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Über das Ethos von Intellektuellen: Philosophische Aufsätze
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eBook335 Seiten4 Stunden

Über das Ethos von Intellektuellen: Philosophische Aufsätze

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Über dieses E-Book

Beschrieben werden zunächst das Selbstverständnis von Intellektuellen, ihr Status und ihre ethischen Ideale. Dann wird Adornos Erklärung diskutiert, warum der Geist im letzten Jahrhundert meist links stand, vor allem aber seine Theorie der subjektiven Erfahrung in der verwalteten Welt. Im Mittelpunkt steht aber die Studie über Heideggers ethische Skepsis. Daneben wird der ethische Ansatz von Hans Jonas besprochen und das Weltbild, das Thomas Nagel vorgestellt hat.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum22. Jan. 2020
ISBN9783347011083
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    Buchvorschau

    Über das Ethos von Intellektuellen - Josef Quack

    I. Zum Selbstverständnis von Intellektuellen

    The intellectuals are nothing to lose but their brains.

    A. HUXLEY

    Vor einigen Jahren erschien eine soziologische Studie über die deutsche Theaterszene, in der die Landestheater und die Städtischen Bühnen in mancher Hinsicht schlechter wegkamen als die freien Theater. Darauf antwortete der Intendant eines Stadttheaters mit dem Vorwurf, die Studie sei von selbsternannten Kritikern erstellt worden.

    An diesem Vorwurf ist zweierlei bemerkenswert: erstens die Vorstellung, daß man zu einer öffentlichen Kritik in gesellschaftlichen Belangen behördlich oder amtlich autorisiert sein müsse, und zweitens, daß der Vorwurf von einem Funktionär, der im Auftrag einer Stadt eine Bühne leitet, erhoben wurde, eines Mannes, dem ein Amt mit weitreichenden Befugnissen übertragen wurde, und mancher Intendant ist bis heute für seine autoritäre Einstellung bekannt. So war noch in jüngster Zeit von einem Intendanten die Rede, der seine Schauspieler anzuschreien pflegt und einem Theaterkritiker den Zutritt zum Schauspielhaus verbot (SZ 6.8.16).

    In jenem Vorwurf kommt eine Mentalität zum Ausdruck, die letztlich auf den Untertanengeist, das Denken in obrigkeitsstaatlichen Begriffen zurückgeht, und diese Einstellung hat eine lange Tradition in Deutschland. So berichtet Ernst Jünger am 5. Januar 1948, daß sein Bruder auf ein Amt zitiert und „von einem dort residierenden Eunuchen nach seinem Arbeitgeber gefragt wurde. Auf seine Antwort, er sei selbständig, kam die Frage: Ja, haben Sie denn die Erlaubnis dazu?‘"

    Jener Vorwurf traf seinerzeit, im März 1976, auch Alfred Andersch, als er in seinem berühmten Gedicht „artikel 3(3) die Folgen des Radikalenerlasses, der einem Berufsverbot für einige hunderttausend Bewerber gleichkam, anprangerte. Der Fernsehdirektor verbot zunächst die Ausstrahlung des Gedichts und löste damit eine heftige öffentliche Diskussion aus, in der es auch um die Frage ging, ob dieses Verbot gerechtfertigt sei. Darauf antwortete Kurt Sontheimer, Professor für Politologie, Beamter auf Lebenszeit: „Soll der Steuerzahler denn ein Heer von selbsternannten oder selbststilisierten Schriftstellern und Intellektuellen wirtschaftlich absichern, die für ihre Produktionen keinen Abnehmer finden? Dem entgegnete Dieter Biallas, Kultur-Senator von Hamburg: „Grobschlächtige Vereinfachungen à la Sontheimer sind wohl nur möglich aus der Position eines Publizisten, dem die Freiheit des Hochschullehrers bis an die Grenze der Narretei soziale Gewißheit ist." (Haffmans 1979, 392f.). – Übrigens konnte Andersch mit seiner Intervention einen Erfolg verbuchen. Er hat das Gedicht im Januar 1976 veröffentlicht, es führte zu einer öffentlichen Debatte mit dem Ergebnis, daß die Bundesregierung im Mai des gleichen Jahres den Radikalenerlaß zurückzog (l.c. 401).

