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Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit: Essay
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eBook297 Seiten3 Stunden

Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit: Essay

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Über dieses E-Book

Eine kritische Studie über die Lyrik von heute, ein Rückblick auf die klassische Lyrik der Moderne, das Standardwerk von Hugo Friedrich, ein Überblick über die Themen, Tendenzen und Typen der Poesie dieser Zeit.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Nov. 2017
ISBN9783743975743
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    Buchvorschau

    Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit - Josef Quack

    1. Vorgaben

    La plupart des hommes ont de la poésie une idée si vaque que ce vague même de leur idée est pour eux la définition de la poésie.

    (Die meisten Menschen haben von der Poesie eine solch vage Vorstellung, daß diese Vagheit ihrer Vorstellung für sie die Definition der Poesie ist.)

    P. VALÉRY

    Wenn ich im folgenden literaturtheoretische Begriffe verwende, dann, wie gesagt, nicht in systematischer Absicht, sondern nur, um einigermaßen deutlich anzugeben, wovon ich rede, wenn ich die lyrische Ausbeute dieser Jahre bespreche. Ich halte mich dabei meist an die herkömmliche Terminologie, in erster Linie an die grundlegende Opposition von Lyrik und Prosa. Das heißt, ich lehne den Versuch ab, den Begriff der Lyrik so zu erweitern, daß er auch prosaische Texte umfaßt, und, wie wir sehen werden, ist diese Abgrenzung eines der wichtigsten Probleme bei der Beurteilung zeitgenössischer Gedichte.

    Bekanntlich lassen sich die Arten des Gedichts unterscheiden, indem man sich an den sprachlichen Äußerungsformen orientiert, die die Texte prägen: singen (Lied), loben (Hymne), klagen (Elegie), erzählen (Ballade), besprechen (Spruchdichtung). Es versteht sich, daß diese Einteilung im Hinblick auf die jeweils in einer Textart dominierende Sprachfunktion vorgenommen ist, daß also ein Lied auch eine Erzählung oder eine Spruchweisheit enthalten, Balladen liedhafte Qualitäten und Epigramme durch Metrum und Reim spezifisch klangliche Eigenschaften haben können, analog den Eigenschaften des Liedes. Diesen Arten ist gemeinsam, daß es „Werke in rhythmisch gebundener Form" sind (Kutschera 1989, 380). Die Definition entspricht durchaus dem üblichen Verständnis von Lyrik, sie setzt stillschweigend voraus, daß damit Epen in metrischer Form nicht gemeint sind, und sie ist so weit gefaßt, daß sie auch Gedichte in freien Rhythmen einschließt.

    Karl Otto Conrady orientiert sich dagegen nicht an der Eigenschaft der Rede, sondern der Eigenschaft der Schrift, der Textform, die gegenüber der Rede eine sekundäre Eigenschaft der Sprache ist, wenn er Gedichte definiert als „sprachliche Äußerungen in einer speziellen Schreibweise (Conrady 2008, 8). Es ist eine rein deskriptive Definition, die es nicht mehr erlaubt, zwischen Poesie und Prosa zu unterscheiden. Wenn Harald Hartung sich gegen „die Laberlyrik, die spannungslose Prosa zu Flattersatz zerhackte, ausspricht, dann verwirft er implizit den Begriff des Gedichts, der sich ausschließlich an der Schreibweise mit Zeilenumbruch orientiert (Buchwald 2007, 23). Außerdem setzt er voraus, daß Gedichte uns etwas zu sagen haben sollten, eine Forderung, die sich von selbst versteht.

