Zeit später kehrte sie mit dem fertig gebundenen Strauß zurück. Zwischen den Stängeln der Lilien waren Zweige mit dunkelgrünen, fett glänzenden Blättern eingearbeitet.

    ‚Ist‘s recht so, der Herr?‘

    ‚Das hast du gut gemacht. Was bekommst du dafür?‘

    ‚Acht Groschen.‘

    Arnaud holte eine Münze aus seiner Geldbörse und legte sie ihr in die Hand. Sie kramte in der Tasche ihrer Schürze nach Wechselgeld.

    ‚Schon gut‘, sagte er, vielleicht etwas zu schnell. ‚Der Rest ist für dich.‘

    Das Mädchen hörte auf, in ihrer Tasche zu wühlen, und schaute freudig überrascht zu ihm hoch. Arnaud fiel auf, dass ihr ein Schneidezahn fehlte.

    ‚Lieben Dank, der Herr.‘

    Er wendete sich ab und ging. Nein, so würde Céline bestimmt nicht aussehen, das stand fest. Schon die Augen, dieses preußische Wasserblau. Warum konnte er sich an die Augenfarbe seiner Tochter nur ungenau erinnern? Er hatte sie bestimmt einmal mit offenen Augen gesehen. Aber bei Säuglingen ist die Augenfarbe ohnehin nur vor- läufig. Sie hätte bestimmt die klugen kastanienbraunen Augen ihrer Mutter geerbt, wenn sie gelebt hätte.

    Arnaud überquerte wieder den Festungsgraben und bog scharf links in die Neue Kommandanten- straße ein, vorbei an den niedrigen, einförmigen Kasernenbauten, die das Straßenbild prägten, bis er die kleine, eher unscheinbare Französische Kirche an der Einmündung der Lindenstraße erreichte. Damals, als er noch mit Marie in der Behrenstraße gewohnt hatte, waren sie mit größter Selbstverständlichkeit sonntags zum Gottesdienst in den Französischen Dom am Gendarmenmarkt gegangen. Da jedoch der Dom keinen eigenen Friedhof besaß, hatte Arnaud eine Grabstelle in dem kleinen Friedhof gegenüber den Kasernen gekauft, wo auch schon seine Eltern und seine Großeltern ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. So lange war es nämlich her, dass seine Familie preußisch geworden war. Sein Urgroßvater, Guillaume François Arnaud, war Uhrmachermeister und Instrumentenbauer in Grenoble gewesen, bis das Edikt von Fontainebleau, welches den französischen Protestanten die Ausübung ihres Glaubens verbot, ihn dazu bewog, mit seiner Familie und allem, was sie auf der Flucht mitnehmen konnten, ihre Heimat zu verlassen. Unter Gefahr ihres Lebens waren sie über Val d’Isère geflohen bis in die Schweiz und dann weiter über die deutsche Grenze nach Baden. Dort hatte er sich in Villingen niedergelassen und bis zu seinem Tod sein Handwerk wieder ausgeübt. Seinen Sohn jedoch, Arnauds Großvater Étienne Marcel, einen umtriebigen Geist, der aufgrund einer gewissen angeborenen Schneidigkeit gute Kontakte zu ausländischen Offizieren pflegte, zog es wieder in die Ferne, nach Brandenburg, wo der soeben zum König avancierte Kurfürst die begehrten hugenottischen réfugiés mit bedeutenden Privilegien nach Berlin zu locken trachtete. Der Großvater begriff schnell, was ein Staat benötigt, der gerade dabei ist, eine Armee von europäischem Format aufzubauen, und gründete eine Manufaktur für Vermessungsinstrumente, wie sie beim Militär verwendet werden. Dank seiner Kontakte zur Militärverwaltung und der Verfügbarkeit gut ausgebildeter französischer Arbeiter, die inzwischen ebenfalls den Weg nach Berlin gefunden hatten, brachte er es am Ende zum Königlich Preußischen Hoflieferanten und durfte sich ab 1782 von Arnaud nennen. Mit diesem schönen Namenszusatz ausgestattet war sein Sohn, Johann Philipp von Arnaud, zur Armee gegangen, wurde als Leutnant verabschiedet und durfte ein paar Jahre im Kriegsministerium seine Pfründe in Ruhe genießen, bis auch er das Zeitliche segnete. Dass sein älterer Sohn Charles Louis im sogenannten Befreiungskrieg sein Leben fürs Vaterland opferte, empfand der stolze Vater eher als Krönung einer Karriere, die ganz und gar dem Militärdienst gewidmet war. Was ihn weitaus eher betrübte, war die Weigerung seines jüngeren Sohnes, Johann Baptist, über den verpflichtenden Grunddienst hinaus irgendetwas mit dem Militärwesen zu tun zu haben. Stattdessen war der junge Arnaud in den Polizeidienst getreten, was der betresste Vater als schmählichen Abstieg empfand. Als Offizier, hoch zu Ross und aus sicherer Entfernung Befehle zu erteilen, die Hunderten das Leben kosten konnten, das war für seine Begriffe ein edles und ehrendes Handwerk. Ein Polizei-Commissarius habe es dagegen mit dem Auswurf der Gesellschaft zu tun, mit Dieben, Dirnen, Betrügern und Totschlägern; das war seiner Meinung nach etwas Unreines, vergleichbar mit der Tätigkeit eines Feldschers oder Abdeckers. Umsonst hatte Arnaud versucht, seinem Vater klarzumachen, dass er keineswegs dem Soldatischen abgeschworen habe, nur weil er kein Soldat geworden sei. Im Gegenteil, er, der KöniglichPreußische Polizei-Inspektor Johann Baptist von Arnaud, sah sich als Fähnrich der Rechtlichkeit im Kampf gegen eine feindliche Macht, die von unten her die Zivilisation allzeit und allerorts bedrohte. Dass er in den Kabinettskriegen des Hochadels nichts als den blutigen Auswuchs von Ruhmsucht und Eitelkeit erkennen konnte, behielt er lieber für sich. Dennoch blieb das Verhältnis zwischen Sohn und Vater bis zu dessen Tod angespannt.

    Der Grabstein, den er suchte, stand nur wenige Schritte vom Eingang entfernt. Es war nicht zu übersehen, dass der kleine Friedhof bald keinen Platz mehr haben würde, frisch entstandener Trauer eine Heimstätte zu bieten. Egal, dachte Arnaud; für ihn würde der Platz noch reichen, und nach ihm wäre die Geschichte der preußischen Arnauds ohnehin zu Ende. Dem Steinmetz war es gelungen, mit wenigen Schriftzügen in schnörkelloser Garamond die ganze Tragödie seines Lebens in den Stein zu meißeln: Marie Clémence von Arnaud née Delacroix, geb. d. 3. Sept. 1784, gest. d. 25. März 1809; und gleich darunter: Céline Marie von Arnaud, geb. 19. März 1809, gest. 28. März 1809. Arnaud bückte sich und legte die mitgebrachten Blumen auf den Platz vor dem Grabstein. Es war ihm bewusst, dass er an dieser Stelle Trauer empfinden und ein Gebet sprechen sollte, in dem er sich ehrfürchtig vor der Allmacht und Güte Gottes verneigte. Aber mit jedem Jahr, das sich zwischen ihn und seinen Verlust schob, war ihm ein Stück Trauer gleichsam abhan-dengekommen. Was der Tod ihm nicht genommen hatte, raubte ihm anscheinend die Zeit; immer weniger gelang es ihm, das Gefühl des Verlustes in Erinnerung zu rufen. So wurde ihm nach und nach auch noch das Letzte genommen, was ihm von

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