    „Selbsternannt ist ein Prädikat, das meist im pejorativen Sinne verwendet wird, um die Selbständigkeit und Eigeninitiative der Handelnden zu diffamieren und zu verurteilen. Das Klischee ist heute in der Öffentlichkeit weit verbreitet; es wundert aber nicht, daß es gerade von Angestellten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, einer quasi-staatlichen, den Hörer und Zuschauer bevormundenden, autoritären Institution, gerne gebraucht wird. So scheint es zur Sprachgewohnheit oder zur Sprachregelung zu gehören, vom „selbsternannten Islamischen Staat zu reden (DLF 10.4.15, 19.10h; 31.8.18, 12.45h). Man fragt sich, von wem diese kriegerischen Fundamentalisten denn die Legitimation für ihr terroristisches Vorgehen hätten erhalten können. Der gedankenlos gebrauchte Ausdruck verrät, daß die Sprecher kaum eine Ahnung von politischen Aktionen haben.

    Im gleichen Sender war auch öfter von der „selbsternannten Bürgerbewegung Pegida die Rede – als sei es nicht das Wesen einer Bürgerbewegung, daß sie sich der Obrigkeit widersetzt und sich selbständig, ohne deren Erlaubnis, konstituiert (DLF 19.2.15, 19.25h). Ein andermal sprach man von den „selbsternannten Patrioten bei Pegida – als müßte die patriotische Einstellung staatlich sanktioniert werden (DLF 20.10.15, 12.20h). Die Wortwahl zeigt eine Ignoranz in Staatsbürgerkunde, die man bei politischen Redakteuren nicht für möglich gehalten hätte.

    Leider aber ist der Gebrauch des Klischees nicht auf die öffentlich-rechtlichen Medien beschränkt. Rolf Wiggershaus spricht von den „selbst ernannten Adorno-Jüngern", die seinerzeit verhindert haben, daß Leszek Kolakowski nach Frankfurt berufen wurde (UniReport 11.7.19, S.5). Indem er das fragliche Prädikat metaphorisch gemeinten Jüngern, religiös motivierten und berufenen Anhängern einer religiösen Leitperson, zuschreibt, verurteilt er die Adorno-Anhänger in einem doppelten Sinne: als nicht legitimierte Anhänger, die Adorno eine quasi-religiöse Autorität zusprachen.

    Im Spiegel (46/2014, S. 156) konnte man von der „selbsternannten Kirche des Ron Hubbard lesen, als brauche ein Sektengründer die staatliche Erlaubnis für sein religiöses Vorhaben. Dann wurden wissenschaftliche Fachleute für ein Spezialgebiet als „selbst ernannte Experten bezeichnet, als werde das Expertentum eines Wissenschaftler nicht allein durch seine wissenschaftliche Leistung begründet (l.c. 17/2018, S.114). Wenn in der FAZ (5.5.2018, S.3) Nordzypern ein „selbsternannter Staat genannt wird, zeigt sich auch hier ein Mangel an politischer Bildung, weil mit dem Ausdruck die Frage nach den Ursachen der Entstehung dieses kleinen Staates bewußt ausgeblendet wird. Wenn dagegen Markus Wolf die Kritiker, die die Abhörpraxis seiner Auslandsspionage verurteilten, als „selbsternannte Moralwächter bezeichnet, verwendet er bewußt ein Klischee, um die politische Ahnungslosigkeit und Blauäugigkeit seiner Kritiker seinerseits zu kritisieren (Spionagechef im geheimen Krieg, 2002, 349). Töricht ist dagegen wiederum die vorwurfsvolle Rede von „selbsternannten Antifaschisten" (FAZ 2.11.2019, S.70), weil Antifaschismus nun mal eine politische Einstellung ist, die man selbst wählen muß.

    Doch gibt es auch einen neutralen Gebrauch des Prädikats. So nennt Golo Mann Rußland vor dem Ersten Weltkrieg den „selbsternannten Schutzpatron aller Slawen", um die Motive Rußlands in den Konflikten jener Jahre zu erklären – eine objektive, aufschlußreiche Beschreibung einer machtpolitischen Konstellation (Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1966, 574). Hier kann man natürlich fragen, ob Rußland für seine Rolle nicht die Zustimmung aller slawischen Staaten gebraucht hätte; tatsächlich wurde sein Anspruch von den meisten Slawen anerkannt. Entscheidend ist jedoch, daß es diese Rolle nur selbst wählen konnte.