    In einem weitverbreiteten Literatur-Lexikon werden einige Merkmale der Lyrik angeführt, die dem üblichen Verständnis des Genres entsprechen, und andere Eigenschaften, die einem fragwürdigen Verständnis dieser Gattung entstammen. Ich möchte die damit verbundenen Probleme hier nicht eingehend diskutieren, sondern nur anmerken, was mir für die folgende Studie brauchbar erscheint. Ludwig Völker hat sieben Merkmale der Lyrik benannt, von denen fünf Merkmale der gewöhnlichen Auffassung mehr oder weniger entsprechen:

    In der Lyrik kommt der formalen Gestaltung eine sehr große Bedeutung zu.

    Zweitens ist Lyrik die Gattung, die sich durch formale Abgeschlossenheit, Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit auszeichnet.

    Drittens weicht die lyrische Rede von der alltagssprachlichen Norm ab, durch Reim und Vers oder irgendeine nicht-umgangssprachliche Form der Rede.

    Viertens hat die lyrische Sprache eine „autonome Bedeutungsstruktur", die sich von der mimetischen Beziehung zwischen Wort und Sache in der Alltagssprache unterscheidet.

    Fünftens: „Lyrik ist durch höchste Konzentration und Ökonomie der Ausdrucksmittel gekennzeichnet." (Völker 1996, 1204).

    Dazu wäre zu bemerken, daß das Merkmal der formalen Gestaltung und das Merkmal der lyrischen, von der Alltagsrede abweichenden Sprache nichts anders besagen als das, was traditionell mit gebundener Rede gemeint ist. Das Merkmal der formalen Abgeschlossenheit und Einheitlichkeit ist ein allgemeines Merkmal des sprachlichen Kunstwerkes, es gilt auch für Drama und Erzählung (Epos, Roman, Novelle, Anekdote); dagegen sind nicht alle, sondern nur die kürzeren Gedichte überschaubar, Schillers „Spaziergang oder die „Duineser Elegien Rilkes sind es nicht, während wiederum einige Prosagattungen wie Aphorismus, Anekdote und Kurzgeschichte in ihren Grenzen zu überblicken sind. Dann kommt es nicht darauf an, daß die lyrische Rede allgemein von der Umgangssprache abweicht, sondern daß diese Abweichung meist in Reim und Vers besteht; denn auch die Fachsprachen weichen extrem von der Alltagssprache ab.

    Das vierte Merkmal, wonach in der lyrische Sprache die Bedeutung der Wörter autonom oder absolut sei, was heißen soll, daß die Wörter oder Sätze nicht auf die Realität bezogen seien, die deskriptive Funktion der Sprache also nicht aktiviert sei, gilt nicht allgemein, sondern nur ausnahmsweise. Viele Gedichte enthalten durchaus Beschreibungen und Erzählungen im normalen Sinn. Auch ist das Merkmal der Konzentration ein Ideal, das keineswegs für alle lyrischen Textarten gilt, andererseits aber auch für andere Gattungen gefordert sein kann.

    Das weitere Problem, daß lyrisches Sprechen durch „fingierte oder tatsächliche Authentizität und Unmittelbarkeit geprägt sei, kann ich hier nicht besprechen, da nicht klar ist, was damit gemeint sein soll. Vielleicht soll es heißen, daß ein Gedicht in der Ich-Form eine andere Qualität hat als eine Ich-Erzählung, die per se durch Unverläßlichkeit bestimmt ist, während eine auktoriale oder personale Erzählweise als verläßlich gilt (Stanzel 1989, 200f.). Dabei ist natürlich zu beachten, daß der Sprecher eines Gedichtes nicht mit dem Autor identisch sein muß, wie schon Lessing im Hinblick auf die Oden von Horaz bemerkte: „Selten ist das Ich sein eigen Ich. Was aber mit Authentizität gemeint ist, bleibt bei Völker nicht nur ungeklärt, es ist schlicht unverständlich. Zu diesem Begriff möchte ich nur sagen, daß wir in der Literatur dann eine Darstellung als authentisch bezeichnen, wenn es sich um eine wahre Darstellung einer authentischen Erfahrung oder Existenzweise handelt (Quack 2016, 103f.; 145ff.). Es ist klar, daß eine fingierte oder vorgetäuschte Authentizität eben keine Authentizität ist, so wie falsches Gold kein Gold ist.