    Sinnvoll und nicht klischeehaft ist auch das verächtlich gemeinte Wort Erwin Wickerts über „selbsternannte Eliten" (Wickert 1992, 255). Er meint damit Menschen, die sich zur Elite zählen, ohne die dafür notwendige Bedingung einer außergewöhnlichen Leistung erfüllt zu haben. Darüber später mehr.

    Status

    Genau genommen, ist „selbsternannt nun aber ein Prädikat, das die spezifische Differenz angibt, durch die sich Intellektuelle vor anderen gesellschaftlichen Gruppen auszeichnen. Sie haben ihre Aufgabe und öffentliche Verantwortung selbst gewählt, sie reden und schreiben „ohne Auftrag, wie der treffende Titel eines Buches von Walter Dirks lautet, der selbst ein herausragender Intellektueller des Nachkriegs war. Meist freiberuflich tätig, sind sie geistig unabhängig, wobei man durchaus an das Wort Friedrich Torbergs denken kann, der einmal von jener geistigen Unabhängigkeit sprach, „die man in der Regel nur bei den sehr Reichen oder den sehr Armen antrifft" (Die Tante Jolesch, 1999, 139).

    Wie Julien Benda in seinem Standardwerk Der Verrat der Intellektuellen dargelegt hat, sind Intellektuelle Menschen, deren Tätigkeit nicht unmittelbar praktischen Interessen dient: Philosophen, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler. Menschen, die abstrakten Idealen wie Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit der Person verpflichtet sind und im Namen der universalen Moral der Menschlichkeit die Mißstände in Politik und Gesellschaft kritisieren. Ein Intellektueller vertritt keine gruppenspezifische Interessen, sondern die Interessen der Allgemeinheit, er ist ein „Abgeordneter der ganzen Menschheit und sein Herz schlägt für die Menschlichkeit, wie Marquis Posa im „Don Carlos sagt (VV.157, 167). Er begeht laut Benda Verrat an seiner Aufgabe, wenn er sich unmittelbar politischen Leidenschaften unterwirft, sein Denken den Zielen des Nationalismus oder des Kommunismus widmet, den beiden vorherrschenden Ideologien des letzten Jahrhunderts.

    Was die öffentliche Tätigkeit des Intellektuellen angeht, so kann man zwei Aufgaben unterscheiden: die Kritik gesellschaftlicher, kultureller, politischer Mißstände im Namen humaner Ideale, vor allem der Gerechtigkeit, und zweitens die grundsätzliche Kritik der öffentlichen Diskussion im Namen der Wahrheit. Kraft ihrer geistigen Kompetenz haben sie dafür zu sorgen, daß es im öffentlichen Diskurs vernünftig zugeht, Vorurteile aufgedeckt und der Wahrheit zur Geltung verholfen wird.

    Hier wäre an die ethischen Prinzipien zu erinnern, die, wie Karl Popper nachgewiesen hat, jeder rationalen Diskussion zugrunde liegen. Gemeint ist eine Diskussion, in der es um die Wahrheitssuche geht: 1. das Prinzip der Fehlbarkeit, 2. das Prinzip der vernünftigen Diskussion, der unpersönlichen, sachlichen Argumentation, 3. das Prinzip der Annäherung an die Wahrheit, der man in einer sachlichen Diskussion näher kommt oder die man besser versteht. Diese Überlegung ist insofern aufschlußreich, als sie zeigt, daß der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst ethische Prinzipien inhärent sind, daß die „Idee der Wahrheit als das grundlegende regulative Prinzip" selbst ein ethisches Prinzip ist (Popper 1995, 225f.).