    Bei meiner Kritik an dieser neueren Begriffsbestimmung der Lyrik habe ich mich stillschweigend an der Sprachauffassung von Roman Jakobson orientiert, der das Sprachmodell von Karl Bühler aufgegriffen und weiterentwickelt hat. Bühler unterscheidet bei einer sprachlichen Äußerung das Sprachzeichen, das von einem Sender, einem Sprecher, an einen Empfänger gerichtet ist und sich auf Gegenstände und Sachverhalte bezieht. Dementsprechend spricht er von drei Sprachfunktionen: der expressiven oder emotionalen Funktion, der appellativen Funktion und der darstellenden, deskriptiven Funktion der Sprache (Bühler 1982, 28f.). Übrigens hat Popper, der dieses Sprachmodell übernommen hat, es präzisiert, in dem er die wichtige argumentative Funktion hinzufügte. Jakobson seinerseits hat dann jenes Sprachmodell um drei andere Funktionen erweitert, die für die Beschreibung der dichterischen Sprache wichtig sind: die poetische Funktion, die sich auf die Botschaft selbst oder das Sprachzeichen selbst richtet; die phatische Funktion, die den physischen Kontakt oder den Kanal betrifft; und die metasprachliche Funktion, die den sprachlichen Kode thematisiert und zum Beispiel schon beim Spracherlernen ins Spiel kommt. Zu Jakobsons am Englischen ausgerichteten Terminologie wäre zu sagen, daß er statt von der appellativen, von der konativen Funktion spricht, wobei konativ soviel wie strebend, antriebshaft bedeutet. Phatisch heißt kontaktknüpfend oder kontakterhaltend, was in der Tat eine fundamentale Bedingung des Sprechens betrifft. Unglücklich ist in der Übersetzung des Aufsatzes von Jakobson das Fremdwort „referentiell, das im Englischen kein Fachterminus ist, sondern schlicht und einfach „bezugnehmend (beschreibend, darstellend) bedeutet. Treffender sind die alternativen Ausdrücke „denotative oder „kognitive Funktion (Jakobson 1979, 88f.).

    Für die poetische Funktion der Sprache ist nun bezeichnend, daß sie nicht nur in der Dichtung vorkommt, sondern vielfach auch in anderen Textgattungen. Andererseits gilt es zu beachten, was z. B. Völker übersehen zu haben scheint: „Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine vorherrschende und strukturbestimmende und spielt in andern sprachlichen Tätigkeiten eine untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle." (l.c. 92) Damit wird unterstrichen, daß bei sprachlichen Äußerungen in der Regel mehrere Funktionen erfüllt sind, und was die poetische Funktion angeht, so kommt sie in mehreren Textarten vor, sie dominiert jedoch in der Dichtung. Dies heißt aber nichts anderes, als daß ein Text, in dem die poetische Sprachfunktion nicht vorherrscht und dessen Struktur sie nicht bestimmt, eben kein lyrischer Text ist. Diese Frage wird uns beschäftigen, wenn wir auf regellose Gedichte zu sprechen kommen (2.21).

    Anmerken möchte ich hier nur noch, was Jakobson über die Erlebnisweise der regelkonformen Lyrik schreibt: „Nur in der Dichtung mit der regelmäßigen Wiederkehr äquivalenter Einheiten wird das Zeitmaß des Redeflusses erfahren, wie auch bei der musikalischen Zeit – um ein anderes semiotisches System anzuführen" (l.c. 95). Ein Merkmal, das man zu beachten hätte, wenn man der Dichtung musikalische Eigenschaften zuschreibt.

    Es dürfte klar sein, daß in vielen Gedichten die expressive oder emotionale Funktion eine besondere Rolle spielt; bei anderen Gedichten ist es die appellative Funktion, bei der Spruchdichtung die kognitive Funktion. Allen Gedichten ist jedoch gemeinsam, daß die Aufmerksamkeit auf die sprachliche Eigenart der Aussage gerichtet ist, die poetische Funktion also den Tenor des Gedichtes bestimmt. Wie wir sehen werden, ist für die artistische Auffassung der modernen Lyrik bezeichnend, daß in ihr die expressive Funktion ohne das emotionale Moment verwendet wird; desgleichen wird die appellative Funktion der Sprache als Medium der Suggestivität stark betont, worauf das kommunikative Moment der Sprache reduziert ist.

    Schließlich bekräftigt Jakobson die traditionelle Auffassung, daß die Dichtung symbolisch, in einem weiten Sinn des Wortes, oder polysemantisch ist: „Mehrdeutigkeit ist eine unabdingbare, unveräußerliche Folge jeder in sich selbst zentrierten Mitteilung, kurz eine Grundeigenschaft der Dichtung. Dies betrifft nicht nur die sprachliche Botschaft, sondern auch die anderen Faktoren der Rede, wo man zwischen Autor, Leser und dem lyrischen Sprecher, der „ich sagt, unterscheiden muß. Auch kann ein Gedicht an einen anderen Adressaten gerichtet und zugleich eine subjektive Mitteilung des Dichters sein. Für die darstellende Funktion ergibt sich aus dieser Eigenart die wichtige Konsequenz: „Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht den Gegenstandsbezug nicht aus, sondern macht ihn mehrdeutig" (l.c. 110f.). Auf das Problem der Mehrdeutigkeit im Gedicht werde ich zurückkommen (2.42).

    1.1 Das artistische Paradigma der modernen Lyrik

    Wer sich nun über die deutsche Lyrik der Gegenwart ein Urteil bilden will, tut gut daran, die literarische Situation der Nachkriegszeit zum Vergleich heranzuziehen und zwar aus zwei Gründen: Damals lebten und schrieben noch zwei der bedeutendsten Dichter des letzten Jahrhunderts, Gottfried Benn und Bert Brecht, und in den fünfziger Jahren erschienen die ersten Gedichte von Paul Celan, der wohl der letzte deutsche Dichter von europäischem Rang ist. Zweitens waren die Nachkriegsjahre jene Zeit, in der das Bild der klassischen Moderne, wie es heute noch maßgeblich ist, gleichsam kodifiziert wurde. Damals wurde in einem bestimmten Sinn festgelegt, was wir unter Moderne verstehen (Quack 2008, 27). Was die Lyrik angeht, so haben vor allem zwei Texte das Verständnis entscheidend geprägt: Benns Rede über „Probleme der Lyrik (1951) und Hugo Friedrichs Arbeit über die „Struktur der modernen Lyrik (1956), ein bis heute unübertroffenes Standardwerk über die neuere Dichtung, ähnlich einflußreich wie Erich Auerbachs klassische Schrift über den Realismus in der Literatur, Mimesis (1946).

    Friedrichs Studie ist ebenso erhellend wie anregend – zum Weiterdenken und zur Kritik. Sie hat den Vorzug, daß sie eine ausgearbeitete, sachlich beschreibende und analysierende Theorie der Lyrik enthält, während viele Literaturwissenschaftler gegenüber lyrischen Texten merkwürdig ratlos agieren, weil sie die Differenz zwischen der begrifflich genauen, terminologisch festgelegten Metasprache der Interpretation und der nicht normierten, oft dunklen Objektsprache der Dichtung nicht konsequent beachten und Gedichte eher bildlich paraphrasieren als präzis beschreiben. Manche Arbeiten der Literaturtheorie verkörpern das andere Extrem, eine überladene, unnötig komplizierte Terminologie, die den literarischen Gegebenheiten nicht gerecht wird.