    Was die deutsche Öffentlichkeit des Nachkriegs angeht, so haben tatsächlich einige Philosophen und Publizisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Klärung der politisch-moralischen Situation der Zeit geleistet, einen Beitrag zum richtigen Verständnis grundlegender Begriffe, um die aktuelle Lage richtig einzuschätzen. So hat Karl Jaspers in „Die Schuldfrage (1946) sozusagen ein für allemal geklärt, daß es zwar eine politische Haftung eines Staates gibt, aber keine kriminelle, keine moralische und keine metaphysische Schuld des ganzen Volkes, sondern nur eine individuelle Schuld dieser Art geben könne. Dies war als Antwort auf die These der Siegermächte von der Kollektivschuld der Deutschen gedacht. Ähnlich wie Jaspers dachten und schrieben in dem gleichen Jahr Eugen Kogon und Alfred Döblin. Beide ließen nur eine individuelle Schuld gelten, wofür Döblin die glänzende aphoristische Formel fand: „Moral existiert nur im Singular (KS 4,194). Dieses Prinzip ist natürlich nichts anderes als das Grundprinzip der Ethik der Aufklärung und der christlichen Moral, die sich dadurch von einer archaischen Moral der Blutrache und der Sippenhaftung unterscheidet. Wenn bis heute manche Menschen von der Kollektivschuld der Deutschen oder eines anderen Volkes sprechen, regredieren sie geistig auf die Stufe einer archaischen Moral oder, wie Ludwig Marcuse mahnt: „Wer von der Kollektivschuld beunruhigt ist, hat mehr Hitler in sich, als er ahnte. Ich habe über dem bequemen Wort ‚Deutsches Volk‘ nie vergessen, daß es achtzig Millionen gab; ich will nicht, daß man mich zugunsten irgendeines Abstraktum übersieht – und tue es anderen nicht an." Auch erinnert er daran, daß die Völker-Psychologie, die der These von der Kollektivschuld zugrundeliegt, aus der Kriegspropaganda entstanden sei und allgemeine Einsichten vortäusche, die nur sehr partikulär seien (Mein zwanzigstes Jahrhundert 1968, 304). Die gleiche Bedeutung wie die Schrift Jaspers über die Schuldfrage hat der epochemachende, unvermindert aktuelle Aufsatz Eugen Kogons über das „Recht auf politischen Irrtum", in dem es um die gerechte Beurteilung der Anhänger und Mitläufer des Nationalsozialismus geht, das Problem aber grundsätzlich geklärt wird (Frankfurter Hefte 1947). In diesem Zusammenhang muß man auch die im Hinblick auf die NS-Verbrechen irritierende Behauptung von der „Banalität des Bösen erwähnen, die Hannah Arendt aufgestellt hat, um die blasse, gänzlich undämonische Durchschnittlichkeit Eichmanns zu bezeichnen, eine Formel, die bis heute zu einem gedankenlos nachgesprochenen Klischee der öffentlichen Rede geworden ist. Dem hat Jean Améry aus eigener Erfahrung, in Erinnerung an die Folter und die Qual der Monate in Auschwitz, entschieden widersprochen: „Wo ein Ereignis uns bis zum äußersten herausfordert, dort sollte nicht von Banalität gesprochen werden, denn an diesem Punkt gibt es keine Abstraktion mehr und niemals eine der Realität sich auch nur annähernde Einbildungskraft (Améry 1977, 52). Améry, einem tonangebenden Publizisten der siebziger Jahre, kommt auch das Verdienst zu, die Stellung des Linksintellektuellen in diesen politisch bewegten Jahren scharfsinnig analysiert und selbstkritisch überdacht zu haben.

    Wenn von den bleibenden Leistungen der Intellektuellen des Nachkriegs die Rede ist, so darf man keineswegs Poppers Schrift über die „offene Gesellschaft und ihre Feinde" (dt. 1957) vergessen, die Theorie der Gesellschaft der westlichen Demokratie, das politische Credo des Westens, das in der Zeit des Ost-West-Konflikts die stärkste Resonanz fand.

    Lebhaft diskutiert wurde auch der Beitrag von Jaspers über „Freiheit und Wiedervereinigung (1960), in dem er die überzeugende These vertrat, daß die politische Freiheit ein unabdingbares Ideal, während die Wiedervereinigung Deutschlands demgegenüber aber ein zweitrangiges Ziel sei. Aus dieser richtigen Prämisse folgerte er aber die keineswegs zwingende Maxime der praktischen Politik, „wir sollten auf die Wiedervereinigung von Bundesrepublik und Sowjetzone verzichten unter der Voraussetzung, daß die politische Freiheit der Deutschen in der Zone gewonnen würde (Jaspers 1963, 171). In einer Diskussion mit Rudolf Augstein verschärfte er seine Behauptung zu der moralisch begründeten These, „die Bundesrepublik müsse, um ihre hitlerische Vergangenheit zu sühnen, auf die Wiedervereinigung verzichten" (zit. Wickert 1992, 264). Es ist offensichtlich, daß Jaspers in diesem Ansinnen entgegen seiner früheren Klärung die These von der moralischen Kollektivschuld der Deutschen an den NS-Verbrechen als richtig voraussetzt, und fatalerweise haben dann einige Intellektuelle, als die Wiedervereinigung wider alles Erwarten auf die politische Tagesordnung kam, dieses falsche moralische Argument übernommen, um gegen die Einheit Deutschlands zu votieren.

    Wenn von den bleibenden Leistungen der deutschen Intellektuellen in den Nachkriegsjahren die Rede ist, muß man auch die Kritik Adornos an der Kulturindustrie nennen, Adornos wichtigste Gedanken, die die Studentenbewegung stark beeinflußt haben. Daß heute seine kulturkritischen Einsichten in der Diskussion über die Medien praktisch vergessen sind, verweist auf ein empfindliches Manko des intellektuellen Diskurses unserer Tage. Monatszeitschriften, einst das bevorzugte Publikationsorgan der Intellektuellen, nun als akademisch geprägte Schriften bedeutungslos geworden, verzichten heute programmatisch auf jede Kulturkritik, eine überaus klägliche Einstellung, die man nur bedauern kann.

    Schließlich sei noch die Theorie der Verantwortung von Hans Jonas genannt, die wohl einflußreichste Ethik der Zeit, eine Antwort auf die ökologische Risiken der Zukunft. Weniger wirkungsvoll, aber doch verdienstlich war das unbeirrte Plädoyer von Jürgen Habermas, einem Kritiker der Idee des Nationalstaats, für die demokratische Gestaltung der Europäischen Union, um die politische Teilhabe der Bürger an der europäischen Politik zu sichern.

    Verrat

    Das Diktum von Jaspers gegen die Wiedervereinigung ist das Beispiel einer Moralisierung der Politik im pejorativen Sinn, die Anwendung einer moralischen Norm auf einen falschen Gegenstand, der Mißbrauch der ethischen Kompetenz eines Intellektuellen. Eben die unpassende moralische Beurteilung einer politischen Situation war auch das Thema einer Kontroverse zwischen Hermann Kesten und Uwe Johnson. Der Streit erregte damals einiges Aufsehen, auch haben wir hier den eklatanten Fall des Verrats eines Intellektuellen im Sinne Bendas vor uns. In einer Diskussion in Mailand im November 1961 hatte Johnson erklärt, beim Bau der Mauer hätten die ostdeutschen Kommunisten nicht die Absicht gehabt, „unmoralisch zu handeln. Auch hat er sich dagegen ausgesprochen, daß Kesten die Geschichte moralisch beurteilt und behauptet, „der Kommunismus wäre immoralisch (Begleitumstände 1980, 216f.). Dabei dürfte schon in den sechziger Jahren, nach der Erfahrung des Stalinismus und der Unterdrückung im Ostblock, klar gewesen sein, daß sowohl die Praxis als auch die Doktrin des Kommunismus unmoralisch war. Die Doktrin war es, weil sie keine autonome Ethik anerkannte, sondern das moralische Verhalten den Zielen des politischen Kampfes, der Diktatur des Proletariats, unterordnete. Kurzum, die kommunistische Doktrin kannte keine unbedingte Achtung der Menschenrechte, was Kesten richtig erkannt und immer angeprangert hatte. Heute ist es uns unverständlich, wie Johnson implizit behaupten konnte, die Verantwortlichen für den Bau der Berliner Mauer hätten in ihrem Sinne nicht moralisch verwerflich gehandelt, und wie er meinen konnte, man dürfe den Kommunismus nicht moralisch verurteilen.

    Das zweite Beispiel stammt aus dem Jahr 1980, wo ein Sekretär des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands dem „Genossen Pol Pot ein Grußtelegramm schickte und sich mit ihm solidarisch erklärte (E. Wickert, 3.3.2001, an J. Fischer). Ein eindeutiger, skandalöser Fall eines Verrats eines Intellektuellen. Dieser Mann wurde später in den Planungsstab des Auswärtigen Amtes übernommen, wogegen Erwin Wickert scharf protestierte und mit Recht feststellte, daß das Bekenntnis zu Pol Pot keineswegs als politischer Irrtum zu betrachten sei. Darauf erwiderte Fischer, bei dem Mann liege eine „glaubhafte Wandlung zum Demokraten vor: „Ich bin sicher, daß das Recht, politische Auffassungen zu ändern, gerade auch in Ihrer Generation vielfach in Anspruch genommen wurde" (13.3.2001 an E. Wickert).