    Demgegenüber ist Friedrichs Buch eine überaus brauchbare Diskussionsvorlage für poetologische Fragen, in unserem Zusammenhang der wichtigste Vergleichs- und Bezugspunkt, wenn es um das Verständnis der Gegenwartslyrik geht.

    Grundsätze

    Ich möchte nur ein paar Stichworte aus dieser Poetik anführen, um anschließend zeigen zu können, inwiefern sich die Dichtung der Gegenwart von den poetischen Normen der Moderne, wie Friedrich sie formuliert und festgesetzt hatte, unterscheidet.

    Nach der Theorie Friedrichs, die er an Gedichten von Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé exemplifiziert, ist die moderne Lyrik keine Erlebnisdichtung, sondern artistische Dichtung, bei der die Aussageweise immer wichtiger ist als der Aussageinhalt. Für sie ist charakteristisch, daß sie bewußt mit der poetischen Tradition bricht und sich von der normalen Weltorientierung fernhält. Daraus folgt, daß sich ihr Wesen vor allem mit negativen Kategorien beschreiben läßt, wie Dissonanz, Unverständlichkeit, Desorientierung, Inkohärenz, alogische und agrammatische Anlage, leere Idealität, Fragmentierung, Enthumanisierung, künstliche Subjektivität u.ä. (Friedrich 1964, 15). Im Hinblick auf Mallarmés poetisches Programm hat Friedrich die Merkmale dieser Strömung der modernen Lyrik in den folgenden Stichworten zusammengefaßt: „Fehlen einer Gefühls- und Inspirationslyrik; intellektuell gesteuerte Phantasie; Vernichtung der Realität und der logischen wie affektiven Normalordnungen; Operieren mit den Impulskräften der Sprache; Suggestivität statt Verstehbarkeit; Bewußtsein, einer Spätzeit der Kultur anzugehören; zwiefaches Verhältnis zur Modernität; Bruch mit der humanistischen und christlichen Überlieferung; Vereinsamung, die sich als Auszeichnung weiß; Ranggleichheit von Dichten und Reflexion über das Dichten, wobei in der letzteren die negativen Kategorien überwiegen." (l.c. 72)

    Das lyrische Ideal dieser Schule ist die poésie pure, die Benn das absolute Gedicht genannt hat, eine Poesie, die nicht Ausdruck der Alltagserfahrung ist, keine Lehren erteilt und keine praktischen Zwecke verfolgt, sondern im Grunde nur „Sprachmagie" ist. Dies ist die positive Seite der modernen Lyrik: der Primat der Form, ihre artistische Suggestion, die auf der Klangwirkung von Reim, Assonanzen, Wortfolgen, ungewohnten Metaphern beruht (l.c. 39).

    Die angeführten Stichworte und Kategorien sind zwar beschreibender Art, doch gilt es zu beachten, daß einige Stichworte normativ gemeint sind, Grundsätze oder Maximen aussprechen, und diese Maximen enthalten radikale Forderungen, die nur in extremen Fällen auch in der Dichtung verwirklicht sind.

    Der oberste Grundsatz, der die von Friedrich favorisierte Art der modernen Lyrik auszeichnen soll, ist das Postulat, daß es keine Erlebnislyrik sein sollte. In der ersten Auflage seines Buches hat er seine Sympathie für unsentimentale Autoren und seine Abneigung gegen das Interpretationsprinzip 'Erlebnis und Dichtung' noch offen ausgesprochen (l.c. 204). Er spielt damit auf ein Buch von Wilhelm Dilthey an, das die autobiographische Bekenntnisdichtung Goethes zum Ideal erhob und mit dieser These in der Literaturwissenschaft viele Anhänger fand. Laut Friedrich ist das moderne Gedicht prinzipiell nicht als Wiedergabe autobiographischer Erlebnisse des Autors zu verstehen. Es ist kein persönliches Bekenntnis des Autors und sein Sinn läßt sich nicht aus der Persönlichkeitsstruktur des Autors psychologisch ableiten. Wenn man die Maxime in diesem eng begrenzten Sinn versteht, dürfte sie tatsächlich ein allgemeines Merkmal der modernen, sich artistisch gebende Lyrik beschreiben, wenngleich es auch hier Ausnahmen gibt, z. B. bei Gottfried Benn. Die Antipathie gegen eine naive Erlebnislyrik läßt sich übrigens gut verstehen, wenn man an die Zeit der Entstehung des Buches denkt, wo Friedrich gegenüber einer gemüthaften Ausdruckslyrik das Formbewußtsein gar nicht stark genug betonen konnte.

    Genau genommen, ist die von ihm beschriebene moderne Lyrik jedoch nicht eine Dichtung, die überhaupt keine Beziehung zu dem Erleben des Autors hätte. Sie will nämlich programmgemäß Ausdruck epochaler Grunderfahrungen der Moderne sein, literarische Verarbeitung des Zeitschicksals, poetische Antwort auf das Zeitschicksal. Friedrich konzediert ausdrücklich im Hinblick auf das Epochenphänomen der Angst, daß es durchaus Texte gebe, die „die Echtheit dieser Grunderfahrung" zeigten (l.c. 125).

    Ähnlich muß man die radikale Maxime relativieren, wonach das moderne Gedicht keine Inspirationslyrik sei. Damit ist, überspitzt formuliert, gemeint, daß das Gedicht, als vollendetes Gebilde betrachtet, nicht ein Werk der Eingebung sei, sondern seine Vollkommenheit vielmehr der bewußt vollzogenen artistischen Gestaltung oder Formung verdanke. Diese These hat vor allem Benn unterstrichen und propagiert, behauptet er doch kategorisch: „Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht" (Benn 1989, 505f.). Fraglos hat diese Auskunft des berühmten Mannes dann zu dem fatalen Mißverständnis geführt, daß man Gedichte tatsächlich ohne weitere Vorgabe des Talents oder des Kunstverstandes einfach machen könne. Man hat übersehen, daß Benn sich in diesem Punkt selbst widerspricht. Denn im weiteren Verlauf der Rede berichtet er, daß er bei einem Gedicht zwanzig Jahre warten mußte, bis ihm die zweite Strophe einfiel (l.c. 522). Mit anderen Worten, ohne Inspiration und die rechte Stimmung kommt kein nennenswertes Gedicht gleichwelcher Art zustande.

    Außerdem paßt die These von der fehlenden Inspiration schlecht mit der Eigenart der modernen Poesie zusammen, daß sie vielfach Traumlyrik sein will, aus natürlichen oder künstlich erzeugten Träumen entstanden, Träume aber durchaus inspirativen Charakter haben. Das gleiche gilt von dem kollektiven Unbewußten, einer archaischen Quelle des Dichtens, auf die einige Dichter der Moderne sich berufen.

    Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß die Abneigung gegen die dichterische Inspiration keineswegs ein Wesensmerkmal der Literatur der Moderne insgesamt ist. Einer der bedeutendsten Erzähler dieser Epoche, Franz Kafka, ließ bekanntlich von seinen Werken nur jene gelten, die aus der Inspiration entstanden sind, genauer gesagt, aus einer anhaltenden, ununterbrochenen Inspiration, daher sein Vorbehalt gegenüber dem Roman. Und was die gegenwärtige Dichtung angeht, so war selbst ein Exponent der Laut- und Wortkombinatorik wie Ernst Jandl (1925-2000) sich durchaus bewußt, daß das Dichten vom glücklichen Einfall abhängt, den man nur selten hat: „Ein Titel wie 'Laut und Luise' kommt nur einmal im Leben". Auch wußte er: „Aber dann gab es wieder ganz leere Zeiten, ganz ohne Ahnung, wie man je wieder etwas

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