    Was ist falsch an Fischers Rechtfertigung? Er spielt auf die Diplomaten aus dem Dritten Reich an, die später in gleicher Funktion als neubekehrte Demokraten in der Bundesrepublik tätig waren. Gerade die Erfahrung des Hitler-Regimes hätte aber die Nachgeborenen lehren sollen, daß man sich niemals mit Massenmördern wie Pol Pot solidarisch erklären dürfe. Ein wichtiger Impuls der Studentenbewegung war doch auch der Vorwurf an die Eltern-Generation, daß sie die NS-Vergangenheit nicht recht aufgearbeitet habe. Weniger bedeutsam ist der pragmatische Grund, daß man nach dem Krieg auf die früheren Berufsdiplomaten angewiesen war, während 2001 keine Notwendigkeit bestand, einen ehemaligen Stalinisten, der mit dem Verursacher eines Genozids sympathisiert hatte, in das Außenministerium aufzunehmen.

    Einen Verrat von Intellektuellen müßte man auch die Medienkampagne gegen Christian Wulff 2011/12 nennen – vorausgesetzt allerdings, daß es überhaupt statthaft wäre, Redakteure der Boulevardpresse, ihre Kollaborateure und Nachsprecher in den anderen Medien als Intellektuelle zu bezeichnen, sind doch mit diesem Ehrentitel gewiß nicht Weisungsempfänger von Pressekonzernen gemeint, sondern unabhängige Köpfe, Menschen mit Bildung, die dem Ideal der Wahrheit verpflichtet sind. Aber sei‘s drum.

    Wenn Wulff letztlich als Bundespräsident auch durch seine politischen Konkurrenten in Hannover zu Fall kam, die gegen ihn ein Ermittlungsverfahren einleiteten, so war dieses Verfahren doch nur aufgrund der Medienkampagne möglich geworden. Sein einziger Fehler bestand darin, daß er persönliche Beziehungen zur Boulevardpresse unterhalten hat, gewiß ein grober Fehler, aber nicht justiziabel. Von allen Vorwürfen wurde er vom Gericht freigesprochen, aber keiner seiner journalistischen Gegner brachte es über sich, Selbstkritik zu üben. Vielmehr wurde das Skandalblatt mit einem Pressepreis ausgezeichnet, und nach einem Wortführer der Medienkampagne hat man später einen Literaturpreis benannt – kein Ruhmesblatt der deutschen Pressegeschichte.

    Das Ganze war aber gewiß ein Lehrstück der Streitkultur hierzulande, wenn dieser hochtrabende Titel hier überhaupt angebracht ist. Die Affäre der Skandalpresse bestätigte aufs entschiedenste die Ansicht, daß man Intellektuelle nur Menschen mit Bildung nennen kann. Bildung ist aber nicht nur eine Frage umfangreichen Wissens, sondern ebenso eine Frage des Taktes. Dies meint Goethe, wenn er sagt: „Gebildete Menschen bringen ihr Leben ohne Geräusch zu", und diesen Aspekt hat George Steiner in seinem Buch Von realer Gegenwart (1989), die authentische Literatur gegen die Sekundärliteratur verteidigend, genauer beschrieben.

    Vor allem aber wurde in jener Affäre evident, daß jeder, der vor der Wahl steht, ob er sich auf eine öffentliche Auseinandersetzung einlassen soll, die damit gegebenen Risiken erwägen sollte. Er sollte die Warnung Martin Luthers beachten, der wahrlich in solchen Dingen erfahren war: „Wer mit einem Scheißdreck rammelt, er gewinne oder verliere, er gehet beschissen davon."

    Aber, Jahre später stellten Kommunikationswissenschaftler fest, daß während und wegen jener grundlosen Zeitungskampagne das Schlagwort von der „Lügenpresse" aufgekommen ist. Außerdem soll das Boulevardblatt in den folgenden Jahren über eine Million Leser verloren haben – vor allem natürlich wegen der Konkurrenz des Internets, aber zweifellos doch auch wegen der damaligen Kampagne, von der kein einziger Vorwurf gerichtlich bestätigt wurde.

    Elite

    Wickert spricht gelegentlich im Ton eines sachlichen Berichts von der intellektuellen Elite Englands. Der Sprachgebrauch wirft die prinzipielle Frage auf, ob es in der Gesellschaft eine Rangordnung geben kann, die moralisch gerechtfertigt ist. Nach dem ethischen Ideal des Intellektuellen, dem Ideal der Gerechtigkeit, der moralischen Gleichwertigkeit aller Menschen, scheint dies nicht begründet zu sein. Benda lehnt eine gesellschaftliche Ungleichheit aufgrund der Geburt oder des Vermögens ab, räumt aber ein, daß es eine Elite geben könne, wobei er wohl an Menschen mit hoher Begabung und außergewöhnlichen Leistungen denkt (Benda S. 22).

    Dagegen erklärt Karl Popper: „Ich bin ein Gegner aller Eliten und des Mythos von der Elite, und verwirft die „Theorie von der Existenz einer intellektuellen und philosophischen Elite, indem er am Beispiel von Platon, Hume, Spinoza, Kant nachweist, daß sie falsche Theorien, erschreckende Lehren verbreitet haben (Popper 1995, 168; 194f.). Gegen die politische Elite wendet er ein, daß sie „praktisch von der Clique nie unterschieden werden" könne (l.c. 252). Sein Argument, das er gegen die Idee der Autorität in der Wissenschaft vorbringt, besagt, wenn alles wissenschaftliche Wissen Vermutungswissen ist, kann es keine wissenschaftlichen Autoritäten geben, die über ein gesichertes Wissen verfügen. Außerdem gilt: „Unser objektives Vermutungswissen geht immer weiter über das hinaus, was ein Mensch meistern kann. Es gibt daher keine Autoritäten. Das gilt auch innerhalb von Spezialfächern. (l.c. 227) Der Grundsatz seiner humanen Ethik lautet: „Kein Mensch ist wichtiger als irgendein anderer (Popper 1992, Bd. 2,317).

    In seiner verwundenen Art kritisiert Adorno die Vorstellung, daß man die öffentliche Meinung mit der Meinung der gesellschaftlichen Elite gleichsetzen könne, einer Gruppe, die sich selbst als Elite versteht. Denn in einer derartigen Gruppe sei das wirkliche Sachverständnis „unauflöslich verstrickt in Partikularinteressen, die jene Elite wahrnimmt, als ab es die allgemeinen wären. Der entscheidende Einwand gegen das Selbstverständnis einer Gruppe als Elite lautet aber, daß sie einen unbegründeten Herrschaftsanspruch erhebt: „Im Augenblick, in dem eine Elite als solche sich weiß und erklärt, macht sie sich schon zum Gegenteil dessen, was sie zu sein beansprucht, und leitet aus Umständen, die ihr vielleicht manches an rationaler Einsicht gestatten, irrationale Herrschaft ab. Elite mag man in Gottes Namen sein; niemals darf man als solche sich fühlen. (Adorno 1964, 164f.). Wie man unschwer erkennen kann, ist Adornos Kritik der Idee der Elite, wie übrigens auch das Verdikt Poppers, gegen die platonische Lehre gerichtet, daß mit dem Besitz von Wissen der Anspruch, herrschen zu sollen, verbunden ist. Übrigens betont er hier auch, daß es die wesentliche Aufgabe der öffentlichen Meinung sei, die Massenkommunikation zu kritisieren.

    Es geht hier vor allem um den Status und das Selbstverständnis deutscher Intellektueller. Ihnen stellt Erwin Wickert die Intellektuellen des traditionellen China als Vorbild entgegen: „Die Intellektuellen machen sich Sorge um das Wohl des Ganzen, nicht nur um ihre Klasse. Der Staat ist ihnen nicht etwas Fremdes zu dem sie Distanz halten oder gar grundsätzlich in Opposition stehen wie viele unserer deutschen Schriftsteller, sondern eine Aufgabe, für die sie sich kompetent fühlen" (Wickert 1982, 476). Er ist voll des Lobes für die chinesischen Gelehrten und Gebildeten, die als Beamte zweitausend Jahre lang das Land vorbildlich verwaltet und, wenn nötig, die Politik und das Verhalten des Kaisers scharf gerügt haben. Er vergißt hier aber zu sagen, was er an anderer Stelle erwähnt, daß die Chinesen eine andere Art von Nationalbewußtsein

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